Notfall-SeminareWie sich Menschen in NRW auf eine Katastrophe vorbereiten

Lesezeit 6 Minuten
Blessem HEINEKAMP 130522

Ein Auto hängt in Blessem nach dem Hochwasser über dem Abgrund. (Archivfoto)

Monheim – Nie mehr soll ihr das passieren. Nie mehr will Colette de la Motte derart unvorbereitet in eine Katastrophe schliddern, wie sie sich im Juli vergangenen Jahres auch in Langenfeld ereignet hat. „Wir haben damit überhaupt nicht gerechnet, aber plötzlich drückte sich das Wasser durch die Kanäle hoch. So schnell konnten wir unsere Sachen gar nicht in Sicherheit bringen. Die Wohnung ist heute noch unbewohnbar.“

Ein knappes Jahr später sitzt Colette mit ihrer Freundin Astrid Lang in einem Seminarraum des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Monheim und schreibt in einem atemberaubenden Tempo alles auf ein Flipboard, was bei einem Stromausfall hilfreich sein könnte.

Notfall-Kurse seit Corona und Flut sehr beliebt

Was tun, wenn es ums Überleben geht? Kurse dieser Art sind bundesweit sehr gefragt, weiß Elisa Haußler, Referentin für Bevölkerungsschutz beim ASB. Das habe mit der Corona-Pandemie begonnen. Seit dem Hochwasser vom Juli 2021, das Nordrhein-Westfalen besonders hart getroffen hat, komme man kaum noch hinterher.

Neuer Inhalt (12)

Colette de la Motte und Astrid Lang (r.) wollen aus der Flutkatastrophe lernen.

„Vorbeugung und Reaktion in Notlagen“, heißt der Kurs und ist Teil eines neuen Konzepts, entwickelt vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das den etwas sperrigen Titel „Erste Hilfe mit Selbstschutzinhalten“ trägt. Abgekürzt EHSH. Der offizielle Notfallratgeber des BBK, ein orangefarbenes Heftchen mit knapp 70 Seiten, war wochenlang vergriffen und musste erst nachgedruckt werden.

Längere Engpässe überbrücken

Es gehe darum, wieder ein Bewusstsein für Selbst- und Fremdhilfe zu schaffen und Strategien zu entwickeln, wie sich längere Engpässe bei Versorgungsmängeln überbrücken lassen, erklärt Kursleiterin Helen Karg. Wie handele ich in Notlagen richtig, wie muss ein persönlicher Notfallvorrat aussehen?

„Welche Katastrophen fallen Ihnen spontan ein?“, fragt Karg. Sturm, Feuer, Lawinen, Chemieunfälle, Hochwasser, Erdbeben. Die Antworten kommen im Sekundentakt. Man könnte ja auch mal eingeschneit sein, ruft jemand in den Raum. Vielleicht nicht in Monheim, aber in Bayern schon, oder?

Erstaunlich, aber auf das Naheliegendste kommt keiner. Was ist bei Stromausfall? Nicht für ein paar Minuten, sondern vielleicht über mehrere Tage.

450.000 Menschen auf Notfallvorsorge vorbereiten

Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass Strom, Gas und Wasser immer zur Verfügung stehen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, welche Folgen ein Totalausfall hätte. Erst der russische Überfall auf die Ukraine hat uns schlagartig vor Augen geführt, dass es mit der stets beschworenen Versorgungssicherheit so weit dann doch nicht her ist und man im Notfall nicht darauf vertrauen kann, der Staat werde es schon richten.

Seit Herbst 2020 gibt es die EHSH-Seminare, die von den fünf größten Hilfsorganisationen ASB, Maltesern, Johannitern, DRK und DLRG angeboten werden. Sie sind kostenlos, bestehen aus mehreren Modulen und haben das Ziel, bundesweit bis 2024 bis zu 450.000 Menschen zu schulen. Bislang wurden in mehr als 700 Kursen rund 14.000 Interessenten erreicht.

„Ich stand regelrecht unter Panik, als ich abgesoffen bin“, sagt Colette. „Ich wusste gar nicht, was ich zuerst machen sollte.“

Im Notfall ist Kommunikation überlebenswichtig

Helen Karg möchte beim Stromausfall bleiben. Nach einer Viertelstunde und vier Gruppenarbeiten ist allen im Seminarraum klar, was das bedeutet. Kein Licht, kein Kühlschrank, auftauende Gefriertruhen, tote Fernseher, Radios und Telefone, Schließanlagen, die außer Betrieb sind, Fahrstühle, die steckenbleiben. „Die elektrische Zahnbürste gibt doch irgendwann auch ihren Geist auf“, gibt Sascha zu bedenken. Was dann? EC-Karten machen ohne funktionierende Lesegeräte keinen Sinn, ein stromloser Geldautomat spuckt keine Scheine mehr aus.

Das Smartphone funktioniert im Ernstfall auch nicht

Das klingt alles so banal, das weiß doch jeder. Stimmt. Aber auch in diesem Seminar muss die Fachfrau wie so häufig den Teilnehmenden auf die Sprünge helfen und hält ihr Smartphone in die Höhe. Ist der Akku leer oder das Netz überlastet, gibt es keine Kommunikation mehr. Darauf ist keiner gekommen.

