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Eine Reise an die Grenzen des Geschmacks

6 min

Die Kelly Family, darüber informieren zwei LED-Wände in der Lanxess-Arena, feiert diesen Herbst 25 Jahre „Over the Hump“. Dabei handelt es sich um jenes millionenfach verkaufte Album, das Mitte der 1990er die straßenmusizierende Großfamilie des Exilamerikaners Dan Kelly aus den Fußgängerzonen Deutschlands an die Spitze der Charts katapultierte.

Der Patriarch hatte für seine Sippschaft – in dieser Reihenfolge – einen Londoner Doppeldeckerbus, ein Hausboot und Schloss Gymnich, das ehemalige Gästehaus der Bundesregierung, als Wohnstatt erworben. Womit die Erfolgskurve ihren Scheitelpunkt erreicht hatte. Sonst hätte es als nächstes Domizil wohl mindestens die Internationale Raumstation sein müssen.

Doch die lange an der Armutsgrenze darbenden Kellys hatten es damals nicht wirklich über den Hügel geschafft, wie man heute dank zahlloser Klatschspalten-Bekenntnisse der Geschwister weiß. Im Gegenteil, die Fliehkräfte des Ruhms stellten die Familie vor ihre schwersten Prüfungen. Drogen, Depressionen, Glaubenskrisen. Kleine Erhebungen türmten sich plötzlich felshoch auf. Das Plakat zur „Over the Hump“-Tour zeigt die berühmten Cliffs of Moher; wer da über den letzten Grasbuckel springt, landet tief im atlantischen Abgrund.

Joey Kelly, der sportliche Barbabum unter den Geschwistern, gibt in der Lanxess-Arena den Gitarrenhelden.

Ob das so gemeint ist? Jedenfalls hat sich der nun wieder gemeinsam auftretende Rest der Familie — Paddy Kelly fehlt und auch Maite, die als Schlagerstar die Arena alleine füllen kann — vorgenommen, zum Jubiläum das Album zur Gänze und in der originalen Tracklist aufzuführen. So wie das verdiente Künstler seit Jahrzehnten zu tun pflegen. Nun ist „Over the Hump“ weder „Pet Sounds“ noch „The Joshua Tree“. Immerhin aber eröffnet Joey Kelly den Abend mit donnernden Gitarrenakkorden und blendenden, ins Publikum gerichteten, Verfolgerscheinwerfern, wie weiland U2’s Bono Ende der 1980er Jahre.

Joey ist nach dem Auseinanderbrechen der Familie eher als telegener Extremsportler, denn als Musiker aufgetreten. Im Moment scheint er sich gerade zwischen zwei Trainingsphasen zu befinden. Unterm schwarzen Glitzeranzug (mit gewaltigem Schlag in den Hosenbeinen) moppelt es ein wenig. Wenn er später hochroten Kopfs zur Hardrocknummer „Guardian Angel“ über den Bühnensteg fetzt, ist das von umwerfender, wenn auch unfreiwilliger Komik. Zwischen lodernden Flammen wirkt Joey wie ein Möchtegern-Peter-Maffay, den man unter Beigabe von zu viel Hefe noch einmal aufgebacken hat.

Aber ist das nicht schon wieder viel zu negativ? In den Hochzeiten ihres Erfolgs, als sie eine Betonmauer vor ihr im Mülheimer Hafen vor Anker gegangenes Hausboot hochziehen mussten, weil jugendliche Fans sie Tag und Nacht bedrängten, boten die langhaarigen und kurios gewandeten Kellys das breitestmögliche Ziel für den Spott von Berufszynikern wie Harald Schmidt. In der Rückschau wirken die damals gängigen Witze über mangelnde Körperhygiene, Kleidersäcke und Kinderreichtum wie die Light-Version von Vorurteilen aus dunkleren Zeiten, billig und verächtlich.

Die eigentliche Provokation der Kellys war sowieso ihre Ironie-Resistenz. Gewissermaßen waren sie der Gegenentwurf zum Jahrzehnt der Uneigentlichkeit. Sie waren so, wie sie sind. Man konnte ihnen nichts vorwerfen außer ihrer Existenz. Aber man lässt ja auch nicht inmitten einer Kindergeburtstagsgesellschaft sarkastische Bemerkungen fallen. Macht man einfach nicht.

