Dunkle Geschichte„Köln war eines der frühesten und brutalsten Nazizentren”

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Annette Wieners in der Severinstraße, dem Schauplatz ihres Romans

Annette Wieners in der Severinstraße, dem Schauplatz ihres Romans

  • Die Autorin Annette Wieners hat dem Kölner Alltag in der NS-Zeit nachgespürt und in dem Roman „Das Mädchen aus der Severinstraße” aufgeschrieben..
  • Ein Gespräch über die dunklen Seiten Kölns in der Nazizeit, die Lücken der Erinnerung insbesondere im rechtsrheinischen Teil der Stadt und den Wandel auf der Severinstraße.

Köln – Frau Wieners, Ihrem Roman „Das Mädchen aus der Severinstraße“ liegt ein gutes Stück eigener Familiengeschichte zugrunde.

Ja, das Buch ist auf zwei Zeitebenen geschrieben, und in beide Ebenen spielt die Familiengeschichte hinein. Die eine Hauptfigur, Maria Reimer, lehnt sich an meine Großmutter an. Sie kam aus der Kölner Südstadt, war eine Tochter „aus besserem Hause“ und durfte nicht arbeiten, was sie unheimlich geärgert hat. Sie hatte ein Faible für Mode und Eleganz und hat sich in jungen Jahren heimlich in Düsseldorf als Fotomodell beworben. Tatsächlich stand sie für kurze Zeit vor der Kamera, bis ihr Vater dahinterkam und die Verantwortlichen im Fotoatelier zusammenstauchte. Danach durfte sie nichts mehr tun, nur noch zuhause Staub wischen und warten, dass der richtige Mann auftauchte.

Der kam auch.

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Sie sah jeden Tag aus dem Fenster ins gegenüberliegende Bürohaus. Dort saß jemand, der sie interessierte, mein Großvater. Sie sind zusammen nach Hamburg durchgebrannt und haben die Familie erpresst: Wir kommen erst zurück, wenn wir heiraten dürfen. Diese Geschichte habe ich von meiner Großmutter so oft gehört – das ist einfach ein guter Romanstoff.

Es kam aber Weiteres hinzu.

Das nächste Ereignis spielte Jahrzehnte später im rechtsrheinischen Forsbach. Dort besaßen meine Großeltern ein Haus. Als wir es nach dem Tod meines Großvaters ausräumten, habe ich Tausendmarkscheine unter dem Teppich gefunden und Gold im Dachgebälk. Ein weiterer erzählerischer Grundpfeiler des Romans.

Sie lösen sich allerdings von der Familiengeschichte.

Richtig. Ich habe die Fotomodell-Ambitionen in das Jahr 1937 verlagert, und plötzlich gab es viel zu recherchieren. Was war in Köln damals los? Und wie ging es nach dem Krieg weiter? Es ergaben sich Verbindungen, von denen ich zuvor nichts geahnt hatte. Zum Beispiel hatte mein Großvater in einer Firma gearbeitet, die seit Ende der 1940er Jahre Spielzeugautos herstellte. Diese Firma war mit einem anderen Kölner Unternehmen verflochten, das Zwangsarbeiter beschäftigt hatte und eine klare NS-Vergangenheit besaß. Ich nahm Kontakt zum EL-DE-Haus auf und tauchte immer tiefer in die Recherche ein.

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Sie haben sich dem Thema auf mehreren Ebenen genähert, als Journalistin ebenso wie als Schriftstellerin?

Ich würde sagen, dass ich mich in vielen Variationen immer wieder um dasselbe Thema gedreht habe. Als Schriftstellerin, weil es für die Dramaturgie wichtig war sich vorzustellen, wie die Südstadt zur NS-Zeit aussah. Das andere galt der Familienforschung: Wer war eigentlich mein Großvater? Hinzu kam ein journalistisches und historisches Interesse an immer mehr Dingen, die im Roman gar nicht unterzubringen waren. Zum Beispiel habe ich mich intensiv mit der Person von Josef Grohé befasst, dem Kölner Gauleiter. Er taucht im Buch nur kurz auf, aber ich habe versucht, eine Verbindungslinie zur Firma meines Großvaters zu ziehen. Am Ende ging es wohl nicht anders: Ich musste zusätzlich zum Buch noch einen Podcast ins Leben rufen.

