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„Szenen wie im Folterkeller“Urteil gegen Babysitter ist gefallen

Lesezeit 5 Minuten
Der Angeklagte (M) im Missbrauchskomplex Wermelskirchen hält sich beim Betreten des Gerichtssaals neben seinem Rechtsanwalt Christian Lange (l) eine Mappe vor das Gesicht. Der Mann soll sich im Internet als Babysitter angeboten und so Kontakt zu den Familien der Opfer bekommen haben. Insgesamt ist er wegen 124 Taten angeklagt, darunter auch Besitz von Kinderpornografie und Beihilfe zum Missbrauch.

Der Angeklagte im Missbrauchprozess Wermelskirchen wurde verurteilt.

Im Missbrauchsprozess Wermelskirchen vor dem Landgericht Köln ist das Urteil gegen den 45 Jahre alten angeklagten Babysitter gefallen.

Es sind fast drei Stunden, in denen der Vorsitzende in Saal 7 des Kölner Landgerichtes das Urteil gegen Marcus R. aus Wermelskirchen erläutert. Drei lange Stunden, die für einen Außenstehenden von Minute zu Minute immer unerträglicher zu werden scheinen, konfrontiert Richter Christoph Kaufmann den Angeklagten mit dem mindestens 19 Jahre währendem Grauen, das er angerichtet hat.

Wegen schwersten sexuellen Missbrauchs von Säuglingen und Kleinkindern, sein jüngstes Opfer war gerade mal vier Wochen alt, hat das Gericht den ehemaligen Babysitter am Dienstag zu 14 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Als dann wegen hoher Rückfallgefahr auch noch die Sicherungsverwahrung angeordnet wird, richtet der jugendlich wirkende 45-Jährge den Blick plötzlich nach unten. Eine der seltenen emotionalen Regungen im Prozess, als der IT-Spezialist versteht, dass er auch nach Verbüßung der eigentlichen Strafhaft vorerst nicht freikommen wird.

Richter spricht von sadistischen Sexorgien

Ansonsten ist kaum zu erahnen, was der Angeklagte denkt. Wenn der Richter anschließend von „Szenen wie aus einem Folterkeller“ spricht, von „sadistischen Orgien“ und vor Schmerzen schreienden Kindern, von Anal- und Mund-Spreizern oder von Reizstromgeräten und Kathetern, die der Mann im blauen Hoody bei seinen „Exzessen bis über die Grenze des anatomisch Möglichen“ benutzt hat, von seinen zynischen und menschenverachtenden Kommentaren während des Missbrauchs – immer dann ist kaum eine Regung des Angesprochenen zu sehen. Wenn überhaupt, nickt er abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde.

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Der Täter hielt all seine Verbrechen auf Video fest. Sein umfassendes Geständnis, in dem er seine Taten empathielos „wie ein Technokrat“ geschildert habe, falle deshalb nicht allzu strafmildernd ins Gewicht, sagte Kaufmann. „Wir hatten doch alles live und in Farbe.“ Trotzdem habe der Angeklagte im Laufe des Verfahrens immer wieder mit einer Art Salami-Taktik versucht, „aalglatt zu taktieren und zu mauern, ein Hintertürchen zu finden“. Beispielsweise bei der Frage, ob er noch mehr über seine Komplizen wisse. Oder bezüglich der Schutzbehauptung, er habe den meisten Kindern Schlaf- oder Betäubungsmittel verabreicht, um sie zu schonen.

„Sie lügen, Herr R., Sie lügen“

„Sie lügen, Herr R., Sie lügen. Die Mittel haben Sie angewendet, um nicht Gefahr zu laufen, enttarnt zu werden“, richtete Kaufmann sich wegen seines „heuchlerischen Mitgefühls“ direkt an den Angeklagten: „Damit die Kinder Sie nicht ‚verpetzen‘ konnten, wie Sie es selber immer wieder ausgedrückt haben.“

Dass der Täter sich im Laufe der letzten Verhandlungswochen auch noch dazu verstiegen habe, er hätte die Kinder „doch geliebt“, sei „umso verstörender“, ergänzte der Richter. Sein Verhalten habe sich über die Jahre „regelrecht zu einer Schablone für ein Stereotyp“ entwickelt, das nur schwer noch zu beeinflussen sei. „Ihre gesamte äußere Unauffälligkeit wird zusammengehalten durch die starren Schnüre Ihrer hochgradig abweichenden Sexualität, die ständig neu gespannt werden müssen“, zitierte der Richter eine Sachverständige.

