J.M.W. Turners „Rheinfall bei Schaffhausen“ aus den Jahren 1805/6
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Köln – Man könnte es als Liebeserklärung auffassen – vor der freilich selbst angesichts drastisch verbesserter Wasserqualität die allermeisten zurückschrecken dürften: „An dieser Stelle meiner Grübelei nehme ich beim Schwimmen einen Schluck in den Mund und spucke ihn schnell wieder aus. Ein kurzer Moment reicht, um mir seinen Geschmack einzuprägen: Hier bei Walluf schmeckt es etwas säuerlich wie Gerbstoffe im Leder, etwas chemisch. Das Aroma von im Wollhandschuh geschmolzenem Schneeball – so war es an den Quellen – hat sich schon lange verloren.“
Nein, Hans Jürgen Balmes befindet sich nicht auf einer Weinprobe, sondern im – Rhein, dem er – gebürtiger Koblenzer des Jahrgangs 1958, Übersetzer, Lektor, Reiseschriftsteller – auf der Linie besagter Liebeserklärung, ein dickes Buch gewidmet hat. „Biographie eines Flusses“ lautet der Untertitel, bei dem man spontan stutzen mag. Kann ein Fluss eine Biografie haben – schließlich ist er als Naturphänomen sich selbst immer gleich?
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Das stimmt freilich ganz und gar nicht – erdgeschichtlich nicht, aber auch nicht, wenn man sich anschaut, was der Mensch in seiner eigenen Geschichte dem Fluss angetan hat. So ist der besorgt-traurige Öko-Ton ein Ostinato des Werkes. Der Autor unternimmt indes nicht nur eine Zeit-, sondern auch eine Raumreise: Er startet tatsächlich an den Quellen, und dann geht’s flussab – mit dem Auto, dem Fahrrad, dem Schiff – und mit dem Kajak, der sich in den gefährlichen Strömungen unterhalb des Loreleyfelsens um sich selbst dreht.
Da erfährt der Mythos von der todbringenden Jungfrau eine drastische empirische Beglaubigung. Solchermaßen aber sind die Sachinformationen (denen sich ein paar Fehler zugesellen) immer eingebettet in einen ansprechenden Erzählfluss, der auch gelegentliche Poesie-Zuläufe problemlos absorbiert.
10 Mal Wissenswertes über den Rhein
1. Vor zwei Millionen Jahren floss der Urrhein vom heutigen Baden-Baden nach Worms, von dort über Alzey nach Bingen. Durch weitere Absenkungen des Grabens bis zum Kaiserstuhl und schließlich bis zum Voralpenland verlängerte sich sein Lauf. Aber erst nach der letzten Eiszeit vor 8000 Jahren fand er in das Bett, das wir heute kennen.
2. Vor rund fünf Millionen gab es bereits den heutigen Alpenrhein, aber in der Höhe von Bregenz existierte noch kein Bodensee – der Alpenrhein bog damals nicht nach Westen ab, sondern floss nach Norden weiter – zur Donau hin, um dann mit ihr nach Osten zu strömen. Auch die Ur-Donau hatte einen anderen Lauf als die heutige: Sie entsprang nicht im Schwarzwald, sondern entwässerte den Alpenbereich, der später Rhone und Aare speisen sollte.
3. Vor 10 000 Jahren waren England, Skandinavien und Kontinentaleuropa durch das „Doggerland“ verbunden. Es wurde in der Mittelsteinzeit von Jägern und Sammlern besiedelt. Erst eine Gletscherschmelze ließ den Meeresspiegel ansteigen und die Nordsee entstehen. Zu Zeiten von Doggerland mündete die Themse in den Rhein, und zusammen mit der Seine bildeten sie den „Channel River“, der der mächtigste Strom Europas gewesen sein muss.
In der Eifel brechen Vulkane aus
4. Am Mittelrhein „irritierte“ immer wieder der Eifel-Vulkanismus – ein Ausbruch 11 000 vor Christus führte zur Bildung des Laacher Sees – den Rhein-Verlauf. Bims-Regen und Glutlawinen ließen Mauern entstehen, hinter denen sich der Rhein aufstaute. Der „Brohler See“ zum Beispiel überschwemmte nicht nur das Neuwieder Becken, sondern erstreckte sich über 140 Kilometer in den Oberrheingraben hinein.
5. Bis zum 19. Jahrhundert mäanderte der Fluss im Oberrheintal durch eine vielfältige Auen- und Sumpflandschaft. Verheerende Überschwemmungen, die die "Anrheiner" um ihre Existenz brachten, waren die Folge. Erst 1817 wurde die „Rektifikation“ des Rheins in Angriff genommen. Sie dauerte 60 Jahre lang und war das größte Bauprojekt, das es je in Deutschland gab.
6. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die industrielle Verschmutzung dramatische Ausmaße an. Ein Übeltäter war die Ludwigshafener Anilinfabrik, die heutige BASF. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts gab es unterhalb von Abwassereinleitungen kilometerlange Zonen, in denen Tierleben nicht mehr nachgewiesen werden konnte.
7. Heute ist der Rhein so sauber wie seit 150 Jahren nicht mehr. Dennoch haben die Erhöhung der Fließgeschwindigkeit, die Eintiefung der Flusssohle und das Trockenfallen der Uferlandschaften ökologische Schäden bewirkt, und nach wie vor sind Tierarten vom Aussterben bedroht. Der Schlick des Rheinbodens schließlich hat sich mit Schadstoffen angereichert, die auch nicht ausgeschwemmt werden.
8. Im Quellgebiet des Hinterrheins lassen sich die dramatischen Folgen des Klimawandels beobachten: Zürcher Glaziologen zufolge hat der Paradiesgletscher in den vergangenen 150 Jahren drei Kilometer Länge eingebüßt – ebenso viel oder noch mehr als seine gesamte heutige Länge. Wo 1978 noch 50 Meter hoch Eis lag, weideten anno 2020 Schafe.
9. Die Entdeckung des Mittelrheintals, seiner steilen Ufer, Durchbrüche, Burgen wird zumeist der deutschen Romantik zugeschrieben. Dabei waren es zwei Briten – Byron und Turner –, die nach den Napoleonischen Kriegen die Initialzündung bewirkten. Turner hatte sogar schon 1802 den Rheinfall bei Schaffhausen besucht. Den romantischen Mittelrhein malte er dann mit nahezu enzyklopädischem Vollständigkeitsdrang.
10. Der Kölner Fotograf August Sander durfte in den 30er Jahren nicht mehr an seinem Projekt der tausend Porträts von Menschen aller deutschen Stände, Berufe und Lebensverhältnisse arbeiten – es passte den Nazis nicht. Er verlegte sich auf Landschaftsaufnahmen und fotografierte auch, etwa an der Erpeler Ley, den Rhein. Eindrucksvoll visualisiert das Foto die Urgewalt des Strömens über alles hinweg – auch über Hakenkreuze.
Hans Jürgen Balmes: „Der Rhein. Biographie eines Flusses“, S. Fischer, 544 Seiten, 28 Euro