Niedecken„Ich habe das Ende gesehen“

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Wolfgang Niedecken in seinem Haus vor einer Fotografie von Wim Wenders. (Bild: Worring)

Wolfgang Niedecken in seinem Haus vor einer Fotografie von Wim Wenders. (Bild: Worring)

„Hier ist es passiert“, sagt Wolfgang Niedecken und zeigt auf den Sessel in der Ecke seines Arbeitszimmers im Kölner Süden. Hier hat ihn im November 2011 der Schlag getroffen, als er gerade versuchte, Faulkners „Licht im August – die Neuübersetzung“ zu lesen. Später holt er den Titel aus dem Regal. Die Seite, auf der es ihn erwischt hat, ist angekreuzt. Der BAP-Chef ist schmaler im Gesicht geworden. Das sei keine Folge der schweren Erkrankung, sagt er, sondern seines täglichen Sportprogramms: Jeden Morgen eine Stunde auf dem Rad. Solche Ertüchtigung habe er vor dem Schlaganfall vernachlässigt. Dann erzählt er, bei Tee und Rosinenbrötchen, wie es war und wie es ist und wie es hoffentlich sein wird.

Herr Niedecken, der Titel des letzten BAP-Albums heißt „Halv su wild“. Gilt das auch noch nach Ihrem Schlaganfall?

Wolfgang Niedecken: Genaugenommen – ja! Es ist Gott sei Dank alles gut gegangen. Ich hatte auch gar keine Schmerzen.

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Sie sagen: Gott sei Dank. Glauben Sie an Gott?

Niedecken: Ich habe ein so unfassbares Glück gehabt, dass ich feststellen kann: Mein Gottvertrauen wächst. In anderen Kulturkreisen sagt man in solchen Fällen „Inschallah“ – so Gott will.

Beten Sie heute mehr als früher?

Niedecken: Nein, es geht nicht so sehr ums Beten. Ich finde sowieso, dass man Gott – so es ihn denn gibt – nicht ständig nerven soll mit Wünschen, die man auch noch gerne erfüllt bekommen hätte. Wir müssen uns viel eher bei Gott entschuldigen dafür, was wir hier mit dem Planeten anstellen. Dieses ständige Bitten und Beten ist auch kleingläubig, finde ich. Und wie gesagt: Ich weiß nicht, welchen Gott es gibt. Oder ob es überhaupt einen gibt. Aber es passieren schon merkwürdige Sachen.

Wie an jenem November-Tag, an dem Sie den Schlaganfall erlitten. Ihre Frau Tina kam zufällig vorbei, als Sie selbst bemerkten, dass etwas nicht stimmte.

Niedecken: Der Zufall, so heißt das bei Hölderlin, ist nichts anderes als die Verkettung von Notwendigkeiten. Ich saß hier in meinem Arbeitszimmer im Lesesessel und hielt Faulkners „Licht im August“ in den Händen. Ein ums andere Mal fing ich das Kapitel 17 neu an, aber bekam nicht mit, was ich da las. Ich stand auf, um auf dem Balkon Luft zu schnappen – da kreuzten sich zufällig unsere Wege. Wäre ich im Sessel sitzen geblieben, hätte meine Frau nicht gesehen, wie furchtbar ich aussah; und wäre sie nicht mit der Wäsche hochgekommen, um die in die Waschmaschine zu legen, auch nicht. Dann wäre das passiert, was nicht passieren durfte.

Der Notarzt war schnell bei Ihnen.

Niedecken: Ich habe zuerst nur gedacht: Was für ein Aufwand! Das ist doch komisch. Als dann aber im Krankenhaus sofort mein Blut verdünnt wurde, wusste ich, dass es ernst ist. Da hätte es schon vorbei sein können. Meine Halsschlagader macht unter dem Ohr, in dem ich sonst einen Ring trage, eine Haarnadelkurve. Dort hatte sich wegen einer Woche starken Hustens eine Wunde gebildet. Das war's.

Und was war mit dem Stress, den Sie vorher hatten – die Autobiografie, das Album, die Tour, der 60. Geburtstag, das Afrika-Projekt?

