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Auftakt des „Buch für die Stadt“„Wir alle werden täglich mit Gewalt konfrontiert“

5 min
Claudia Schumacher (r.) mit Moderatorin Anne Burgmer im Schauspielhaus.

Claudia Schumacher (r.) mit Moderatorin Anne Burgmer im Schauspielhaus.

Im Schauspielhaus sprach Claudia Schumacher über ihren Roman und die zerstörerische Kraft der Gewalt. 

 Um es gleich vorweg festzuhalten: Diese Premiere war gelungen. Zum ersten Mal fand die Eröffnungsveranstaltung für die Aktion „Ein Buch für die Stadt“, eine Kooperation des Kölner Stadt-Anzeiger mit dem Literaturhaus Köln, an einem Samstagabend statt. Und das, obwohl seit 2003, dem Beginn der Lese- und Literaturinitiative, die Sonntagsmatinee im Kölner Schauspielhaus gesetzt war. Dennoch war das Depot im Schauspielhaus nahezu ausgebucht, was Moderatorin und Kulturchefin Anne Burgmer, die kundig und souverän durch den Abend führte, sichtlich erfreute, aber nicht weiter überraschte. Schließlich hatte die Jury auch in diesem Jahr „ein fantastisches Buch“ ausgesucht: „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher.

Es ist ein fesselnder, eindringlich erzählter Roman über häusliche Gewalt und deren Auswirkungen auf die vier Kinder eines narzisstischen Vaters und einer toxischen, manipulativen Mutter. Kurt Ehre, ein angesehener Rechtsanwalt in einer fiktiven schwäbischen Kleinstadt, schlägt seine Familie regelmäßig grün und blau, bis ihm einer seiner heranwachsenden Söhne Paroli bietet. Die Mutter wiederum verleugnet gegenüber den Kindern die Gewaltattacken des Vaters, indem sie sich selber zum alleinigen Opfer stilisiert – und sie wird damit zu dessen Komplizin.

Sieben Jahre dauerte die Arbeit an dem Roman

Schwerer Stoff also, der auf frappierende Weise zeige, was Literatur zu leisten vermöge, sagte Bettina Fischer, die Leiterin des Literaturhaus Köln, zur Entscheidung der Jury. Anders als ein journalistischer Text ermögliche der literarische Zugang eine besondere „Tiefenbohrung“. Diese eröffne der Autorin die Möglichkeit, Gefühle unmittelbar zu vermitteln.

Auch Christian Hümmeler, Mitglied der Chefredaktion des Kölner Stadt-Anzeiger, zeigte sich beeindruckt von dem Thema. Er betonte die Wichtigkeit der vom Schauspielhaus und dem Unternehmen JTI geförderten Gemeinschaftsaktion. Der Zeitung liege es am Herzen, die Literatur in Köln zu fördern, sagte er.

Sieben Jahre habe sie an ihrem ersten Roman gearbeitet, erzählt Claudia Schumacher. Und dann ausgerechnet dieses Thema? Gewalt in der Familie? Gewalt sei ein Teil des Menschseins, erklärt die Autorin die Wahl des beileibe nicht einfachen Sujets. „Wir alle werden täglich mit Gewalt konfrontiert. In den Zeitungen, im Fernsehen. In unserem Alltag.“ Gerade in diesen Zeiten – während der Pandemie, „als die Welt stillstand“, angesichts des Ukraine-Krieges – sehe man, wie schnell der zivilisatorische Firnis reißen könne. „Dennoch wollen wir das Thema am liebsten von uns wegschieben und neigen dazu, es zu tabuisieren.“

Ebenso sei es ein Trugschluss zu glauben, dass häusliche Gewalt das Problem einer bestimmten Schicht oder eines bestimmten Kulturkreises sei. Denn die Realität stelle sich anders dar. „Man findet diese Gewalt in allen Schichten, ob Arbeiter- oder Professorenfamilie.“ Daher halte sie es für wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen und zu schildern, was frühe Gewalterfahrungen mit einem Menschen machen könne.

Die erste Fassung des Romans misslang

Claudia Schumacher, 1986 in Tübingen geboren, ist gelernte Journalistin. Mit dem vertrauten Instrumentarium näherte sie sich dem Thema Gewalt. Im Rahmen ihrer Recherche besuchte sie Frauenhäuser und psychologische Praxen. Sie sprach mit Betroffenen und las sich durch Fachbücher und Gerichtsakten. Einfach sei das nicht gewesen, sagt sie. „Viele Opfer schämen sich und geben sich eine Mitschuld an dem, was passiert ist.“ Vor allem Frauen aus der Mittel- und Oberschicht seien nur unter bestimmten Bedingungen zu einem Interview bereit gewesen. „Je höher die Schicht, desto größer ist das Bedürfnis, die Privatsphäre zu schützen.“

Trotz der intensiven Recherche misslang die erste Fassung des Romans. Irgendwann habe sie den Ursprungstext, immerhin rund 150 Seiten stark, entnervt „in die Tonne gekloppt“ und das Projekt ein Jahr ruhen lassen, erzählt Claudia Schumacher „Ich hatte ein Buch geschrieben, das ich selber nicht lesen wollte. Es fehlte der zündende Moment. Offenbar hatte ich das Thema beim ersten Anlauf nicht begriffen.“

Eine Fahrradtour durch Hamburg habe schließlich den Durchbruch gebracht. Plötzlich sei sie da gewesen, die lange gesuchte Erzählstimme – und mit ihr Juli Ehre aus dem fiktiven Ederfingen bei Stuttgart. Eine hochintelligente, coole 17-Jährige, die ihre seelischen Verletzungen hinter viel Galgenhumor und einer aufgesetzten Ihr-könnt-mich-mal-Haltung verbirgt. Danach habe sie die ersten zehn Seiten geschrieben und sie für gut befunden, erinnert sich Claudia Schumacher. Auf diesen stehen Sätze wie: „Papa hat die Zimmerschlüssel im Haus kassiert. Weshalb ich immer damit rechne, dass er nachts wieder vor meinem Bett aufkreuzt wegen irgendso ‘nem Scheiß. Ich habe vergessen, die Spülmaschine auszuräumen, oder mein Fahrrad draußen stehen gelassen.“

Oder: „Wie oft lag ich wach mit der Frage, ob Mama morgens mit einem Rollkragenpullover raus kann oder ob er noch mal so dumm ist, ihr eine Platzwunde im Gesicht zu verpassen. Das eine Mal musste Mama mehrere Wochen krank machen, damit den Riesenhaufen Scheiße bei uns daheim niemand riecht.“ In drei Etappen, von 2007 bis 2016, begleitet Claudia Schumacher ihre Protagonistin durch ein von Gewalt bestimmtes Leben, bis Juli den Mut findet, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und über ihre Erfahrungen mit dem prügelnden Vater zu sprechen.

Es gebe noch viel zu sagen über das diesjährige Buch für die Stadt, sagte Anne Burgmer zum Ende der mehr als eineinhalb spannenden und informativen Stunden. Bereits an diesem Montag besteht dazu Gelegenheit. Dann tritt Claudia Schumacher um 19 Uhr im Interim der Kölner Zentralbibliothek auf, um mit Gisa Funck über ihren Roman zu sprechen.