Kokainhandel im Tonnenbereich: Die Strafverfolger sprechen vom größten Schlag gegen die Mafiaorganisation ‘Ndrangheta.
Internationale RazziaEisdielen in Siegen und Bedburg sollen Geld für die Mafia gewaschen haben
Fast vier Jahre hatten die Mafia-Fahnder in Italien, Belgien, Deutschland und in Übersee in einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe unter dem Namen „Eureka“ verdeckt eine der größten Operationen gegen die führenden Clans der kalabrischen ‘Ndrangheta durchgeführt. Es ging um internationalen Kokainhandel, um Steuerbetrug im großen Stil, um Schiebereien von Containern voller Kriegswaffen aus pakistanischen Armeebeständen mithilfe einer paramilitärischen brasilianischen Gruppierung. Die Gewinne wurden vor allem in Deutschland, Belgien, Portugal und Argentinien gewaschen – über Lokale, Eisdielen oder andere Scheinfirmen. Die großen Clans aus der ‘Ndrangheta-Hochburg San Luca lenkten dabei meist die Geschäfte. Geschäfte, deren Verzweigung bis in die rheinische Provinz reichen.
Am Mittwochmorgen schlugen die Mafia-Jäger in Süditalien, Deutschland, Belgien, Frankreich, Portugal, Frankreich, Slowenien, Rumänien, Brasilien und Panama zu. Allein in Deutschland, wo die Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten (ZeOS NRW) bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf die Einsätze koordinierte, durchsuchten 1000 Einsatzkräfte zahlreiche Objekte in Bayern, Thüringen, Rheinland-Pfalz, Saarland.
Ein Schwerpunkt der Großrazzia lag in NRW – mit 18 wurden mehr als die Hälfte der 30 Haftbefehle hier vollstreckt. Rund 500 Polizisten durchsuchten 51 Häuser, Wohnungen, Büros und Geschäfte. „Es geht um Kokainschmuggel im Tonnenbereich und um sehr hohe Summen“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch vor Journalisten. „Wir holen die Kriminellen aus ihren mafiösen Parallelwelten.“
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Neben Durchsuchungen in Siegen, Hagen, Bergkamen und Velbert gab es auch Einsätze in Bedburg und Bergisch Gladbach. Das Landeskriminalamt teilte mit, es werde insgesamt gegen 35 Verdächtige ermittelt. Den Beschuldigten wird unter anderem Geldwäsche, bandenmäßige Steuerhinterziehung, gewerbsmäßiger Bandenbetrug sowie Rauschgiftschmuggel vorgeworfen.
Ermittler: Siegener Eiscafé steh im Verdacht, Unterschlupf der kalabrischen Mafia gewesen zu sein
Eisdielen waren in der Region gleich zweimal im Visier der Ermittler: Im Zusammenhang mit der Razzia wurde ein Bedburger festgenommen. Er soll an der Verteilung von großen Mengen Kokain beteiligt gewesen sein. Der Mann ist Betreiber einer Eisdiele im Zentrum der Stadt. Vor einiger Zeit war er auch Betreiber der Eisdiele in Siegen, die ebenfalls heute durchsucht wurde.
Es bestehe der Verdacht, dass es sich bei dem Siegener Eiscafé um eine Geldwaschanlage und Unterschlupf der kalabrischen Mafia, der 'Ndrangheta, gehandelt hat, sagte ein leitender Ermittler. Die zwei Geldgeber der Eisdiele seien in den internationalen Rauschgifthandel verstrickt.
Außerdem gebe es Hinweise, dass Geld aus der Eisdiele ins Kernland der kalabrischen Mafia nach San Luca geflossen ist. Alle Mitarbeiter stammten aus Kalabrien und seien miteinander verwandt. Unter ihnen seien Überlebende des Weihnachtsmassakers in San Luca 2006. Folge des Massakers zwischen zwei verfeindeten Mafia-Familien sollen auch die Mafiamorde mit sechs Toten von Duisburg 2007 gewesen sein. Zudem wurde demnach einer der Mitarbeiter mit europäischem Haftbefehl gesucht.
Größter internationaler Schlag gegen die ‘Ndrangheta
Laut den Strafverfolgern handelt es sich um den größten internationalen Schlag gegen die ‘Ndrangheta. Lägst sind die kalabrischen Syndikate zur mächtigsten Mafia-Organisation Italiens aufgestiegen. Exakt 39 kriminelle Familien mischen von San Luca aus im weltweiten Kokainhandel mit. Im Monat, so die Schätzungen, setzen die Drogenhändler bis zu 350 Millionen Euro um.
