Literaturtipps der Kultur-RedaktionSechs Bücher gegen den Lockdown-Blues

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Der neue Roman „60 Kilo Sonnenschein” des isländischen Autors Hallgrimur Helgason ist eine absolute Empfehlung.

Köln – Dieses Jahr ist der November noch trister als sonst. Das Corona-Virus breitet sich rasant aus, Kinos, Theater, Museen, Restaurants und Bars mussten schließen. Vieles, was uns Ablenkung und gute Laune bescherte, bleibt uns verwehrt. Die Kultur-Redaktion hat sechs schöne Literatur-Empfehlungen gegen den Lockdown-Blues für Sie! 

Vielleicht ist ja etwas für Sie dabei!

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“

Das Leben ist zu kurz nur für lange Romane. Deshalb schreiben die Schriftsteller gerne Kurzgeschichten. Hier ist „alles Hochebene“, sagt Ralf Rothmann, keine Zeit zum Entspannen zwischen den Hochflügen und Talfahrten des Romanschreibens. Er muss es wissen. In die Literatur kam er in den 1980er Jahren mit kurzen, prägnanten Geschichten. Seinen Stoff hatte er da längst im Lebensgepäck: Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet, Jobs am Bau, in einer Großküche, im Essener Klinikum. Dieser Fundus an Arbeitswelten hat ihn geprägt und literarisch herausgefordert. Sein neuer Erzählband führt virtuos durch diese Erfahrungsmilieus. Es ist eine Sammlung von Heimsuchungsgeschichten, die uns packen und fragen lassen, wie das eigentlich ist mit der Angst und der Hoffnung, der Schlaflosigkeit und dem Gewissen.

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Zur Person

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule – und einem kurzen Besuch der Handelsschule – machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen – unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch. Er lebt seit 1976 in Berlin. Als Prosaautor debütierte er 1986 mit der Erzählung „Messers Schneide“, der erste Roman „Stier“ erschien 1991.

Der rote Faden, der uns durch das „Hotel der Schlaflosen“ führt, ist eben diese im Titel versteckte und im Motto des Bandes enthüllte Angst: „Fear is a man's best friend.“ Das Motto stammt von John Cale, dem Gründer der Artrock-Band The Velvet Underground. Es gibt den Sound der Storys vor. Ralf Rothmann schreibt eine geschmeidige Prosa, er beherrscht Milieuprotokoll und Szenesprache ebenso gut wie Herrschaftsdiskurse und naturalistische Genrebilder. Kaum ein anderer Autor hat einen Erzähl-Sound, der so viele Tonlagen kennt. Darin ist Platz für Widersprüche: gesellige Isolation, zärtlichen Zynismus, strenge Güte, den „kalten Ernst“ und die „himmelschreiende Eleganz des Todes“.

Von alldem erzählen die Geschichten fesselnd wie mit einem Lasso, etwa in „Geronimo“. Ein Junge, verliebt in Indianergeschichten, geht mit seinem Wildwestromane verschlingenden Vater ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Ein ganz alltäglicher Spaziergang, dann wird die Kohlehalde zur Prärie. Ein verwahrloster Mann taucht auf, bedroht die beiden mit einer Waffe, und mit einem Selbstbewusstsein, das Rothmann „demütig“ nennt, schafft es der Vater, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, aus der brenzligen Situation zu entkommen und für die Polizei sogar die Waffe zu identifizieren. „Geronimo“ ist eine Geschichte, die das „verschüttete Glücksvorkommen“ in den Figuren zutage fördert. Sie konzentriert die Vater-Sohn-Geschichte, die Ralf Rothmann in seinen vier Ruhrgebietsromanen (1991-2004) ausgebreitet und zuletzt in seinen Kriegsendromanen „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) genealogisch vertieft hat, auf eine stille Koexistenz der Generationen. Hier kann, trotz aller Gewalt, die Angst noch einmal kurz gebannt oder gar zum zeitweiligen Freund werden. „Ob das Leben nicht wunderbarer ist, als wir erkennen können, ob es trotz Tod, Schmerz, Elend und dem ganzen Mist womöglich einen Heiligenschein hat“: das wollen die Figuren in Ralf Rothmanns Erzählungen wissen. Wenn das Leben einen Heiligenschein hat, kann Angst zur spiegelverkehrten Hoffnung werden.

