Köln – „Das Adrenalin, das der Anblick des grün-weiß-lackierten Fahrzeugs in ihm freigesetzt hatte, raste in Millisekunden durch die labyrinthischen Windungen seines Innern und krachte wie eine abgeschossene Flipperkugel mit einer solchen Heftigkeit wieder und wieder gegen seine körpereigenen Bumper und Zielscheiben, dass er, der Flipperkönig von Gladbeck-Ellenhorst, einen Moment lang glaubte, einen Tilt verursachen und aufstecken zu müssen, um nicht komplett zu überdrehen.“
So beschreibt Autor Peter Henning den Augenblick, in dem Hans-Jürgen Rösner am 16. August 1988 ein Polizeiauto durch das Fenster der Deutschen Bank in Gladbeck sieht, die er und sein Freund Dieter Degowski gerade ausrauben wollen – und der Horror nimmt seinen Lauf. Vor dem 25. Jahrestag des Gladbecker Geiseldramas erscheint nach diversen TV-Dokumentationen, Titelgeschichten, nach Rapper-Reimen und Popsongs nun auch noch ein Roman, der sich dem Albtraum widmet.
Für seinen 600-Seiten-Wälzer „Ein deutscher Sommer“ hat Henning die beiden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilten Geiselgangster allerdings nicht befragen können. Das NRW-Justizministerium hat Rösner und Degowski gleich nach der Verurteilung Interviews im Knast untersagt. Zwei Mitglieder des Einsatzkommandos der Polizei, die sich im Strafprozess vor dem Landgericht Essen auf ihr Aussageverweigerungsrecht beriefen, bieten aber im Buch ungewöhnliche Einblicke in das Geschehen, über das die Polizei die Akten immer noch geschlossen hält.
Was am Vormittag des 16. August 1988 als – fast alltäglicher – Überfall auf eine Bankfiliale beginnt, eskaliert in den folgenden 54 Stunden zu einer Irrfahrt skrupelloser Gangster über Landes- und Bundesgrenzen, die Polizisten und Politiker zum Gespött des Publikums machen. Drei Tage lang sind Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer fast immer live dabei, als Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, zwei mehrfach vorbestrafte Kleinkriminelle, eine Bank ausrauben, Geiseln nehmen, noch in der Bank am Telefon erste Interviews geben, um die Journalisten sie devot bitten: „Ist einer der Herren Räuber zu sprechen?“
Das Publikum erfährt, wie die beiden den Polizeipsychologen verhöhnen, sehen, wie sie zu einem Horrortrip starten, die Freundin Rösners, Marion Löblich abholen, in Bremen einen Linienbus kapern, wahllos Unschuldige in Todesangst versetzen, den 15 Jahre alten Schüler Emanuele di Giorgi als Geisel töten und – unbehelligt von der Polizei – in Bremen und später in der Kölner Innenstadt auf Fragen von Journalisten antworten, bevor ein SEK auf der Autobahn bei Bad Honnef dem Treiben ein Ende setzt. Die 18 Jahre alte Geisel Silke Bischoff wird dabei von einer Kugel aus der Pistole von Rösner getötet.
Bis zu diesem Zeitpunkt bestimmen die Geiselgangster das Geschehen und überlassen der Polizei die Rolle eines scheinbar hilflosen Beobachters. Strafverfahren gegen Polizeiführer in Gladbeck und Köln führen ins Leere, weil jene „ihre Schutzpflichten gegenüber den Geiseln und der Allgemeinheit nicht verletzt“ hätten. Einige Journalisten spielen James Bond, riskieren ihr Leben und handeln sich Ermittlungsverfahren ein, die aber alle nach einer gewissen Schamfrist eingestellt werden.
Zwei Reporter pfuschen der Polizei ins Handwerk. Als der Fotograf Peter M. in Bremen helfen will, das Drama zu beenden, stimmt er zu, dass ein Peilsender in sein Auto eingebaut wird, das er Rösner als Fluchtfahrzeug angeboten hat. Doch dann ruft ein Journalist dem Gangster zu, die Polizei habe im Wagen etwas versteckt. Rösner entscheidet sich für die Weiterfahrt im Bus.
