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Masken, Lockdowns, SchulschließungenWas haben die Corona-Maßnahmen gebracht?

Lesezeit 7 Minuten
Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Schülerinnen und Schüler weltweit während der Pandemie 35 Prozent des normalen Lernfortschritts verloren haben.

Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Schülerinnen und Schüler weltweit während der Pandemie 35 Prozent des normalen Lernfortschritts verloren haben.

Viele Maßnahmen sollten während der Corona-Pandemie die Zahl der Infektionen senken. Welchen Effekt hatten sie?

Deutschland lässt die Pandemie hinter sich. Die Maskenpflicht im Fernverkehr – eines der letzten großen Symbole – ist ab dem 2. Februar erst mal Geschichte. Damit enden auch drei Jahre, die wieder und wieder von der immer gleichen Frage bestimmt waren: Welche Maßnahme ist wann nötig? Sollten die Schulen lieber schließen? Die Geschäfte wieder öffnen? Ist es wirklich besser, wenn alle FFP2-Masken tragen?

So endlos, so ermüdend waren diese Diskussionen, dass viele Menschen heute eher abwinken: Jetzt noch einen Gedanken an Lockdown und die 2G/2G+/3G-Diskussion verschwenden? Nein, danke. Die Virologen und Virologinnen sind aus den Talkshows verschwunden. Keine Nachrichtensendung mehr, die mit Infektionszahlen beginnt.

Welchen Effekt hatte das, was wir getan haben – und warum?

Für Viola Priesemann gilt das nicht. Auch wenn sie vielleicht nicht mehr bei „Markus Lanz“ darüber spricht, was in den vergangenen drei Jahren passiert ist, wird es sie noch lange beschäftigen. „Die Forschung fängt zum Teil erst jetzt richtig an“, sagt die Physikerin vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. So wie zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt werden auch sie und ihr Team die nächsten Jahre damit verbringen, Daten auszuwerten, Studien zu schreiben und so zu versuchen, immer bessere Antworten auf eine der größten Fragen der Pandemie zu geben: Welchen Effekt hatte das, was wir getan haben – und warum?

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Eigentlich sollte das – so zumindest die Erwartung vieler – schon seit vergangenem Sommer geklärt sein. „Hat all das überhaupt gewirkt?“, lautete die Frage, die der Evaluationsbericht des Sachverständigenrats ihnen beantworten sollte. „All das“ waren Masken, waren 2G-Regeln, Schulschließungen oder auch einfach „der Lockdown“. Doch die Antworten, die der Ausschuss gab, waren alles andere als eindeutig. Die genaue Wirkung der Schulschließung sei „weiterhin offen“; die der Masken „nicht abschließend zu beurteilen“ und die vorliegenden Lockdown-Studien ließen auch „kein abschließendes Urteil (...) zu“. Eine klare Ansage, gar ein „Corona-Zeugnis“, das sich manche erhofften und andere trotzdem zusammenreimten, sieht anders aus.

Es bei der nächsten Pandemie besser machen

Dabei ist die Frage richtig. Die Maßnahmen haben der Gesellschaft extrem viel abverlangt. Sie haben Missstände sichtbar gemacht, teils auch verschlimmert, etwa bei der Bildung. So kommt beispielsweise eine aktuelle Studie zu dem Ergebnis, dass Schülerinnen und Schüler weltweit während der Pandemie 35 Prozent des normalen Lernfortschritts verloren haben. Kommt die nächste Pandemie, will und muss man es besser machen. Und dafür scheint es erst mal entscheidend, herauszufinden, was welche Maßnahmen – oder der Verzicht auf sie – gebracht haben. Nur wie?

„Die EM hat sich auf dem Silbertablett präsentiert“, sagt Physikerin Priesemann. Denn hier kam zusammen, was sonst im Laufe der Pandemie selten war: Fast ideale Voraussetzungen, die es tatsächlich erlauben, die Auswirkungen eines Ereignisses auf das Infektionsgeschehen zu untersuchen. Bei der EM im Sommer 2021 wurden die jeweiligen Spiele zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Ländern zu Hause, in der Gruppe oder in der Kneipe verfolgt – und zwar im Schnitt deutlich häufiger von Männern als Frauen.

Gerade Letzteres sei entscheidend, erklärt Priesemann. Denn sonst haben sich in der Pandemie Männer und Frauen ungefähr gleich häufig infiziert. Während der EM aber infizierten sich – vereinfacht gesagt – mehr Männer. Das alles machte es den Forschenden möglich, zu schätzen: Die EM hat in den zwölf untersuchten Ländern für rund 840.000 Infektionen gesorgt. Dieses Wissen kann bei der nächsten Pandemie hilfreich sein. Wenn man zum Beispiel vor der Entscheidung steht, ein Großereignis abzusagen oder nicht.

Zahlreiche Studien zeigen Effekt der Maßnahmen

Tatsächlich sind zum Effekt dieser sogenannten nicht pharmazeutischen Maßnahmen inzwischen zahlreiche Studien aus unterschiedlichen Ländern und Pandemiephasen erschienen. Viele von ihnen zeigen eine statistisch nachweisbare Wirkung der Maßnahmen. Dafür sprechen auch Physik und Biologie. Sars-CoV-2 wird über Tröpfchen und Aerosoloe übertragen. Wenn sich immer mehr Menschen mit immer weniger Menschen treffen, dann hat das Virus schlicht und einfach weniger Möglichkeiten, mehr Menschen zu infizieren.