Aber Achtung: Rothmanns Figuren sind keine Angstbeherrscher. Eher gebeutelte Anti-Helden, Opfer von Gewalt in sozialen Randmilieus, Leidende am Unbehagen der Geschlechter, Sinnsuchende ohne Plan, metaphysisch ratlos. Eine Frau, traumatisiert durch die Prügel ihrer Eltern, schlägt ihre Katze halbtot und verursacht, als sie als Kellnerin in einem Behindertencafé einmal zurückschlägt, ein blindes Auge. Kommunikative Gewalt beherrscht den Telefonkrieg von zwei Frauen, die es nach 30 Jahren bestens verstehen, Indiskretionen in Sprechakte der Netiquette zu verpacken.

Ralf Rothmann geht in die Tiefe mit seinen Figuren, er führt sie an die Ursprünge ihrer Ängste, begleitet sie mit Anteilnahme, aber ohne Trost, lässt sie Schuld und Scham erfahren. In „Der Dicke Schmitt“, der im Baumilieu spielt, entblößt sich ein spanischer Gastarbeiter und Oberpolier als überangepasster Fremdenhasser – und der Ich-Erzähler wendet sich von dessen Tochter ab, weil sie ein Holzbein hat. Die erste Geschichte beginnt in einer Berliner Kirche. Bei der dortigen Konzertprobe reißt der Violinistin eine Saite, die Ersatzsaiten wurden ihr als Sicherheitsrisiko am Flughafen abgenommen. Sie fährt im Taxi zurück ins Hotel, vorbei an den Orten ihrer Jugend. Ankommen kann sie aber weder da noch woanders. Den wahren Takt gibt ein Arztbesuch kurz vor dem Konzert an. Am Ende steht ein suizidaler Fenstersturz.

In ihrer Laudatio zum Stefan-Andres-Preis an Ralf Rothmann, 2016 in Rom, hat Susanna Schmidt festgestellt: In fast jeder Geschichte von Ralf Rothmann stirbt jemand. Das stimmt auch im „Hotel der Schlaflosen“. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber vorher ist ein Mensch gestorben, eine Erinnerung oder eine alte Freundschaft. Nur die Tiere, die in Rothmanns Erzählbänden immer ein Geheimnis in sich tragen, kommen davon. Etwa ein veritabler Zuchthengst in der Erzählung „Admiral Frost“. Oder die Krähen und die Eulen, die auf dem Buchcover sind und allgegenwärtig in den Geschichten herumflattern. Sie sind in Rothmanns Worten „Hieroglyphen“ für etwas, das wir nicht ganz verstehen können.

Der Tod kann ein Schritt ins Freie sein, Angstbefreiung, aber auch Todesangst. Am krassesten in der Titelgeschichte. Sie spielt im Moskau der stalinistischen Säuberungen Anfang der 1940er Jahre, also vor Rothmanns Zeit, und schert damit aus dem Timecode der anderen zehn Erzählungen aus, die allesamt in der Lebensalterzeit des 1953 geborenen Autors spielen. Das „Hotel der Schlaflosen“ hat einen Sitz im Leben, eigentlich müsste man sagen: einen Sitz im Tod. Dort, wo einst der Dichter Tschechow logierte, waltet nun der Henker Wassili Blochin, der in Moskau heute ein Ehrengrab hat, erbaut auf dem Grab seiner Opfer. Im Auftrag Stalins erschießt er in seinem Folterkeller angebliche „Staatsfeinde“, Trotzkisten, Saboteure, Spione, oft über 250 Menschen in der Nacht, darunter Offiziere, Zivilisten, sogar den eigenen Schwager und die eigenen Helfer.

