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WDR-SinfonieorchesterWeg von den bekannten Männern, hin zu den Frauen

4 min
Dirigentin Elena Schwarz

Die Dirigentin Elena Schwarz arbeitet mit dem WDR-Sinfonieorchster zusammen.

Zwei neue CDs des Kölner WDR-Sinfonieorchesters widmen sich eher unbekannten Komponistinnen: Grazyna Bacewicz und Elsa Barraine.

Klar, der diskografische Output des WDR-Sinfonieorchesters spiegelt auch die dominante Position des jeweiligen Chefdirigenten. Das war in Ära Saraste nicht anders als in den Măcelaru-Jahren. Aber es frappiert doch immer wieder, in welch hohem Maß, dabei mehr oder weniger abseits der Öffentlichkeit, die Formation die Kraft aufbringt, sich teils langfristig-großangelegten Einspielprojekten unter renommierten Gästen zu widmen. Für die Vergangenheit seien etwa die Gesamtaufnahmen des jeweiligen Orchesterrepertoires von Schumann (mit Heinz Holliger am Pult) und Grieg (mit Eivind Aadland).

Von den bekannten Männern hin zu den unbekannten Frauen

In jüngster Zeit scheint sich der Repertoire-Schwerpunkt etwas zu verlagern – von den bekannten Männern hin zu den unbekannten Frauen. 2025 hat das Orchester beim Label cpo (teils als Weltpremieren) eine drei CDs umfassende Einspielung mit sinfonischen Werken der polnischen Komponistin Grazyna Bacewicz (1909-1969) abgeschlossen und eine Auswahl aus dem Œuvre der Französin Elsa Barraine (1910-1999) vorgelegt. Bacewicz, Barraine – wie bitte? Ja, die beiden sind hierzulande wahrscheinlich nicht einmal Kennern geläufig – was aber keineswegs gegen sie spricht, sondern eher schon gegen die etablierten Usancen der Kanonbildung. Zumal mit polnischer Musikkultur und -geschichte unterhalb der Riege der ganz großen Namen ist man in Deutschland halt wenig vertraut, aber das gilt sogar irgendwie auch für Frankreich. Vor allem aber wurde die Breitenwirkung von Bacewicz und Barraine lange Zeit eben durch die schlichte Tatsache blockiert, dass sie Frauen waren.

Um mit Barraine zu beginnen, für die sich die WDRler die schweizerisch-australische Neue-Musik-Expertin Elena Schwarz ans Pult geholt haben. Das Wunderkind aus einer jüdischen Pariser Musikerfamilie und frühe Meisterschülerin von Paul Dukas hatte naheliegend auch aus zeitgeschichtlicher Perspektive eine bemerkenswerte Biografie. Überschattet wurde die auf weite Strecken vom Faschismus und Nationalsozialismus – die deutsche Besetzung Frankreichs überlebte die überzeugte Kommunistin und politische Aktivistin mehr oder weniger im Résistance-nahen Untergrund. Nach dem Krieg wurde sie dann immerhin Professorin am Pariser Conservatoire.

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Elsa Barraine komponierte eine unheimliche musikalische Vorahnung des Holocaust

Bereits 1933 hatte sie, inspiriert von dem Gedicht „Pogromes“ des französischen Schriftstellers André Spire, eine unheimliche musikalische Vorahnung des Holocaust komponiert – sie ist auf der neuen CD ebenfalls enthalten. Aber auch sonst scheint ihre Musik von Katastrophenzeiten, wahrgenommen aus der Perspektive der Opfer, widerzutönen. Es gibt da brutale Marschrhythmen und Marcia funebre-Charaktere – und weitgespannte Trauerkantilenen. Die zweite Sinfonie von 1938 trägt den Untertitel „Voina“ – was auf Russisch „Krieg“ heißt. Im Finale geht es dort übrigens verzweifelt lustig zu – das kann man im Titelkontext nur sarkastisch finden.

Formen- und klangsprachlich zeigt sich die Musik mit ihrer Motorik, ihren kammermusikalischen Instrumentationswundern und ihrer Orientierung an Bauprinzipien des 18. Jahrhunderts dem Neoklassizismus verpflichtet. Die Tonalität wird nicht aufgegeben, ist aber stark dissonant erweitert. Sicher, da scheinen überall gute Bekannte um die Ecke zu schauen: die Mitglieder der französischen Groupe des Six, aber auch Debussy und Prokofjew. Das macht aber nichts, Barraine findet stets ihren individuellen Ton, da ist eine große erfinderische Kraft ohne alle epigonale Schwächen am Werk – deren Wirkung in diesem Fall die ausgezeichnete, Dringlichkeit vermittelnde Performance des Orchesters und der hochenergetische Input der Dirigentin noch steigern.

Grazyna Bacewicz verfolgte einen ähnlichen Stil wie Barraine

Auch für Bacewicz konnte der WDR den denkbar geeignetsten Dirigenten gewinnen – der Pole Lukasz Borowicz kennt sich mit der Musiktradition seines Heimatlandes so gut aus wie kaum ein zweiter. Zwischen Bacewicz und Barraine gibt es übrigens bemerkenswerte Übereinstimmungen – nicht nur in den Lebensdaten (Barewicz starb allerdings viel früher) und der Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch im musikalischen Stil. Bacewicz, von Haus aus Geigerin, tauchte, als Schülerin der legendären Nadia Boulanger, für ein Jahr in jene Pariser Kreise ein, in denen auch Barraine sozialisiert worden war. Und auch sie musste, wenngleich keine Jüdin, die Zeit der brutalen deutschen Okkupation mehr oder weniger im Untergrund überstehen.

Nicht zuletzt ist auch Bacewicz epochengeschichtlich im weitesten Sinn dem Neoklassizismus zuzurechnen – dem sich indes spezifische Landeseinflüsse, etwa die des vier Jahre jüngeren Lutoslawski, hinzugesellten. Und in ihrer Spätphase ging Bacewicz zur Atonalität über (ohne sich allerdings dem seinerzeit international angesagten Serialismus zu verpflichten) – im kommunistischen Polen auch nach der Tauwetterperiode ein heikles Unterfangen. Wie bei Barraine stellen insgesamt vier Sinfonien (die erste in Ersteinspielung) das Rückgrat der WDR-Produktion, hinzu kommen Variationen, eine Partita, ein Concerto und anderes mehr.

Auch in diesem Fall glänzen die WDR-Musiker, angeleitet durch ein hochkonzentriertes Dirigat, durch eine bemerkenswerte Verve, Energie und einen stets aufs Neue begeisternden Sinn für die exquisite Klanglichkeit dieser Musik. Sicher gibt Bacewicz zumal auf der ersten CD – weniger auf der spätromantischen dritten – einige harte Nüsse zu knacken. Diese Nüsse muss man mögen. So oder so warten diese Neuproduktionen mit echten Entdeckungen auf.