Hilflos ohne Kommunikation. Genau das haben die Menschen, die bei der Flut im Ahrtal zum Teil die ganze Nacht lang auf den Hausdächern hockten und auf Rettung aus der Luft hofften, erfahren müssen. Nicht zu wissen, wie es den Angehörigen geht, ob sie in Sicherheit sind, das ist das Schlimmste. 190.000 Haushalte, die binnen weniger Stunden ohne Strom und Trinkwasser auskommen mussten und dabei keinen Kontakt mehr zur Außenwelt hatten.

Neuer Inhalt (13)

Seminarleiterin Helen Karg erklärt das Kurbelradio.

Helen Karg hat den Auftrag, diese Hilflosigkeit mit Aktion zu füllen. Ja. Man kann sich vorbereiten. Kerzen so aufbewahren, dass man die im Dunkeln findet. Mit einer aufgeladenen (!) Powerbank das Handyleben verlängern, Wasserreserven anlegen. Und ja. Wolldecken können Heizungen ersetzen und selbst Zugluft-Stopper unten an der Türe, diese hässlichen gehäkelten Würmer, können einen Sinn haben, um wenigstens einen Raum im Haus nach ein paar Tagen ohne Heizung einigermaßen warm zu halten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Warum kommen wir nicht mehr auf diese simplen Lösungen? Notstromaggregate, die gleich von mehreren vorgeschlagen werden, mögen ja nützlich sein, aber 100 Liter Benzin in Kanistern für den Tag X in der Mietwohnung gelagert, ist mit Sicherheit keine gute Idee.

Hamsterkäufe übrigens auch nicht. Sinnvoll sei, einen Vorrat an Lebensmitteln, Getränken und Hygieneartikeln für zehn Tage anzuschaffen, rät die Kursleiterin. Und ausreichend Wasser in Fünf-Liter-Kanistern. Pro Person könne man damit einen Tag auskommen. Zwei Liter zum Trinken, zwei für die Hygiene, einer zum Kochen.

„Dabei wichtige Medikamente und eine Haushaltsapotheke nicht vergessen“, mahnt Helen Karg. „Aus diesem Vorrat sollte man sich natürlich auch regelmäßig bedienen und ihn ständig auffüllen, damit die Lebensmittel nicht verderben.“

Das Notgepäck sollte kein Koffer sein

Wir haben verstanden und gelernt, dass im Fall der Fälle, wenn die Toilettenspülung nicht mehr funktioniert und ein Campingklo nicht zur Verfügung steht, eine Plastiktüte in der Kloschüssel auch hilft. „Über eine vernünftige Entsorgung muss man sich natürlich auch Gedanken machen.“

Knapp 90 Minuten sind rum. In der Runde stellt sich langsam das Gefühl ein, eigentlich ganz gut gewappnet zu sein, als Kursleiterin Karg alles wieder infrage stellt. „Was nehmen Sie mit, wenn Sie Ihr Haus innerhalb von fünf Minuten verlassen müssen?“ Das, ergänzt sie, könne bei einem simplen Bombenfund schon der Fall sein.

Und schon sind wir beim Notfallkoffer, der bei einer Evakuierung aber auf keinen Fall ein Koffer, sondern ein Rucksack sein sollte, „weil ich damit immer beide Hände frei habe“. Das Notgepäck müsse Jacke, Pullover, Unterwäsche, Socken, einen kleinen Vorrat an Essen und Trinken, eine Wasserflasche, die wichtigsten Dokumente, Klarsichtfolienbeutel für Dinge, die nicht auslaufen sollten, und eine Rettungsdecke enthalten. „Auch wenn das ein Einmalprodukt ist. Die Decke hält im Notfall einfach superwarm“, sagt Karg. Dazu ein Erste-Hilfe-Heftchen, ein Beatmungstuch und Ladekabel, Powerbank und Stecker für das Handy.

Wichtige Dokumente nicht im Keller aufbewahren

Und ein Kurbelradio, wenn alle anderen Kommunikationswege scheitern. Helen Karg holt das rote Gerät aus der Tasche, dreht an der Kurbel und schon hat sie Radioempfang.

Diesen Aha-Effekt spart sie sich in ihren Seminaren immer muss zum Schluss. Weil es die wenigstens kennen. „Damit sind Sie vollkommen autark.“ Eine Taschenlampe ist integriert – und mit der Kurbel lässt sich sogar ein totes Smartphone zum Leben erwecken. Wenn man das Ladekabel nicht vergessen hat.

Colette und Astrid, die beiden Freundinnen aus Langenfeld, haben verstanden. Und geben den anderen noch einen Tipp mit. Wichtige Dokumente sollte man bloß nicht im Keller lagern, warnen sie. Und Kopien machen, die an einem möglichst sicheren Ort außerhalb der eigenen vier Wände liegen. Bei Familienangehörigen oder Freunden zum Beispiel.

Doppelt genäht hält eben besser.

KStA abonnieren