Perspektive eines Massenmörders

Rothmann gelingt in seiner Erzählung etwas Ungeheuerliches. Zum einen wird aus der Perspektive eines Massenmörders erzählt, der die Kugel für die „reine und letzte Wahrheit“ hält. Zum anderen erhält der Schlächter diabolische Tiefe. Auf ihn wartet, schon schwer gefoltert, der Schriftsteller Isaak Babel. Er gibt ihm zu essen, unterhält sich mit ihm über Literatur, wirft ihm sogar vor, die Realität mit Realismus zu verwechseln. Mit dem Blut von Babels geschundenen Fingern erzwingt er sich ein Autogramm in ein Buch des Schriftstellers, bevor er ihn mit Genickschuss ermordet.

Ein wundervoll heiteres Gegenstück zu dieser grausamen Geschichte ist „Das Sternbild der Idioten“. Sie spielt 1981 an einem Filmset. Gedreht wird in West-Berlin: ein Mauerfilm. Es geht darin um DDR-Flüchtlinge, „Mauerspringer“ wie in Peter Schneiders Novelle, auf deren Verfilmung mit Marius Müller-Westernhagen Rothmann freundlich anspielt. Die schlaflosen Helden in Rothmanns Erzählung sind aber keine Filmsterne, sondern Komparsen, harmlose Figuren, die durch eine „Grenzprovokation“ während einer Drehpause den Film fast zum Kippen bringen. In blauen Vopo-Kostümen und mit zugelöteten Karabinern aus der Requisite haben sie an der realen Mauer posiert. Mit feinen Zügen entwirft Rothmann hier ein Genrebild, das von gründlicher Kenntnis des Milieus zeugt, ohne der Gefahr solcher Geschichten zu erliegen, der Umwelt gleich ein Schicksal anzuhängen.

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“, Suhrkamp Verlag, 200 Seiten, 22 Euro, E-Book: 19 Euro.

Michael Braun 

Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland: „Aufprall“

Nicht nur das sagenhafte Atlantis ist untergegangen, sondern auch das ebenso legendäre West-Berlin der Nachkriegszeit. Beide Orte waren, je auf ihre Weise, fantastisch. Der Unterschied ist allerdings, dass West-Berlins Existenz bezeugt ist – und dass es noch viele Menschen gibt, die aus diesem so besonderen Kosmos erzählen können, diesem aus der Welt gefallenen Ort mit seinen Spießern und Chaoten, seinen Punks und Kommunarden, seinen Drogen-Exzessen und seiner gleichzeitigen Piefig- und Weltläufigkeit, die internationale Stars wie David Bowie ebenso angezogen hat wie junge Westdeutsche, die dem Wehrdienst entgehen wollten. Drei dieser Zeugen jener Epoche haben jetzt einen Roman über die wilden 80er Jahre geschrieben, dieser zehn Jahre bis zum Mauerfall, der das merkwürdige soziale Biotop West-Berlin schlagartig austrocknete: Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland.

Sie alle haben diese aus heutiger Sicht so unwirklich scheinende Zeit erlebt als Teil einer diffus-linken Hausbesetzer-Szene im Stadtteil Kreuzberg, sind literarische Chronisten einer Ausnahmezeit an einem Ausnahmeort. Nichts, so behaupten sie, ist frei erfunden, lediglich die Romanfiguren sind verfremdet. Um es vorweg zu sagen: Ja, es ist diesem Autorenkollektiv gelungen, die drei unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschichte jener Jahre zu einem komplexen Gemälde werden zu lassen. Die Geschichte von Thomas, dem nachdenklichen Philosophiestudenten aus Wuppertal, von Luise, die ihr Lebensgefühl künstlerisch ausdrücken will, und all den anderen, die so um die 20 waren und ohne Netz und doppelten Boden ein Leben außerhalb der bürgerlichen Norm führen wollten.