Angeklagter hatte offensichtlich gute Kindheit

Im Laufe des Verfahrens sei es zudem äußerst schwierig gewesen, zu ergründen, weshalb R. sich „derart entgrenzt entwickelt“ habe. Der Angeklagte habe „eine offensichtlich gute Kindheit“ verlebt. Der Vater war Informatiker, die Mutter Sozialarbeiterin und die Eltern hatten ein „Häuschen mit Blick ins Grüne“. Marcus R., der noch mit 32 Jahren bei den Eltern wohnte, habe zwar als „Muttersöhnchen gegolten“, so Kaufmann. Aber er sei auch als „feingliedriger, smarter Typ“, wohlhabend, erfolgreich und weltgewandt wahrgenommen worden.

Der verheiratete IT-Experte hatte einen Freundeskreis aus Piloten, Ärzten und Schauspielern, unternahm luxuriöse Urlaubsreisen nach Singapur und Neuseeland und besaß in Wermelskirchen eine Millionenimmobilie. Bekannte und Kollegen schilderten ihn als „freundlich, hilfsbereit und immer positiv gestimmt“.

Monströse Fantasien hinter einer scheinbar perfekten Fassade

In seinem mit großen Fenstern besonders transparent wirkenden Haus habe es „hinter dieser scheinbar perfekten und durchsichtigen Fassade“ im übertragenen Sinne noch einen dunklen Kellerbereich gegeben, sagte Kaufmann. Seine pädophile Sexualität habe der Angeklagte in menschenverachtender Weise bishin zu Tötungsfantasien ausgelebt. „Die Kinder sind für Sie beatmete Sex Toys“, sagte Kaufmann.

Wie andere Missbrauchstäter tauschte der 45-Jährige über das Internet kinderpornografisches Material aus. Daneben spezialisierte er sich jedoch zunehmend darauf, als Babysitter kleine Kinder - teils nur wenige Monate alte Babys - auf schwerste Weise zu missbrauchen. Dafür verabreichte er den Kindern teilweise Betäubungsmittel. In einem Fall missbrauchte er einen Jungen, der aufgrund seiner schweren geistigen Behinderung nicht darüber sprechen konnte.

Als Babysitter nach Opfern gesucht

Dies war einer der Gründe, warum der Täter nach Ansicht des Gerichtes so lange nicht auffiel - die Taten ereigneten sich zwischen 2005 und 2019. Ein anderer Grund war, dass der 45-Jährige hochgradig geschickt darin war, sich das Vertrauen der Eltern und älteren Kinder zu erschleichen. In einem Fall wurde er Taufpate eines Jungen, in einem anderen wusste er sogar die Zuneigung eines hochintelligenten, aber schwer zugänglichen Jungen zu gewinnen. „Die perfekte Fassade – Hochglanz“, sagte Kaufmann.

Zudem ist R. auch noch ein versierter Computer-Experte, der seine Videos perfekt verschlüsseln konnte. Als die Polizei schließlich über einen Komplizen auf ihn aufmerksam wurde und nach langen Ermittlungen ausreichende Beweise gesammelt hatte, schlug sie mit einem SEK-Kommando zu, als er sich gerade in einer Videokonferenz mit seinem Chef befand. Dadurch konnte er einen anderen Computer nicht mehr schließen, mit dem er gerade Kinderpornografie aus dem Internet lud. „Ansonsten hätten wir die Dateien wohl niemals knacken können. Das System war so gesichert, da wäre auch das CIA nicht reingekommem“, zitierte Kaufmann einen Experten der Polizei.

Er müsse „dies alles jetzt erst einmal sacken lassen“, sagt der Anwalt des Angeklagten nach der Urteilsverkündung dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Um dann in Ruhe zu entscheiden, ob wir Revision gegen die Entscheidung einlegen. Er sei „erleichtert, dass dieser Pädokriminelle, Peiniger so vieler unschuldiger Kinder, jetzt für viele Jahre hinter Gitter muss“, kommentierte NRW-Inneminister Herbert Reul (CDU) das Urteil. „Jedes Opfer, das befreit wird, jeder Täter, der bestraft wird, motivieren uns zusätzlich, Kinderschänder aufzuspüren und in Personal und Technik für diese wichtige Arbeit zu investieren.“

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