„Auch die Treuesten gehen“Zahl der Austritte aus Kirchen in NRW schnellt in die Höhe

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Kirchenaustritt dpa

Die Gesamtzahl der Austritte im Vorjahr wird 2020 schon im ersten Halbjahr übertroffen. (Symbolbild)

  • In NRW schnellen die Kirchenaustritte in die Höhe. Was bedeutet das für die Kirchen, insbesondere die katholische?
  • Den Essener Generalvikar Klaus Pfeffer besorgt insbesondere eine zunehmend aggressive und verletzend geführte Diskussion, wenn es um Veränderungen in der katholischen Kirche geht.
  • Was meinen weitere Experten? Lesen Sie hier weitere Hintergründe.

Köln – Die Kirchenaustritte in NRW sind 2019 um mehr als ein Drittel in die Höhe geschnellt.

Das Justizministerium des Landes gab die Gesamtzahl mit 120.188 an. Im Vorjahr hatte sie noch bei 88.500 gelegen, 2017 bei 72.600. Das bedeutet einen Anstieg von 65 Prozent in zwei Jahren. Allein im Bereich des Amtsgerichts Köln traten mehr als 10.000 Christen aus. Das Erzbistum Köln wollte die Zahlen wegen der fehlenden Aufschlüsselung nach Konfession und Bistum bzw. Landeskirche nicht kommentieren.

Essener Generalvikar fordert Erneuerung der Kirche

Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer forderte eine „ernsthafte Erneuerung unserer Kirche“. Daran führe kein Weg vorbei, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Ohne sich zu den jüngsten Zahlen konkret äußern zu wollen, bestätigten diese die von ihm wahrgenommene Stimmungslage, so Pfeffer weiter. „Auf eine Erneuerung warten sehr viele Katholikinnen und Katholiken schon seit vielen Jahren - und ich weiß, dass mittlerweile schon die Treuesten der Treuen in unserer Kirche über einen Austritt nachdenken oder ihn bereits vollzogen haben. Darum bin ich froh, dass die Erneuerungsdebatten nun doch immer offener und deutlicher voranschreiten.“ Pfeffer begrüßte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den als Reformprozess von Bischöfen und Laien gestarteten „Synodalen Weg“. Die katholische Kirche müsse lernen, „in der modernen, pluralen und freiheitlichen Welt wirklich anzukommen.“ Allerdings habe eine „Minderheit“ genau davor Angst und wolle „mit aller Macht jegliche Entwicklung verhindern“. Ihn besorge die immer aggressiver geführte Auseinandersetzung. „Mir fällt auf, dass gerade aus traditionsorientierten Kreisen in den sozialen Netzwerken mit einer verletzenden und beleidigenden Sprache jegliche Diskussion über Veränderungen in unserer Kirche diskreditiert wird“, klagte Pfeffer.

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Der Freiburger Religionssoziologe Michael Ebertz führte den sprunghaften Anstieg der Austritte nicht zuletzt auf die Form innerkirchlicher Debatten zurück. „Wenn Christen – bis in höchste Ämter – in schlechtem Stil und unanständiger Wortwahl übereinander herfallen, denken sich viele: Da stimmt doch alles nicht mehr“, sagte Ebertz dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Austrittszahlen nannte er „unglaublich“ und verwies darauf, dass es 2019 im Grunde keine neuen, Aufsehen erregenden Skandale gegeben habe. Andererseits sei der Missbrauchsskandal insbesondere in der katholischen Kirche weiterhin „unbewältigt“, was zu einer Art „Verstetigung“ der Krise führe. Das seit Herbst 2019 auf der Ebene der Bischofskonferenz diskutierte Vorhaben, Opfer sexueller Gewalt, begangen von Priestern, aus Kirchensteuer-Mitteln zu entschädigen, habe die Wut und Empörung noch einmal gesteigert, so Ebertz. „Der Bogen ist längst überspannt, aber irgendwann bricht er.“ Der Experte warnte, der „Synodale Weg“ könne unbeabsichtigt die Frustration und die Abwendung von der katholischen Kirche noch steigern, wenn am Ende keine substanziellen und spürbaren Fortschritte bei den behandelten Themen herauskämen, unter anderem der Sexualmoral und der Rolle der Frauen in der Kirche – stünden.

Kirchenaustritt als Ansage für das eigene Seelenheil

Der Religionssoziologe Detlef Pollack vom Exzellenz-Cluster „Religion und Politik“ der Universität Münster nannte eine empfundene Nutzlosigkeit der Kirche als „vielleicht wichtigsten Grund“ für den Kirchenaustritt. Immer mehr Menschen hätten „das Gefühl, die Kirche nicht zu brauchen“. Ähnlich äußerte sich die Erfurter Dogmatik-Professorin Julia Knop: „Ein Austritt ist Ansage, für das eigene Seelenheil und im normalen Alltag keine Kirche (mehr) zu brauchen. Ein Austritt ist damit zugleich eine Absage an das Selbstverständnis der katholischen Kirche, für Seelenheil und Alltag der Gläubigen bedeutsam, vielleicht sogar unverzichtbar zu sein - theologisch ausgedrückt: Sakrament, Zeichen und Werkzeug sinnvollen Lebens zu sein. Diesen Anspruch lehnt, wer austritt, ab, und er bekundet: Kirche ist nicht in der Weise plausibel (Zeichen) und in der Weise hilfreich (Werkzeug), dass Mitgliedschaft vertretbar ist.“

Auch Pollack und Knop betonten den Zusammenhang der Missbrauchskrise mit den Austrittszahlen. „Die Missbrauchsfälle greifen die theologische Substanz der Kirche an“, sagte Pollack dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Das Image der Kirche sei „nachhaltig beschädigt.“ Doch öffentlich könnten die Bischöfe für die Sache der Kirche immer weniger eintreten, „da die Hierarchie insgesamt unglaubwürdig geworden ist“. Jedes zurechtrückende Wort, und sei es noch so berechtigt, werde als Rechtfertigungs- und Vertuschungsversuch verstanden.

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„Wenn Austritte sprunghaft ansteigen, lässt sich das mit schleichender Säkularisierung nicht hinreichend erklären“, unterstrich Julia Knop. Mutmaßlich seien der Missbrauchsskandal und der Umgang damit Anlass, „diese Kirche zu verlassen – weil sie nicht überzeugt, beim Glauben nicht hilft, nicht glaubwürdig ist, Glauben womöglich sogar behindert, weil man nicht in Mithaftung gehen will.“

Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sagte, es träten nun auch die aus, „die der Kirche wirtschaftlich weh tun - die Babyboomer-Generation, die wirtschaftlich gut dasteht.“ Das werde den Handlungsspielraum der Kirchen in absehbarer Zeit einschränken. „Es hat ein hohen Bedrohungspotenzial für die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit.“ Die Kirchen würden um Einschnitte nicht herumkommen. „Das ist eine Rote Karte, die die Gläubigen den Kirchen zeigen“, sagte Schüller. „Sie haben das Vertrauen verloren, dass diese Kirche noch reformfähig ist.“ 

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