Da ist die militante Irene, der keine Aktion gegen das „Schweinesystem“ radikal genug ist. Da ist der Kiffer Lenny, der aus der Enge des Zonenrandgebiets in den freien Experimentierraum Berlin geflohen ist. Da John, ein Macho mit einer Schwäche für den blutrünstigen Steinzeit-Kommunisten Pol Pot. Da ist Robert, der als Hilfsdramaturg am Theater jobbt und von Raubdrucken lebt, die er in verräucherten Kneipen verkauft. Sie alle leben in einer wild zusammengewürfelten Hausgemeinschaft, gehen sich selbst in ihrer kompletten Verschiedenartigkeit auf die Nerven, aber es einigt sie die Ablehnung von spießiger Kleinbürgerlichkeit und Staatsgläubigkeit. Beides führt, davon sind sie felsenfest überzeugt, unmittelbar in den Faschismus.

Folgenschwerer Unfall

Das Leben auf diesem sozialen Abenteuerspielplatz bekommt eine erste dramatische Wendung, als bei einer Reise von vier Bewohnern des besetzten Hauses ein Unfall passiert, der einer der jungen Frauen das Leben kostet und den eine andere, Luise, nur schwer verletzt überlebt. Das Leben ist kein Spiel, Jugend heißt nicht Unverwundbarkeit, der Tod, mit dem man vorher gelegentlich kokettiert hat, ist real und allgegenwärtig. Auch das besondere Kreuzberger Milieu jener Zeit ist gestorben und abgewickelt. Die Besetzer von damals waren nur eine zufällige Schicksalsgemeinschaft, der Mauerfall als großer Katalysator differenzierte wieder aus: Die Klugen und Starken brachte er in einflussreiche Positionen, die Schwachen schickte er auf die Bretter.

„Aufprall“ ist, jenseits aller Verklärung der eigenen Jugend und Großartigkeit, ein illustriertes Geschichtsbuch, das Porträt einer Generation, die Grenzen ausgetestet und verschoben hat – nicht nur in West-Berlin, aber ein bisschen West-Berlin war ja fast überall in jener Zeit. Dem Autoren-Trio Bude, Munk und Wieland sei Dank, diesem Lebensgefühl in ihem Roman ein unpathetisches Denkmal gesetzt zu haben.

Heinz Bude, Bettina Munk, Karin Wieland: „Aufprall“, Hanser, 384 Seiten, 24 Euro, E-Book: 18 Euro. 

Michael Hirz

Hallgrímur Helgason: „60 Kilo Sonnenschein“

Zehn Tage Fußmarsch im Schneesturm hat der Bauer Eilifur Gudmundsson auf sich genommen, um in einem weit entfernten Ort drei Kilo Mehl für das Weihnachtsfest zu ergattern. 99 Forellen hat er sich dafür von dem raffzahnigen Kaufmann abknöpfen lassen, abzuliefern im Frühjahr. Nur um bei der Rückkehr mit schneeblinden Augen feststellen zu müssen, dass fast seine gesamte Familie ausgelöscht worden ist unter der Schneelawine, die seinen ärmlichen Hof mühelos verschlungen hat.

Lebensfeindlich ist ein noch zu euphemistisches Wort für die Bedingungen, unter denen die Isländer an der Schwelle zum 20. Jahrhundert leben. Hallgrimur Helgason, einer der berühmtesten Autoren der Insel, erzählt in seinem neuen Roman „Sechzig Kilo Sonnenschhein“ von den Bewohnern einer langsam wachsenden Siedlung am Fjord Segulfjördur. Wer dort lebt, ist bitterarm, wie fast alle Isländer. So etwas wie Auswahl existiert nur bei den Todesarten: Man stirbt, weil man beim Verrichten der Notdurft auf dem Hof von einer Windböe in den Fjord hinausgeweht wird, durch eine Sturmwelle während des Fußmarschs zum nächsten Hof, auf Nussschalen im Meer oder vor Hunger. Die Pfarrer sterben am Suff, den man sich erst einmal leisten können muss. Nur Pfarrer und Kaufleute leben in Holzhäusern, die restlichen Behausungen dieser baumlosen Insel sind in den Boden gegraben, bei denen Grassoden zu Wänden aufgestapelt wurden.