Aktuell könne man den Handel mit 25 Tonnen Kokain seit 2019 nachweisen, berichtete das Landeskriminalamt in Bayern. Auch Geldbewegungen von 22,5 Millionen Euro stehen im Raum. Allein in Italien nahmen die Anti-Mafia-Behörden das Gros der 108 gesuchten mutmaßlichen Verbrecher fest. Familiennamen wie Nirta, Strangio oder Pelle klingen wie das Who's who der kalabrischen Familiensyndikate.
Drogen gelangen über die Rhein-Ruhr-Schiene nach Süditalien
Im Juni 2019 begannen die Ermittlungen in der Operation Eureka. Der Name geht auf einen Ausspruch des griechischen Mathematiker Archimedes zurück: „Ich habe es gefunden.“ Der Satz passte zu dem weitverzweigten Verfahrenskomplex.
Drogenermittler im belgischen Genk hatten einen Pizzabäcker und seine Söhne aus dem Nirta-Clan ins Blickfeld genommen. Der Gastronom unterhielt enge Kontakte zu Kokainhändlern. Nach und nach drang die internationale Ermittlungsgruppe immer tiefer in die streng abgeschotteten Strukturen der ‘Ndrangheta ein. So wurden Bezüge zu mutmaßlichen Mafia-Verwandten in München offenbar.
Am Ende kristallisierte sich folgendes Bild heraus: Die großen Clans in Kalabrien sammelten enorme Summen und orderten über Vertrauensleute bei Drogenkartellen in Südamerika tonnenweise Kokain. Getarnt unter legaler Fracht wurde der Stoff entweder direkt nach Kalabrien verschifft oder die Ware landete unter anderem im Hafen von Antwerpen. Dort kümmerten sich Residenten der ‘Ndrangheta um den weiteren Transfer. So organisierten die Logistiker eine Kurierlinie unbescholtener deutscher Staatsbürger, die über die Rhein-und-Ruhrschiene in eigens präparierten Fahrzeugen „den Schnee“ in Chargen von jeweils 15 Kilogramm über den Brenner nach Süditalien brachten. Auch ein albanisches Netzwerke hat den Ermittlungen zufolge Kurierfahrten durchgeführt.
Insgesamt 750 Kilogramm sollen die Drogenboten aus NRW in 50 Fahrten an ihre süditalienischen Auftraggeber weitergeleitet haben. Die Fahrer wurden am Mittwoch verhaftet. Bei dem Kopf handelt es sich laut der Ermittler um einen 62-jährigen Deutschen.
Die Beschuldigten kommunizierten meist über kryptierte Handys und wähnten sich lange geschützt vor Lauschangriffen. Doch seit es Polizeitechnikern gelang, die Kryptosoftware Encrochat und SkyECC zu knacken, geriet auch die Mafia hierzulande verstärkt ins Fadenkreuz. Bereits Ende 2018 hatte eine internationale Ermittlungseinheit in der europaweiten Operation „Pollino“ einen internationalen Drogenring der ‘Ndrangheta zerschlagen, dessen Köpfe vor allem vom Rheinland aus agierten.
Seinerzeit hatte ein Kronzeuge ausgepackt und tiefe Einblicke in Abläufe des organisierten Rauschgifthandels gewährt. So werde nach jedem erfolgreichen Abschluss eines Kokaingeschäftes je nach Höhe der Einlage, der Gewinn fair unter den beteiligten Familien aufgeteilt.
Wie ein Krake hat sich die Mafia-Organisation auch in Deutschland ausgebreitet. Gerade im Bereich der Geldwäsche gelten die Nachbarn jenseits der Alpen als attraktives Ziel. „In Deutschland brauchst Du nicht nachzuweisen, woher das Geld kommt, das macht es so einfach“, bekannte der Entity (Aussteiger) in einer Vernehmung. Wie selbstbewusst die kalabrische ‘Ndrangheta nach außen hin auftritt, beweist ein abgehörtes Gespräch eines der Bosse in seinem Auto: „Die stärkste Mafia ist die 'Ndrangheta“, tönte dieser stolz. (mit dpa)