Der Effekt, den diese Studien messen, ist mal mehr, mal weniger groß – und oft abhängig vom Kontext. Genau zu beurteilen, welche Maßnahme in welchem Land exakt welchen Effekt auf Todeszahlen, R-Wert, Infektionsgeschehen hatte, ist schwer möglich. Den typischen Wert oder Trend könne man jedoch ganz gut abschätzen, sagt Priesemann, die das alles ein „wissenschaftliches Puzzlespiel“ nennt.

Eine Schwierigkeit, wenn es ins Detail geht, liegt zum Beispiel darin, dass keine Maßnahme alleine in Kraft war. Wenn dann der R-Wert sinkt, kann man schwer sagen, zu welchem Anteil das nun eher an den geschlossenen Schulen oder an der Maskenpflicht in der Bahn lag. Es liegt aber auch daran, dass viele Daten, die es für solche Studien bräuchte, erst gar nicht erhoben wurden. „Wir werden große Lücken im Verständnis der Pandemie hinnehmen müssen“, sagt Kai Nagel, Physiker an der TU-Berlin. Mit rein gemeldeten Infektionszahlen, unvollständig erfasst und aufgeschlüsselt bloß nach Alter und Geschlecht, lässt sich nur begrenzt viel anfangen. Besser wäre es zum Beispiel gewesen, ganze Landkreise systematisch zu untersuchen. Den Bewohnerinnen und Bewohnern Blut abzunehmen, zu verstehen, mit wem sie wann wo Kontakt hatten.

Die beste Maßnahme nutzt nichts, wenn sich niemand daran hält

Aber vielleicht ist die Frage nach dem Effekt der Maßnahmen auch verkürzt. „Der Erkenntnisgewinn ist größer, wenn man die Frage nach den Maßnahmen aufteilt“, sagt Nagel. „Erstens: Wie gut wurden die Maßnahmen befolgt? Und erst zweitens: Wenn sie befolgt worden wären, was hätte das gebracht?“ Die besten Maßnahmen nutzen schließlich nichts, wenn sie nur auf dem Papier gelten. Und umgekehrt braucht es manchmal keine strengen Maßnahmen, damit Menschen ihr Verhalten ändern. Selbst ihre Ankündigung, das Gefühl einer Bedrohung oder auch Pandemiemüdigkeit, können schon eine Wirkung haben.

Das war auch in Deutschland so. Ganz am Anfang der Pandemie war die Bevölkerung der Politik zum Beispiel voraus. „Die sogenannten außerhäusigen Aktivitäten sind zu dem Zeitpunkt sehr, sehr stark nach unten gegangen – noch bevor sich die Politik dazu geäußert hatte“, sagt Nagel. Im darauffolgenden Winter war es dann umgekehrt: Nach dem Lockdown light kam der politisch verordnete harte Lockdown – „die außerhäusigen Aktivitäten sind aber zunächst nach oben gegangen“. Vielleicht, so vermutet der Physiker, weil die Menschen noch ihre Weihnachtsgeschenke kaufen wollten.

Der Spielraum ist klein

Der Schluss liegt nahe, ist aber eine Interpretation. Wahrscheinlich ist es ein Zusammenspiel aus individuellem Risikobewusstsein, offizieller Kommunikation, Maßnahmen, Infektionsgeschehen und anderen Faktoren, das Menschen dazu bewegt, ihr Verhalten in verschiedenen Situationen zu ändern. „Wir wissen es aber nicht sicher“, sagt Nagel. Es herauszufinden wird ihn und sein Team auch dann noch beschäftigen, wenn Masken, Warnschilder und Abstandsaufkleber längst aus dem Alltag verschwunden sind.

Misst man den Effekt der Maßnahmen an den Infektionszahlen, lässt sich sagen: Die größte Verbreitung fand innerhalb der Haushalte statt. Da, wo man Infektionen am wenigsten verhindern kann. Für den Rest bleibt dann nicht mehr viel Spielraum. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die lange Schließung von Schulen und Kitas kürzlich als Fehler bezeichnet. Man hätte – rückblickend mit dem Wissen, wie sich Corona von Influenza unterscheidet – vielleicht einen etwas anderen Maßnahmenkorb wählen können, sagt auch Nagel. „Bei dem man die Schulen mit Maskenpflicht und Wechselunterricht offen gelassen, dafür aber in anderen Bereichen – insbesondere der Arbeit – viel schneller mehr hätte machen müssen.“ Ein Nullsummenspiel, das bei neuem Erreger und einer neuen Pandemie wieder von vorne gespielt werden muss.

Es ging nie nur um Infektionszahlen

In drei Jahren Pandemie ging es jedoch nie ausschließlich um die Infektionszahlen. Deswegen ist die Frage nach dem Effekt der Maßnahmen so zermürbend. Deswegen sind abwägende Antworten so frustrierend. Und deswegen sind konkrete Zahlen so verlockend. Weil sie vermeintlich eine Kosten-Nutzen-Rechnung erlauben. Weil es dabei eigentlich nicht nur um die Frage geht, was die Maßnahmen gebracht haben, sondern auch, ob sie es wert waren. Sind 840.000 Infektionen ein Preis, den wir für eine Fußball-EM zu zahlen bereit sind? Was ist uns das Leben von Seniorinnen und Senioren wert? Was die Bildung von Kindern? Was geöffnete Büros ohne Maskenpflicht?

Eine Antwort darauf werden wir, egal wie viel wir in den nächsten Jahren noch erforschen, modellieren und berechnen, nie erhalten. Es werde „nie eine weitreichende Einigung darüber geben, ob Lockdowns (...) es wert waren“, schreiben Politikwissenschaflter von der University of Washington schon im Sommer 2021. „Daten können der Gesellschaft nur einige der Antworten geben. Den Rest müssen wir selbst entscheiden.“

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