Eilifur bleibt nach der Schneelawine nur die einzige Kuh Helga und sein zweijähriger Sohn Gestur, isländisch für Gast. Und ein Gast wird der Junge zeitlebens sein, nachdem das Haifischfangboot, auf dem sein Vater angeheuert hat, in einem Eissturm zerschellt. Er wächst bei unterschiedlichen Familien auf, wo er mit klugem Blick die Verhältnisse analysiert. Detail- und kenntnisreich schildert Helgason die Geschichte seines Landes und seiner Vorfahren, die in den Wintern 14 Stunden am Tag strickten und im Sommer auf gefährlich kleinen Booten großen Haien die Leber aus dem Körper schnitten, um Lebertran zu gewinnen. Während die wenigen Großbauern mit ihren Mägden „Hurenbälger“ praktisch im Akkord produzierten.

Schräger Sinn für Komik

Dieses elende Szenario würzt Helgason mit seinem schrägen Sinn für Komik und viel schwarzem Humor, von Karl-Ludwig Wetzig meisterhaft ins Deutsche übersetzt. Das Tableau von Helgasons Figuren ist so skurril wie herzerwärmend: Verrückte Propheten treten darin neben ewig besoffenen Pfarrern auf, stumme Witwen ebenso wie beherzte Mägde und feinere Fräuleins, die ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt teilen. Bunt bemalt wird das ewige Schneeweiß und Matschgrau vor allem von Liedern, die über das Land getragen werden, von zerfledderten Gedichtbänden, die wie ein Schatz in der Unterhose gehütet werden. Dieses Volk besitzt buchstäblich nichts Wertvolles außer Reimen.

Wie aus einer anderen Welt legen plötzlich Norweger – die reichen Verwandten – mit Segelschiffen am verlotterten Landesteg an, bauen eine Heringsverarbeitungsstation. Plötzlich wandert die Moderne ein, vollzieht sich der Übergang „aus Strümpfen in Schuhe, von Rudern zur Dampfkraft. Aus nichts zu etwas.“ Drei Kilo Mehl für 99 Forellen? Jetzt gibt es Kronen. Wie schon in seinem fulminanten, fast genauso umfassenden Roman „Eine Frau bei 1000 Grad“schnitzt Helgason auch in „60 Kilo Sonnenschein“ seine Helden und Heldinnen aus Antihelden, die als Schelme durch Geschichte stolpern. Ein berührendes Andenken an die Wunder, zu denen Menschen fähig waren – und Helgasons bislang bestes Buch.

Hallgrímur Helgason: „60 Kilo Sonnenschein“, deutsch von Karl-Ludwig Wetzig, Tropen, 576 Seiten, 25 Euro, E-Book: 20 Euro.

Sarah Brasack

Richard Ford: „Irische Passagiere“ 

Wenn dein Vater stirbt und du bist erst sechzehn, dann ändert sich vieles.“ So beginnt Richard Fords Erzählung „Am falschen Ort“, die in der Geburtsstadt des 76-jährigen Schriftstellers spielt: Jackson/Mississippi. Und Ford war im gleichen Alter wie dieser Henry Harding, als sein Vater starb. Er weiß Bescheid und auch wieder nicht. „Du bist allein auf eine derart vielschichtige Weise, dass es kein Wort dafür gibt.“ Was tun? „Versuche das Wort zu finden.“

Darum geht es im Werk des großen amerikanischen Autors immer: das Ausloten vager Gefühle, schwankender Stimmungen und kaum hörbarer Dissonanzen, wobei er zum Klingen bringt, was eigentlich zwischen den Zeilen steht. Dieses Wunder gelingt nun wieder in seinem Erzählband „Irische Passagiere“. Henrys Geschichte, seine wacklige Freundschaft mit Niall MacDermott, der sich in die junge Witwe Harding verliebt, ist hier eine Ausnahme. Denn meist geht es um ältere Männer mit irischen Wurzeln, betuchte Anwälte, Makler oder Autoren, die den ersten Riss in ihrem Leben schon hinter sich haben. So wie Sandy McGuinness, der nach 35 Jahren seine Jugendliebe Barbara wiedertrifft. Noch einmal könnte in seinem komfortabel gepolsterten Alltag mit Frau und Kindern eine Tür ins Wilde, Unwägbare aufgehen. Doch Sandy lässt die Chance verstreichen. Wobei der letzte Satz mit dem Hinweis auf „all die zahllosen Abende, die noch vor ihm lagen“ eher unheilvoll klingt.