Niedecken: Es war schon unglaublich viel los. Vielleicht war ich nicht in der besten körperlichen Verfassung. Aber ich trinke nicht, ich lebe vegetarisch, ich habe einen Sportler-Blutdruck. Vielleicht war der Schlaganfall ein Reminder: Pass auf, du glaubst es noch nicht, aber du bist jetzt 60. Ich weiß auch genau, welche Stellen im Jubiläumsjahr bei mir zum Stress geführt haben. Das sind die Termine, die zur Tour hinzukommen, bei denen man denkt, man muss sie machen, weil man niemanden vor den Kopf stoßen will. Ich muss lernen, „nein“ zu sagen, „das geht jetzt nicht mehr“.

Und das können Sie?

Niedecken: Mittlerweile kann ich das. Ich habe ja das Ende gesehen. Das hört sich sehr dramatisch an. Aber als die Ärzte im Krankenhaus den Eingriff vorbereiteten und mich narkotisierten, sah ich meine Frau mit den Töchtern an der Seite stehen. Das Letzte, was ich dachte, war: Hoffentlich werde ich noch einmal wach!

War das mit Angst verbunden?

Niedecken: Ja. Ich hänge nun mal am Leben. Ich wollte noch mal aufwachen.

Wie war das Aufwachen?

Niedecken: Ich machte die Augen auf – und da standen die drei Damen praktisch genau so wie zuvor. Die sahen sogar recht zuversichtlich aus. Da dachte ich: Toll! Es gibt noch eine Zugabe. Das scheint noch einmal gut gegangen zu sein. Und dann war ich auch die ganze Zeit über von einer unglaublichen Zuversicht. Ich war total sicher, es wird alles wieder genau so, wie es war. Ich konnte nicht reden, die Hand war gelähmt, ich war verkabelt bis zum Abwinken – alles egal: Ich war wieder am Start.

In Ihrer Autobiografie „Für ne Moment“ heißt es, Ihr Vater habe nie loslassen können. Können Sie das jetzt?

Niedecken: Meine Familie weiß: Ich mache keine zwei Sachen auf einmal. Ich konzentriere mich nur noch auf eine Sache.

War das früher anders?

Niedecken: Da war ich auf allen Hochzeiten unterwegs. Damit ist Schluss. Natürlich verzettele ich mich ganze gerne, weil ich mich für alles Mögliche interessiere. Aber ich muss mich da selber disziplinieren.

Die Welt hat sich während Ihrer Auszeit weiter gedreht. War das Verlangen groß, sich da oder dort einmal einzumischen?

Niedecken: Mit dem Einmischen ist das so eine Sache. Seit ein paar Jahren konzentriere ich mich auf das „Project Rebound“, das sich um Kindersoldaten und minderjährige Prostituierte in Uganda und im Ostkongo kümmert. Dafür mache ich alles. Da geht es um Kinder im Alter meiner Töchter. Wenn mich das nicht mehr berührte, könnte ich mit allem aufhören. Aber gerade, weil das so wichtig ist, muss ich aufpassen, dass ich mich nicht verzettele.

Das Thema Kindersoldaten steht gerade im Zentrum der umstrittenen Internet-Kampagne „Kony 2012“. Ziel der Kampagne ist die Festnahme des ugandischen Rebellenführers Joseph Kony bis zum Jahresende. Dazu wurde ein Film über Kindersoldaten ins Netz gestellt.

Niedecken: Ja, aber das ist alles merkwürdig, der Stil und der Inhalt. Wer sich jetzt für Kindersoldaten einsetzen will, der muss in den Ostkongo gehen. Das Video zielt auf Uganda und hinkt der Zeit hinterher. Die Nachtpendler, die da gezeigt werden, die gibt es gar nicht mehr.

Was muss denn im Ostkongo besser werden?

Niedecken: Ich bin nicht der Rock-'n'-Roll-Sänger, der die Welt retten will. Aber ich weiß: Die Korruption muss bekämpft und die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden. Da will ich mithelfen. Wir versuchen, den Kids, die im Grunde keine Chance haben, die Gelegenheit zu geben, ein Handwerk zu erlernen. Es gibt dort relativ viele Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, aber schon haben töten müssen.

Der ganze Breitengrad dort ist ein heikles Territorium. Warum die Konzentration auf Uganda und Kongo?

Niedecken: Ich hätte nichts dagegen, gäbe es mehr Geld, um das Projekt noch auszudehnen. Aber zunächst einmal ist es mir lieb, das ordentlich zu machen, was wir uns vorgenommen haben. Auch hier gilt das Motto: Nur nicht verzetteln. Das steht irgendwie über allem. Dass Horst Köhler nicht mehr Bundespräsident ist, das am Rande, ist gar nicht gut für Afrika. Der hat sich da sehr stark engagiert.