Dort kommt also unter, was Sie im Buch nicht mehr berücksichtigen konnten?

Das Buch findet sich dort natürlich wieder, aber ich ergänze den Text um einiges Recherchematerial. Manchmal lasse ich Romanausschnitte wie in einem Hörspiel lebendig werden, ergänzt durch historische Sounds. Dann wieder bleibe ich in der Realität und befasse mich mit dem Alltagsleben in Köln in den 1930er Jahren. Der Einmarsch der Wehrmacht, der Wandel der Severinstraße, wie begeistert waren die Kölner von Hitler?

Hat sich Ihr Bild von der Stadt gewandelt? Die Kölner trugen ja gerne den Mythos vor sich her, dass am Rhein alles halb so wild war mit dem Nationalsozialismus.

Ich wusste vorher viel zu wenig über unsere Stadt, wie ich sagen muss, und das Bild war verbreitet, dass man am Rhein nicht alles so ernst nehmen sollte. Aber das stimmt natürlich nicht, auch wenn man berücksichtigt, was im Rechtsrheinischen geschehen ist. Da lief die Rüstungsmaschinerie, da wohnten die Industriellen in ihren Villen – und da haben sich einige Nazis nach dem Krieg wieder angesiedelt.

Köln war eines der frühesten und brutalsten Nazizentren, heißt es in Ihrem Roman. Die Firma, mit der auch die Firma Ihres Großvaters zu tun hatte, war Rüstungsproduzent und NS-Vorzeigebetrieb.

1938 hat sie das „Gaudiplom“ bekommen für herausragende nationalsozialistische Leistungen. Von 1933 an, kaum dass die Industrie- und Handelskammer in Köln nach rechts schwenkte, war man obenauf. Was mich aber besonders erschreckt hat, war die Zeit nach dem Krieg, der Trick, mit dem man sich praktisch reingewaschen hat. Man hat Spielzeugautos hergestellt, mit denselben Maschinen wie zuvor. Als mir das klar wurde, empfand ich es als zynisch.

Glauben Sie, dass die Stadt genug tut, um an die Vergangenheit zu erinnern – es gibt das erwähnte NS-Dokumentationszentrum …

Da könnte mehr passieren. Gerade auch im Rechtsrheinischen, wo ich wohne. Es bedrückt mich, wenn ich durch Mülheim gehe, die alten Villen von Felten & Guilleaume sehe und daran denke, was in dieser Gegend geschehen ist. Und könnten nicht in Deutz mehr Erinnerungstafeln stehen? Immerhin starteten hier die Deportationen nach Osten, es gab die Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Für mich ist das im alltäglichen Stadtbild nicht präsent.

Ein Motiv Ihres Buches ist das Verdrängen der Vergangenheit. Gilt das noch immer? Schließlich wird der Nationalsozialismus seit den 70er Jahren intensiv in den Schulen durchgenommen?

Das stimmt, aber gleichzeitig bleibt er abstrakt. Man kann sich wohl zurücklehnen und dabei die richtige Haltung einnehmen, aber was bedeutet das für uns – und die gegenwärtige Situation? Ich hoffe, dass die Menschen in meinem Alter sich nicht zufrieden geben. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre schauen zunehmend zurück und wollen verstehen, woher sie kommen, oder welche Themen ihre Eltern und Großeltern in die Familie gebracht haben. Wenn mehr Geschichtsschreibung vor und hinter der eigenen Haustür betrieben würde, das wäre schön.

Zum Buch

„Das Mädchen aus der Severinstraße“, Roman von Annette Wieners, Blanvalet, 480 Seiten, 20 Euro. Die Autorin betreibt auch einen Podcast unter www.annette-wieners.de 

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