Die längste Story heißt „Der Lauf deines Lebens“ und ist fast ein kondensierter Roman. Sie handelt von Peter Boyce, der nach dem Selbstmord seiner krebskranken Frau Mae in dem kleinen Küstenort in Maine bleibt, sogar in derselben Straße. Peter versucht klarzukommen, liest Virginia Woolf, erträgt seine wütende Tochter Polly und die garstigen Einheimischen. Peter macht aus all dem kein Melodram, stellt sich den „fälligen kleinen Anpassungen“. Er lernt Sarah kennen, aber nicht lieben, weil er begreift, dass Witwer eben doch etwas anderes ist als Single. Und dann platzt die jüngere Jenna in sein Leben, schläft sogar in seinem Bett. Am nächsten Morgen sitzen beide am Strand, doch mehr als Freunde werden sie wohl kaum werden.

Glanzlose Tragödien

Hier – wie in allen neun Geschichten – ist Ford auf seinem Terrain: glanzlose Tragödien, mittlere Katastrophen, die er mit dem Millimetermaß seiner Prosa bis in den letzten Winkel ausmisst. Oft sieht man da einen Spalt zwischen der Misere, in die sich die Figuren manövriert haben, und der Lakonie, mit der sie erzählt wird. Selbst Jimmy Green, nach einer Spesenaffäre aus dem Job als Bürgermeister und Bankdirektor geflogen, glaubt: „Das Leben versuchte noch, gut zu verlaufen.“ Dieses Gefühl hatte Jonathan Bell allerdings nicht. Nach dem völlig unerwarteten Tod seiner Frau Mary kam „das Jahr der tiefen, trüben Schatten, des Wütens und Wanderns. Der entfesselten Verwirrungen und dermaßen hilflosen Panikattacken, dass Jonathan dachte, er würde es nicht aushalten“. Tat er aber, kauft sich ein Haus und ist drei Monate danach mit der Maklerin verheiratet.

Neues Spiel, neues Glück? Nur solange, bis Charlotte erklärt, dass sie zwar um ihrer selbst willen geliebt, aber nicht von Jonathan ergründet werden will. Also eine Scheidung ohne Drama – „als stiege man auf der Canal Street aus der Linie 1“. Den Verlust spüren beide erst später. Nein, das Happy End ist kein Stammgast in den Geschichten von Richard Ford, doch auch für Jonathan und Charlotte liegt in der völligen Unvorhersehbarkeit des Lebens auch eine Chance.

Richard Ford: „Irische Passagiere“. Erzählungen, deutsch von  Frank Heibert. Hanser Berlin, 286 Seiten, 22 Euro, E-Book 16,99 Euro.

Hartmut Wilmes

Jane Gardam: „Robinsons Tochter“ 

Polly Flint ist sechs Jahre alt, als der Vater sie bei zwei Tanten in einem gelben Haus am Meer abliefert. „Ein dickes Hausmädchen führte mich in die Küche, wo ich Tee bekam, und dann wurde ich von der sanftmütigen Tante in ein riesiges Gewölbezimmer geführt, es muss das kleine Morgenzimmer gewesen sein. Ich machte mit der sanftmütigen Tante ein Puzzle, so groß wie ein Kontinent. Ich sah nicht so weit auf, dass ich das Gesicht der Tante gesehen hätte, aber ich beobachtete unsere vier Hände, die über dem Mahagonimeer schwebten.“

Nein, eingestellt auf die Betreuung eines kleinen Mädchens ist man nicht im gelben Haus am Meer. Für Polly Flint, deren Geschichte Jane Gardam in ihrem Roman „Robinsons Tochter“ einfühlsam erzählt, wird das windumtoste Gebäude, das sie im Jahr 1904 zum ersten Mal betritt, dennoch zum einzigen Zuhause, das sie jemals kennenlernen wird.