Auch wenn das zugegebenermaßen schwerfällt. Ein Konzert der Kelly Family ist eine Abenteuerreise an die Grenzen des Geschmacks. Bleibt die Frage, wie weit man sich ins Niemandsland vorwagt? Ich persönlich habe zum Beispiel kein Problem damit, dass Angelo Kelly zur Zugabe verkündet, sich in eine Alien-Frau verliebt zu haben, „draußen auf den Feldern, wo die Bauern Brot anbauen“ (die Kellys haben keine Schule besucht, dies ist so eine Zeile, die einen vermuten lässt, Vater Kelly hätte beim Erdkundeunterricht etwas ausgelassen). Nein, soll er doch. Zumal Angelo der einzige Kelly ist, der wirklich singen kann. Und was singt er? „We will grow a big family.“ Der Kelly-Traum.

Ich habe auch kein Problem damit, dass Jimmy Kelly – der in der Familiensaga die Rolle des verlorenen Sohns einnimmt – sein Lied „Cover the Road“ all jenen Menschen widmet, die in den vergangenen 25 Jahren gestorben sind. Er hatte Fans aufgefordert, Bilder ihrer toten Angehörigen einzuschicken. Die ziehen nun tränentreibend an uns vorbei. Jimmy hat sich eigens mit dem Rücken zum Publikum gedreht, damit klar ist, dass es hier nicht um ihn geht.

Das ist selbstredend grenzwertig manipulativ, allem Anschein nach jedoch völlig ernst gemeint. Eine Ansage wie „Das Leben ist kurz, man weiß nie, wann die Stunde schlägt“ hört man jedenfalls eher selten außerhalb des Totensonntagsgottesdienstes. Bestimmt nicht auf einem Popkonzert, das sich mit Haut und Haaren der Harmoniesucht verschrieben hat.

Die treibt einem dann doch den Zynismus aus den Poren. Ich bin ein Alien unter 14 000 Kellyianern. Was denen wohlige Wärme, ist mir ein Schwitzbad des Wahnsinns. Patricia Kelly etwa mag noch so eindringlich „Öffne dein Herz“ fordern, ich komme einfach nicht über den blauen und mit einem Gürtel taillierten Sack hinweg, in den sie sich gehüllt hat. Wie eine Weltraumkolonistin in einer alten Raumschiff-Enterprise-Folge.

Ich kann auch nicht aufhören, auf das mit Weihnachtsdekoration verzierte Clipboard zu starren, das Johnny Kelly immer dann konsultiert, wenn ihm eine Zeile von „White Christmas“ entfallen ist. Der almöhige Paul Kelly, der die Familienbande vor ihrer „Bravo“-Phase verlassen hatte, und an diesem Tourauftaktsabend dankenswerterweise nur die eine irische Pubnummer singt, hat sich die Gedächtnisstützen übrigens ins Innenfutter seiner Mütze geklebt.

Und ich ringe jedes Mal um Contenance, wenn Kathy Kelly, die älteste Schwester, eingenäht in einen Albtraum aus Seide, die Bühne stürmt und nicht schön, dafür umso lauter spanische Volksweisen jodelt. Sie gibt auf diesem Familienfest die überspannte Tante, die in ihrer Jugend Opernambitionen hegte, und deren Auftritte resignierenden Blickes hingenommen werden.

Allein, jammern hilft nichts. Hier kommt man nicht raus, ohne hinterher zur erweiterten Verwandtschaft zu zählen. Besser also, alle Hoffnung und alle kritischen Blockaden fahren zu lassen, und in einmütiger Einfalt miteinzustimmen: „Baby smile/ baby naughty“. Böses Baby, braves Baby. Die Kelly-Gesänge sind von einlullend folkloristischer Schlichtheit, sie sind das klingende Äquivalent zum Daumen im Mund. Songs, die im Refrain zur „Fiesta“ rufen, enden zuverlässig mit einem „Olé“, Rosen sind rot und Familien leben vereint im Wohlklang. Ich bin ein Alien, möchte ich ihnen zurufen, noch ein verlorener Sohn, liebt mich! We will grow a big family! Aber, ach, ich schaffe es einfach nicht über den Hügel.

DIE REIHE

In unserer Reihe „Was mach’ ich hier eigentlich?“ gehen unsere Kultur-Kritiker dorthin, wo es sie auf Anhieb nicht hinziehen würde, und werfen einen neugierigen Blick auf eine für sie fremde Welt.

WAS MACH’ ICH HIER EIGENTLICH?