Missbrauchsfälle WermelskirchenDas Trösten hinterher sei Angeklagtem wichtig gewesen

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Der Angeklagte (M.) im Missbrauchskomplex Wermelskirchen hält sich beim Betreten des Gerichtssaals neben seinem Rechtsanwalt Christian Lange (l) eine Mappe vor das Gesicht.

Der Angeklagte (M.) im Missbrauchskomplex Wermelskirchen hält sich beim Betreten des Gerichtssaals neben seinem Rechtsanwalt Christian Lange (l) eine Mappe vor das Gesicht.

Im Prozess zum Missbrauchsfall Wermelskirchen hat sich der Angeklagte erstmals selbst zu den Vorwürfen geäußert. Er hält sich selbst für einen guten Menschen, der den Kindern nie weh tun wollte.

Hinweis: Dieser Text enthält Details und Beschreibungen von sexuellem Missbrauch an Kleinkindern, die der Angeklagte begangen haben soll. Sie können auf Personen verstörend wirken.

Das Trösten hinterher, sagt Marcus R., sei ihm immer wichtig gewesen. Schließlich habe er die Jungen und Mädchen, die ihm Eltern zur Betreuung anvertraut hatten und die er in manchen Fällen jahrelang brutal sexuell missbraucht hatte, immer sehr gemocht. Vor allem habe ihm gefallen, wenn sie wissbegierig waren und er ihnen noch etwas beibringen konnte. R. sitzt auf der Anklagebank wie ein Musterschüler, das Hemd glattgebügelt, den Rücken durchgestreckt wie ein Pianist, die Hände gefaltet wie ein Priester

Am zweiten Prozesstag hat Marcus R. vor dem Kölner Landgericht wie angekündigt sein polizeiliches Geständnis wiederholt. Alles, was in der 138 Seiten starken Anklage stehe, treffe zu, sagt er: 124 Fälle des sexuellen Missbrauchs und der Anstiftung dazu, die meisten davon schwer. Zum Auftakt des Strafverfahrens hatten zwei Staatsanwältinnen die Anklage im Wechsel verlesen. Ein zweistündiger Blick in einen menschlichen Abgrund.

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In Nuckelflaschen uriniert

Es ist das Werk von Marcus R., 45 Jahre alt, verheiratet, kinderlos, Akademiker aus gutem Hause, der offenbar irgendwann daran Gefallen gefunden hatte, Kinder auf brutale Weise zu quälen, zu missbrauchen, zu vergewaltigen. Sein jüngstes Opfer war gerade mal vier Wochen alt. Er urinierte in Nuckelflaschen, er penetrierte seine Opfer auch mit Fieberthermometern und Dildos, führte ihnen Katheter in die Harnröhre ein, unterband mit einem Mundspreizer den Beißreflex, sedierte sie mit rezeptfreien Zäpfchen oder Lidocain-Cremes, legte Kabel an ihre Genitalien und verpasste ihnen Reizstromschläge. All seine Taten hatte er filmisch festgehalten. Unter seinen Opfern waren Kinder mit schweren geistigen und körperlichen Behinderungen, ohne jede Möglichkeit, Widerstand zu leisten oder sich mitzuteilen.

Vor der Strafkammer zeichnet R. am Mittwochvormittag ein Selbstbild, in dem er ein guter Mensch ist, hilfsbereit, kommunikativ, mit gesundem Freundeskreis. Allerdings sei da noch diese andere Seite gewesen, er nennt sie Parallelwelt. Hier sei er ein Mann gewesen, der sich virtuell in Chats mit Gleichgesinnten über Missbrauchsphantasien austauschte, sich bei Taten anderer per Videocall live zuschalten ließ und in der realen Welt als Babysitter andiente, sich das Vertrauen von Eltern erschlich, um ihre Söhne und Töchter zu missbrauchen, oft jahrelang.

Seine Idealvorstellung: Kinder zwischen null und vier Jahren, am liebsten mit Windeln, da R. einen Fetisch dafür hat. Aber auch Kinder mit schweren geistigen Behinderungen habe er gezielt gesucht, weil diese sich nicht hätten mitteilen können. Für all das trage er die volle Verantwortung, sagt er gleich zu Beginn an die Nebenklageanwälte gerichtet. „Die Taten sind abscheulich und ich bereue sie zutiefst.“

Zum Prozessauftakt am Dienstag hatte R. noch geschwiegen. Stattdessen ließ er seinen Anwalt ein vierseitiges Schreiben verlesen, in dem es sinngemäß heißt, dass R. früher vielleicht das war, was andere ein Monster nennen, heute aber nicht mehr.

Verteidiger wollen Sicherheitsverwahrung verhindern

Am zweiten Tag nun war R. bemüht, die Botschaft von der angeblichen Läuterung durch eigene Aussagen zu untermauern. Das Ziel seiner beiden Verteidiger ist es nicht, eine jahrelange Haftstrafe zu vermeiden, sondern die Sicherungsverwahrung zu verhindern. Die hat die Staatsanwaltschaft bereits vorsorglich beantragt. Sie hält R. für eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Der Vortrag des IT-Experten über seine mutmaßlichen Taten gleicht einer technischen Abhandlung, rhetorisch geschliffene Sätze ohne jeden Ansatz von Emotion. Er erzählt, dass er mit etwa 15 oder 16 Jahren erstmals bemerkt habe, dass da eine düstere Seite in ihm stecke. Mit Aufkommen des Internets sei er dann erstmals mit entsprechenden Chats in Verbindung gekommen, dann auch mit Bildern und Filmen von Missbrauchsdarstellungen. Irgendwie sei er da reingerutscht, genau erklären könne er das alles nicht.