Der Vater kommt zwei Monate später bei einem Schiffsunglück ums Leben, die Mutter ist schon vor Jahren gestorben, und so wächst Polly in der Obhut von „Miss Mary“ und „Miss Frances“ heran, den älteren Schwestern ihrer Mutter. Es ist einsam in der Marsch, allein die Kirchgänge am Wochenende unterbrechen die Monotonie. „Es war natürlich keine Rede davon, mich liebzuhaben, noch gab es sonstige Zuneigungsbekundungen, aber das machte nichts, denn ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mit Liebe hätte umgehen sollen.“

Trost findet Polly allein in Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“. Der englische Seemann, der mehr als 20 Jahre auf einer abgelegenen Südseeinsel ausharrt, ist ebenso allein wie das kleine Mädchen im gelben Haus. „Du warst mein Brot“, wird Polly kurz vor ihrem Tod zu ihrem fiktiven Lebensgefährten sagen.

Mehr als acht Jahrzehnte begleitet Jane Gardam ihre toughe Protagonistin und Ich-Erzählerin durchs Leben. Polly, mit einem gesunden Humor und einer überlebenswichtigen Portion Pragmatismus gesegnet, erlebt in dieser Zeit zwei Weltkriege. Sie verliebt sich in einen hasenfüßigen Mann, der – überrollt von ihren erotischen Fantasien – in die Ehe mit einer anderen flüchtet. Sie beginnt zu trinken und hört damit auf, als der Alkohol keinen Trost mehr bietet. Aus der naiven Kleinen, die das Schicksal in das Haus von Tante Mary und Tante Frances gespült hat, wird eine selbstbewusste Frau, die ihr Leben allen Widrigkeiten zum Trotz meistert und am Ende sagen wird: „Man sollte auch den Mond wollen.“

Gesellschaft voller Konventionen

Jane Gardam schildert in „Robinsons Tochter“ eine Gesellschaft, die an ihren eigenen Regeln und Konventionen zu ersticken droht. Vor allem die Frauen sind gehalten, ihre Bedürfnisse und sexuellen Wünsche bis zur Selbstaufgabe zu unterdrücken. So erzählt ihr Roman von verpfuschten Lebensentwürfen und der zerstörerischen Kraft von Familiengeheimnissen. Die gottesfürchtige Tante Mary, das erfährt Polly viele Jahre nach deren Tod, war einst eine umschwärmte Schönheit. Als ihr Verlobter sie betrog, zog sie sich verbittert zurück von der Welt und suchte Trost im Gebet. Frances heiratet im fortgeschrittenen Alter den Pfarrer ihrer Heimatgemeinde und geht mit ihm nach Indien – ein aus der Not geborener Fluchtversuch aus dem gelben Haus.

Jane Gardam, die vor wenigen Monaten 92 Jahre alt geworden ist, ist mit „Robinsons Tochter“ ein wunderbar erzählter, vielschichtiger und lebenskluger Roman gelungen. Im Original ist er bereits 1985 erschienen, was seiner Frische und Lebendigkeit keinen Abbruch tut.

Jane Gardam: „Robinsons Tochter“, dt. von Isabel Bogdan, Hanser Berlin, 318 Seiten, 24 Euro, E-Book 17,99 Euro. 