Rudolf Esders hat damals als Vorsitzender der Essener Strafkammer vergeblich versucht, den Denunzianten zu identifizieren: „Er hat anscheinend aus Neid gehandelt. Sein Verhalten hat nicht nur das Leid der Geiseln im Bus verlängert, sondern auch später den Tod von Emanuele di Giorgi und Silke Bischoff zur Folge gehabt.“
In Köln, wo die Polizei versucht, die um den BMW stehenden Zuschauer durch Beamte in Zivil zu ersetzen, scheitert der Zugriff auch an Reaktionen von Journalisten. Laut fragen sie: „Wie? Polizei? Zeigen Sie mal Ihren Dienstausweis!“ Das Signal zum Aufbruch löst die Frage eines Reporters an Rösner aus: „In der nächsten Straße ist ein Notarztwagen aufgefahren. Weißt du, was das bedeutet?“
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bremen und Düsseldorf, Kriminalbeamte und Psychologen haben monatelang untersucht, warum sich ein Alltagsdelikt von Provinz-Ganoven zur längsten und fatalsten Geiselnahme der Republik entwickeln konnte. Der Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des NRW-Landtags liest sich passagenweise wie eine Offenbarung der Inkompetenz und des Kompetenz-Gerangels – immer schön an der Landesgrenze entlang. Dennoch sieht die SPD, die damals in NRW regiert, im Abschlussbericht keinerlei Fehlverhalten der Polizei und ihres damaligen Innenministers Herbert Schnoor.
Erst jetzt, 25 Jahre danach, gießt unerwartet der frühere Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landtag, Friedhelm Farthmann, Öl ins Feuer – und bestätigt die Kritik von Ex-SEK-Führer Kesting. In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ („FAS“) spricht Farthmann von einem „ganz schlimmen Staatsversagen von A bis Z“. Trotz guter Zugriffsmöglichkeiten habe die Polizei auf eine „weiche“ Taktik des angeblichen „Nullrisikos“ für die Geiseln gesetzt. Schnoor hingegen teilt der „FAS“ schriftlich mit, sich nicht mehr zum Thema Gladbeck zu äußern: „Die Angehörigen der Opfer von damals haben ein Recht darauf, endlich zur Ruhe zu kommen. Seien Sie versichert, dass mich die schrecklichen Ereignisse von damals noch immer sehr belasten.“
In Bremen tritt Innensenator Bernd Meyer zurück, weil sich die gröbsten Fehler der Polizei nicht vertuschen lassen: Mindestens zweimal haben Beamte versäumt, die beiden ersten Geiseln, zwei Bankangestellte, ohne Blutvergießen zu befreien. Die Rekonstruktion der Ereignisse (bevor Rösner und Degowski einen ganzen Bus terrorisieren) in den Untersuchungsprotokollen ergibt ein vernichtendes Bild. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Bremer Polizei nur auf den Abzug der Gangster aus dem Stadtgebiet zu warten schien.
Auf 30 000 Schreibmaschinen-seiten ist praktisch jede Minute des Dramas festgehalten, Hunderte von Aktenordnern belegen die verhängnisvollen Ereignisse, die Fahndungsaktionen und Pannen, 81 Seiten umfasst die Anklageschrift, als am 2. August 1989 der Prozess gegen Rösner, Degowski und Löblich eröffnet wird. Nach 109 Verhandlungstagen wird erst 19 Monate später das Urteil gesprochen: Lebenslang und anschließende Sicherungsverwahrung für Rösner, lebenslang für Degowski, neun Jahre Haft für Marion Löblich.
In dem auf 248 Seiten dokumentierten Urteil sind noch einmal alle Phasen der Irrfahrt nachzulesen, in dem auch die Gründe für die Eskalation der Ereignisse offengelegt werden: Die starke Medienorientierung der Täter, die von vielen Journalisten schamlos ausgebeutet wird, und die Fehleinschätzungen der Polizei. Das Zusammengehörigkeitgefühl des Trios ist durch die Tat ins Unermessliche gesteigert worden. Die drei, die zuvor zusammen Alkohol, Drogen und Sex genossen hatten, teilen bis zum bitteren Ende die Illusion, man könne alles glücklich gemeinsam bewältigen. Die Mitwirkung der Medien hat zur Mobilisierung äußerster Reserven beigetragen.
Die Lehren aus Gladbeck haben Polizei und der deutsche Presserat gezogen. Der geänderte Kodex beim Deutschen Presserat verbietet Interviews während des Tatgeschehens und droht für den Fall der Übertretung eine Rüge an. Eine Bewährungsprobe dieser Maßnahme steht freilich noch aus.