Ein richtig böses Rätsel für die Augen

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Avery Singer vor ihrem Breitwandgemälde im Treppenhaus des Kölner Museum Ludwig

Avery Singer vor ihrem Breitwandgemälde im Treppenhaus des Kölner Museum Ludwig

Der Mensch ist ein Rätseltier, das seine Welt mit aller Macht verstehen will, sich aber gleichzeitig darüber freut, wenn es ihm die Welt dabei nicht allzu leicht macht. Für diese Einsicht muss man nicht unbedingt über bösen Sudokus schwitzen, man kann ebenso gut ins Museum gehen. Auch die Kunst stellt uns gerne vor scheinbar unlösbare Aufgaben, indem sie uns an unserer gesunden Wahrnehmung verzweifeln lässt. Optische Täuschungen sind schließlich ihr tägliches Geschäft, und solange das Mängelwesen Mensch seine Mängel in spielerischer Form als quälende Lust empfindet, ist ihr der Beifall des gefoppten Publikums gewiss.

Auch die 32-jährige US-Amerikanerin Avery Singer spielt auf ihrem für das Kölner Museum Ludwig entstandenen Panoramabild mit der Trägheit unserer Augen. Auf 17 mal 3,66 Meter zeigt sie Szenen in semiabstrakter Badezimmerkachel-Optik, auf denen sich sechs kaum entzifferbare Figuren vom ähnlich gestrickten Gitter des Hintergrunds abheben. Zwei Formen geben sich relativ einfach als menschliche Körper zu erkennen, was einen aber nur umso fuchsiger auf die anderen Gestalten starren lässt. Vielleicht sollte das Museum einen Preis ausloben: Wer alle Motive erkennen kann, ohne mit kunsthistorischen Vorkenntnissen zu mogeln, bekommt freien Eintritt für ein Jahr. Denn auch bei Singer gilt: Wenn man weiß, was zu sehen ist, sieht man es ganz klar.

Man kann sich beim Rätseln ruhig Zeit lassen. Singers virtuoses Suchbild hängt für zwei Jahre an der Stirnseite des Treppenhauses im Museum Ludwig und löst dort ein Werk ihres Landsmanns Wade Guyton ab. Es ist der zweite Beitrag zum „Schultze Project“, mit dem das Ludwig die Vorliebe des verstorbenen Kölner Malers Bernard Schultze für große Bildformate würdigen will. Singer war dafür eine natürliche Kandidatin für das Projekt, ans Kölner Breitwandformat hat sie sich gleichwohl zum ersten Mal gewagt.

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Die New Yorker Künstlerin entwirft mit einem Software-Programm Figuren und Muster am Computer, die sie anschließend auf Leinwände projiziert und per Airbrush auf dieselben sprüht. Bekannt wurde sie mit Bildern von eckigen und kantigen Menschen in ebensolchen Räumen, die als Parodien auf die Kunstwelt gemeint waren und diese durchweg in Grauschattierungen zeigen. Man könnte sich von ihren Bildern an die Steinzeit der Computergrafik erinnert fühlen, wären Singers Motive nicht auch beinahe klassische Studien zur Wirkung räumlicher Illusionen.

Trotz ihrer digitalen Hilfsmittel hängt Singer an der Tradition. Sie kombiniert alte Probleme der Malerei (etwa das Verhältnis von Gestalt und Grund) mit der zeitgenössischen Frage, ob nur noch die Kreativität aus der Maschine helfen kann, wenn in der Kunstgeschichte alle Bilder scheinbar schon gemalt wurden. Wenn sie uns dazu verführt, lange hinzuschauen, ist das nicht nur spielerisch gemeint. Vielmehr lässt uns Avery Singer in den Abgrund einer vom Menschen befreiten Malerei sehen.

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