Im Verlauf der dreistündigen Befragung durch Richter, Staatsanwältinnen und Nebenklagevertreter wird R. fast zum Gutachter über sich selbst. Er reflektiert, psychologisiert, präsentiert Erklärungen für Dinge, die er sich selbst eigentlich nicht erklären kann. Er habe stets darauf geachtet, dass die Kinder während der Taten schlafen, damit sie keine Erinnerung haben. Anfangs habe er dafür noch rezeptfreie Schlafmittel benutzt, dann aber gemerkt, dass er die gar nicht brauche, so tief hätten seine Opfer geschlafen. Richter Christoph Kaufmann hält ihm vor, dass er den Einsatz eines bestimmten Schlafmittels in der polizeilichen Vernehmung noch bestritten habe. „Haben Sie also gelogen?“, fragt der Vorsitzende. „Ich habe Dinge beschönigt und weggelassen“, antwortet R. Jetzt aber wolle er alles im Sinne der Anklage korrigieren. „Das klingt alles ein wenig aalig“, entgegnet Kaufmann.

Talent, andere für sich einzunehmen

R. müht sich, die Widersprüche zwischen Selbstbild und Anklage, zwischen treusorgendem Babysitter, der die ihm anvertrauten Kinder ins Herz geschlossen, mit denen er gespielt, Schwimmbäder und Trampolinparks besucht habe, und missbrauchendem Täter aufzulösen. „Es ist schwer zu ertragen, ihm zuzuhören“, sagt Nebenklagevertreter Stephan Lucas in einer Prozesspause. R.s großes Talent sei es ja gerade immer gewesen, Menschen für sich einzunehmen. Genau das versuche er jetzt wieder.

R. beteuert, dass er nie einem Kind habe Schmerzen zufügen wollen. Und ob das dann auch wirklich Schmerzen gewesen seien, stehe für ihn nicht fest. Er habe bei einem Kind, dem er einen Katheter in die Harnröhre eingeführt hatte, zwar eine körperliche Reaktion festgestellt, nicht aber ein Krümmen vor Schmerzen, wie es in der Anklage dargestellt sei. Er sei froh, dass man sich in nichtöffentlicher Sitzung womöglich auch diesen Film gemeinsam anschauen werde und er die Sequenz dann genau erklären könne.

Es klingt fast so, als ginge es um eine strittige Abseitsszene aus einem Fußballspiel. Aber wie sei das denn bei dem Mädchen gewesen, das so sehr geweint habe? Im Netz habe er mit genau mit dieser Tat geprahlt, den Film sogar einem mutmaßlichen Mittäter gezeigt. Da habe er klar eine „rote Linie“ überschritten, sagt R. Er habe sich das Video später noch fünf oder sechs Mal angeschaut. Nicht etwa, um sich zu stimulieren, behauptet er, sondern vielmehr für eine Art der Aufarbeitung. Quälen sei nie sein Ziel gewesen, betont R. und sagt dann einen dieser Sätze, mit denen er seine Taten immer wieder fast banalisierend versachlicht. „Es hat nicht zu meiner Erregung beigetragen.“

Keil, um die Tür zum Tatzimmer zu verriegeln

14 Jahre lang soll R. laut Anklage Kinder missbraucht haben, von 2005 bis 2019. Ob er nicht Angst hatte, entdeckt zu werden, will der Richter wissen. Die habe er durchaus gehabt, sagt R. Zwei Mal sei er beinahe erwischt worden, weil die Eltern zu früh nach Hause kamen. Er habe neben seiner Kamera und anderen Utensilien immer auch einen Keil dabei gehabt, um die Tür zum Tatzimmer zu verriegeln. Eingesetzt aber habe er ihn nie. Zu verdächtig. Ob sich denn niemand gewundert habe, dass ein Babysitter, der zwischen acht und 15 Euro pro Stunde verlangt hatte, mit einem Audi-Sportwagen oder Tesla vorfährt, fragt Kaufmann.

Es habe ihn nie jemand darauf angesprochen, sagt R. Wie es denn sein könne, dass seine Taten im September 2019, mehr als zwei Jahre vor seiner Verhaftung, plötzlich endeten, fragt Nebenklagevertreter Lucas. Er habe sich mit dem Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ beschäftigt, dann sei es ihm gelungen, sein Verlangen zurückzudrängen, antwortet R. Auch wegen seiner privaten Situation.

Wie sich am Mittwoch herausstellt, hatte Marcus R. schon einmal wegen Missbrauchsdarstellungen mit der Polizei zu tun. Das war Ende der 1990er Jahre. Damals hatte er über seinen Uni-Account einschlägige Bilder verschickt. Die Polizei stellte Datenträger sicher. Die Angelegenheit wurde gegen eine Geldstrafe zu den Akten gelegt. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.

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