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Kommentar

Sanft statt Attacke
Was hinter dem neuen Ton des Kanzlers im Bundestag steckt

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3 min
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) spricht während der Generaldebatte zum Haushalt 2025 im Bundestag.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) spricht während der Generaldebatte zum Haushalt 2025 im Bundestag.

Bundeskanzler Merz setzt in der Diskussion über Reformen im Sozialsystem auf einmal weniger auf Haudrauf. Das ist der Debatte dienlich. 

Friedrich Merz zeigt sich dieser Tage gleich mehrfach von einer ungewohnt sanften Seite. Bei einer Rede in einer Synagoge in München am Montagabend kämpfte der Bundeskanzler mit den Tränen, als er über den Holocaust sprach. In der Generaldebatte des Bundestages betonte er nun plötzlich auffallend das Soziale im Land. Der CDU-Chef sprach dort von sozialer Gerechtigkeit und Stärke, von Zusammenhalt und Konsens.

Für den Mann, der sich in der Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates zuletzt vor allem mit schroffen Ansagen hervorgetan hatte, kommt das etwas unverhofft. In den vergangenen Wochen polterte Merz, dass Deutschland seit Jahren über seine Verhältnisse lebe, der Sozialstaat von heute nicht mehr finanzierbar sei und die Deutschen einfach mehr arbeiten müssten. Er preschte auch vor mit einer Fünf-Milliarden-Kürzungsvorgabe für das Bürgergeld. Mit alldem stieß er nicht nur viele Menschen im Land, sondern auch den Koalitionspartner vor den Kopf.

Friedrich Merz schlägt im Bundestag neue Töne an: An den Inhalten wird er sich messen lassen müssen

Im Parlament schwenkte er nun um auf eine neue Tonlage: zurückgenommener, weniger Haudrauf, mehr um Ausgleich bemüht. Das dürfte der Diskussion über die sozialen Sicherungssysteme im Land helfen. Merz‘ vorherige Ansagen hatten den Eindruck erweckt, als seien die Kosten für den Sozialstaat in Deutschland plötzlich explodiert und komplett außer Kontrolle geraten. Das ist so nicht richtig.

Die Sozialausgaben sind in den vergangenen Jahren insgesamt gestiegen, auch die Kosten des Bürgergeldes. Die Ausgaben des Bundes für den weitaus größeren Posten Rente sind in den vergangenen 20 Jahren relativ zum Bruttoinlandsprodukt allerdings gesunken. Das Thema ist komplex, und pauschale Ansagen sind oft verzerrend.

Merz‘ kürzliche Vorgabe, zehn Prozent beim Bürgergeld einzusparen, machte einige Experten ratlos. Sie halten das nicht für machbar. Die Forderung nach härteren Sanktionen für „Totalverweigerer” etwa - ein Thema, das die Union momentan sehr herausstellt - würde nach Einschätzung von Fachleuten nur zweistellige Millionenbeträge einsparen. Merz spricht von seiner Fünf-Milliarden-Sparforderung inzwischen selbst nicht mehr.

Reformen sind notwendig, ja. Aber Angstmacherei und Schuldzuweisungen sind kontraproduktiv bei dem Ziel, in der Gesellschaft Zustimmung für größere Umwälzungen zu schaffen. Und wer verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander ausspielt, dürfte vor allem der AfD assistieren. Es ist daher richtig, wenn der Kanzler seine Tonlage etwas runterdimmt. Eine Versachlichung der Debatte ist dringend nötig. Und es dürfte auch die Zusammenarbeit in der Koalition erleichtern.

Gemessen wird Merz aber nicht an Worten, sondern an Taten. Der Kanzler hat einen „Herbst der Reformen“ ausgerufen. Was dabei herauskommen wird, ist aber noch offen. Beim Thema Rente jedenfalls sind vorerst nur kleinere Vorhaben geplant. Die großen Fragen sind ausgelagert in eine Kommission, die erst zur Mitte der Legislaturperiode Ergebnisse vorlegen soll. Ob dann noch etwas umgesetzt wird, ist offen.

Und beim Bürgergeld wird es sehr auf die genaue Ausgestaltung ankommen, ob die Reform große Effekte haben und zum sozialen Frieden im Land beitragen wird. Jenseits der Frage, wer in Deutschland wieviel Steuern zahlen sollte, gibt es bei Gerechtigkeit generell noch viel zu tun, solange in einem reichen Land wie Deutschland jedes siebte Kind und etwa jeder fünfte Rentner armutsgefährdet sind. Und die Opposition fragt den Kanzler nicht zu Unrecht, was genau er sich unter Gerechtigkeit vorstellt.