Petra Pluwatsch

Tobias Roth: „Welt der Renaissance“

Die „Welt der Renaissance“ – das von Tobias Roth herausgegebene Lesebuch im Großformat – ist eine Wucht. Das hat zu tun mit der Epoche, dem Herausgeber und der Buchgestaltung. Erst einmal entwirft diese Sammlung anhand so prominenter wie spezieller Texte ein herrlich funkelndes Panorama der Renaissance. Die Epoche von 1350 bis 1500, so lesen wir in der Einleitung, steht „am Beginn des modernen Europas“. Die Renaissance feiert mit ihrer Wiederentdeckung der Antike sowohl die Kunst als auch das Wissen. Doch neben dem Edlen des Humanismus ist ihr das Profane, das Politische, das Fanatische, das Obszöne und das Derbe nicht fremd – „ich möchte Galle kotzen“, schreibt Enea Silvio Piccolomini, aus dem ein paar Jahre später Papst Pius II. werden sollte. Es gibt zeitlos schöne Weisheiten zuhauf. So erläutert Niccolo Machiavelli in seinen „Ratschlägen für einen, der Botschafter wird“, dass man sich einen guten Ruf erwerbe, „indem man nicht für einen gilt, der eine Sache denkt und eine andere Sache sagt.“ Aber auch die historischen Aktualitäten haben für uns Pandemiker einen hohen Reiz.

Nachdem die Pest im Jahre 1348 ihre Schneise geschlagen hat, beschreibt Baldassare Bonaiuti den Lockdown in seiner „Florentiner Chronik“: „Alle Werkstätten waren geschlossen, alle Wirtshäuser waren geschlossen, alles außer Gewürzhändler und Kirchen.“ Zu den Seuchengewinnlern zählt er die Kräuterhändler, die „unglaublich viel Geld verdient“ hätten.

Zur Erheiterung der Leserschaft gibt es zwischendurch Anekdoten, die sogenannten Facezien, und Witze, die heute allerdings nicht mehr alle zünden. Und wem der Magen knurrt, dem seien die Rezepte von Bartolomeo Scappi, dem „Koch der Päpste“, empfohlen: „Man kann Bär am Spieß oder auf dem Rost braten und bestreut ihn nur etwas mit Salz, Fenchel, Pfeffer, Zimt und Nelken.“

Das Multitalent Tobias Roth – hier kommen wir zum zweiten Hauptgrund für die Lobeshymne – lässt sich auf diese Welt mit einem Enthusiasmus ein, der ansteckend ist. Nicht nur hat er die Auswahl der Originaltexte besorgt, darunter so manches Fragment. Auch hat er sie aus dem Lateinischen und dem Volgare, der Volkssprache, übersetzt. Darüber hinaus porträtiert er die Autoren alles andere als kurzatmig und in lockerer Ernsthaftigkeit.

Intensiv moderierte Anthologie

Eine Herkulesaufgabe war diese intensiv moderierte Anthologie gewiss. Da bekommt die Bezeichnung „Herausgeber“ eine neue Dimension. Allein die Beschäftigung mit Petrarca wäre für viele Gelehrte als Lebensaufgabe ausreichend. Aber da sind auch noch so komplexe Gestalten wie Giovanni Boccaccio, Lorenzo de Medici, Leonardo da Vinci, Girolamo Savonarola, Amerigo Vespucci, der bereits erwähnte Niccolo Machiavelli, Ludovico Ariosto, Michelangelo Buonarroti sowie Torquato Tasso. Schließlich der dritte Hauptgrund, die Edition zu preisen: Bei Galiani Berlin hat man dem gestalterischen Ehrgeiz viel Auslauf gewährt. Es ist ein Genuss, durch die festen Seiten zu blättern. Dafür sorgen die feinen roten Überschriften, die Medaillen und Buchdruckermarken, das reiche Bildmaterial und das zuweilen elegant ausschwingende oder – wo es inhaltlich passt – wellenförmig ausschwappende Schriftbild.

Die „Welt der Renaissance“ von Tobias Roth ist aus seinen „Berliner Renaissancemitteilungen“ hervorgegangen, einem 2011 gestarteten E-Mail-Projekt. Es ist eines der schönsten Bücher des Jahres 2020. Ein Füllhorn und ein Schatzhaus.

Tobias Roth: „Welt der Renaissance“, Galiani Berlin, 640 Seiten, 89 Euro. E-Book: 39,99 Euro.

Martin Oehlen

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