Jetzt ist auch schon sein Nachfolger abgetreten. Wie haben Sie die Debatte um die Moral im politischen Spitzenamt empfunden?

Niedecken: Da steckte am Ende so viel Scheinheiligkeit und so viel Selbstgerechtigkeit drin, dass ich gar nicht mehr hingucken konnte. Natürlich wurden Fehler gemacht. Ich sage nur eins: Wie kann man überhaupt Handy-Nummern austauschen mit dem „Bild“-Chefredakteur Kai Dieckmann? Christian Wulff hat den für einen Freund gehalten – aber das kann doch nicht dein Freund sein! Soviel Menschenkenntnis muss man doch haben.

Gerade der erste Mann im Staate muss die haben?

Niedecken: Ganz genau!

War es nicht Christian Wulff, der Ihnen das Bundesverdienstkreuz zugesprochen hat?

Niedecken: Das ist richtig, allerdings rührt der Vorgang noch aus der Amtszeit von Horst Köhler.

Die Überreichung der Auszeichnung steht noch aus. Die wird Ihnen jetzt vermutlich der neue Bundespräsident verleihen.

Niedecken: Ich freue mich, dass Joachim Gauck dieses Amt übernommen hat. Und seine erste Rede nach der Wahl in der Bundesversammlung hat mir gut gefallen: Der Satz, dass man nie eine Wahl auslassen sollte, spricht mir aus dem Herzen. Immer wieder ärgere ich mich über die geringe Wahlbeteiligung. Ich bin in Ländern gewesen, wo die Leute dafür sterben, dass sie endlich wählen dürfen – früher in Lateinamerika, heute in Afrika. Faire Wahlen, freie Wahlen – das ist auch etwas, wovon viele in Russland träumen.

Wird sich Deutschland dadurch verändern, dass jetzt zwei ostdeutsche Protestanten an der Spitze stehen?

Niedecken: Da schlägt das Pendel zurück von der Bonner Republik. Ich glaube schon, dass das Auswirkungen haben wird – die beiden wirken sehr abgeklärt. Nehmen wir nur Angela Merkel! Wer hätte ihr diese Kanzlerschaft zugetraut? Ich nicht, das muss ich ehrlich sagen. Ich werde sie nicht wählen, aber trotzdem: Chapeau! Sie wird ja laut Umfragen auch immer beliebter.

Warum ist das so?

Niedecken: Da gibt es vermutlich in der Bevölkerung die Einstellung: Alle wollen ihr etwas anhaben, dabei macht sie doch vieles richtig. Wenn es kriselt und alles drunter und drüber geht, mögen die Leute gerne eine Konstante.

Was die Beliebtheit angeht, stehen Sie momentan auch nicht schlecht da. Soeben gab es für Sie den „Echo“ für das Lebenswerk. Wie fühlt sich das an?

Niedecken: Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Preis je erhalten könnte. Nicht in Zeiten des Format-Radios, wo unsere Musik kaum noch vorkommt. Letzte Mohikaner werden in der Regel nicht ausgezeichnet. So einer bin ich. Einer der letzten Mohikaner.

Gibt es noch Ziele, gerade nach einer solchen Zäsur wie Ihrem Schlaganfall?

Niedecken: Natürlich gibt es manches, was ich gerne erreichen möchte, aber nichts, wovon ich sagen würde, mein Leben wäre verfehlt, würde ich es nicht mehr erreichen. Natürlich wäre es schön, könnte man das „Project Rebound“ auf alle Krisengebiete Afrikas ausdehnen. Ich möchte auch endlich einmal nach Australien und Ozeanien reisen, wo ich noch nie war, und ich möchte alleine mit meiner Frau den schöneren Teil der „Route 66“ in den USA abfahren. Ich würde auch gerne einmal eine richtige Unplugged-Tour machen. Aber bei alledem bin ich sehr entspannt.

Vor einem Jahr haben Sie Ihren 60. Geburtstag groß gefeiert. Wie wird es in wenigen Tagen beim 61. Geburtstag sein?

Niedecken: Anders. Da sitze ich in Marrakesch und schaue mit meinen drei Damen über die Dächer der Stadt.

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