Kölner Schulpsychologen schlagen Alarm„Es gibt Schüler, die sind komplett abgetaucht“

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Sozialarbeiter Alexander Bürgerhoff an der Gesamtschule Holweide, die aktuell eher eine Geisterschule ist.

Köln – Ein Schild verbietet Ballspiele an einer schmutzig grauen Betonwand, vor der man auch sonst vermutlich nicht gerne Ball spielen würde. In diesen Tagen aber schaut dort niemand hin, genauso wenig wie auf die Graffiti, mit denen die Gesamtschule Holweide besprüht ist. Eine Geisterschule. Sozialarbeiter Alex Bürgerhoff läuft durch leere Gänge, nur wenige Schüler grüßen ihn, sie sind zur Notbetreuung hier.

„Jetzt kommen Probleme auf mich zu wie die Frage, wo einzelne Schüler sind – es gibt welche, die sind komplett abgetaucht. Morgens, bevor ich in die Schule komme, fahre ich herum und klingele bei den Familien, was manchmal sehr wirksam ist – manchmal macht auch niemand auf“, sagt Bürgerhoff über seine Arbeit im sogenannten Pandemiebetrieb; er geht auf die Suche nach Schülern, vier bis fünf pro Klasse oder Kurs, die nicht am digitalen Distanzunterricht teilnehmen.

„Und dann gibt es die Fälle, wo es zu Hause knallt. Vergangene Woche habe ich bei einer Familie geklingelt, die mit sechs Kindern in zweieinhalb Zimmern wohnt. Das kann nicht funktionieren.“

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Keine Ausweichmöglichkeit

Die Mutter wolle die Kinder nicht in die Notbetreuung schicken, weil eines eine Vorerkrankung hat – das Risiko sei ihr zu groß. Es gibt auch keine Ausweichmöglichkeiten in der Freizeit, es ist ja alles geschlossen. „Was wir machen können, wenn die Fehlzeiten zu krass sind und die Eltern nicht kooperieren, ist, den Fall dem Jugendamt zu übergeben“, sagt Bürgerhoff. Vermutete Kindeswohlgefährdung – eine solche Meldung habe er zu normalen Zeiten vielleicht vier Mal im Schuljahr machen müssen; Anfang Januar dann alle zwei Tage, aktuell geschieht das im Schnitt einmal pro Woche, immer noch.

Die Corona-Krise hat gravierende Auswirkungen auf Schülerinnen und Schüler. In der vergangenen Woche schreckten die Ergebnisse der Hamburger Copsy (Corona und Psyche)-Studie die Öffentlichkeit auf – fast jedes dritte Kind leide knapp ein Jahr nach Beginn der Pandemie in Deutschland an psychischen Auffälligkeiten. In einem Offenen Brief an die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Yvonne Gebauer ruft auch der Landesverband Schulpsychologie NRW dazu auf, dringend mehr Aufmerksamkeit auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu verwenden: „Es öffnen sich Türen in die Familien hinein, die sich sonst nicht öffnen.

Es wird deutlich, wie belastet auch solche Familien sind, die dies zu normalen Zeiten so nicht kennen. Die Normalität hat sich verschoben, wodurch auch bisher intakte Familien unter Druck geraten und unter Umständen sogar leicht dysfunktional geworden sind“, sagt Uwe Sonneborn, gemeinsam mit Annette Greiner tätig im Verbandsvorstand, im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

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„Ich teile die Befürchtung vieler Kinder- und Schulpsychologen, dass man diese Situation schwer auffangen kann“, sagt der Kölner SPD-Bildungsexperte Jochen Ott. „Insofern plädiere ich für eine konsequente Kleingruppenstrategie, um es zu versuchen.“ In der kommenden Woche werden die Schulen schrittweise öffnen, die Schülerinnen und Schüler werden weiterhin einen großen Teil des Unterrichts zu Hause vom Computer, Laptop oder auch vom Handy aus bewältigen müssen, doch kehren sie gruppen - und tageweise auch wieder in die Klassenräume zurück.

Bloß, so Ott, besteht die große Gefahr, „ dass die Öffnung sehr rasch wieder zurückgenommen wird, wenn entsprechende Testergebnisse, insbesondere mit den Mutationen, vorliegen und Schüler sich in Quarantäne begeben müssen“.

Die große Leere

Die große Leere im Pandemiebetrieb erfährt Alex Bürgerhoff besonders dort schmerzhaft, wo im offenen Ganztag zu normalen Zeiten geschieht, was Spaß macht – „das ist frustrierend: die Freizeitangebote, bei denen man mit den Kindern jenseits jeglichen Problematisierens zusammenkommt. Man lernt sich kennen, spielt miteinander, arbeitet zum Beispiel in unserem Weltladen zusammen“. Dort werden sonst fair gehandelte Produkte verkauft – selbst gebaute Regale, Verkaufstheke und Sitzecke sind aber gerade ebenso verwaist wie die Teestube nebenan, wo die Gesamtschüler ihre Pausen verbringen. Pause ist ein Wort, das irgendwie schlecht zur Corona-Krise passt.

Drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen definiert Schulpsychologin Annette Greiner, die ihr gerade Sorgen bereiten: Die eine driftet ins Virtuelle ab, „wozu auch Computerspielsucht gehört. Es ist schwierig, solche Kinder und Jugendliche überhaupt wieder an Strukturen und Bildung heranzuführen“. Dann gibt es eine weitere Gruppe von emotional ohnehin nicht stabilen Kindern und Jugendlichen, die auf sich selbst zurückgeworfen sind. „Diese Gruppe erfährt nun den Halt nicht mehr, für den Schule immer ein wichtiger Faktor ist. Es fehlen sie Tagesstruktur wie auch die Zuwendung durch andere Mitschüler oder die Sozialarbeit und die Lehrkräfte – da kommt es zu Angst, Depressionen“, sagt Greiner.

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Und die dritte Gruppe: das ist der große Rest, alle anderen, die „Jugend in der Breite“, wie Greiner sagt, für die gerade wegbricht, was sie für eine gesunde Entwicklung braucht – „soziale Kontakte, die Spiegelung durch Gleichaltrige, sich in seinen Fähigkeiten erleben, auch außerhalb von Schule in der Freizeit, zum Beispiel im Sportverein. Nicht für jeden Jugendlichen liegt die Quelle der Bestätigung in der schulischen Leistung“.

Für jeden Schüler aber stellt die aktuelle Situation eine Belastung dar, so Jochen Ott, gerade auch der Unterricht aus der Ferne. „In den Schulen, in denen der Digitalunterricht läuft, sind die Schüler extrem gefordert. Weil sie mehr arbeiten als bei Anwesenheit in der Schule: Da hält man mal ein Schwätzchen, macht Witze mit dem Lehrer, oder man tauscht sich über Dinge aus, die man aus den Medien erfahren hat – in der Schule gibt es also auch immer mal wieder ruhigere Phasen.“ Im konsequenten Digitalunterricht aber wird der Stoff über 45 Minuten hinweg abgefeuert, es gibt Aufgabenzettel, kurzum, so Ott, „es wird oft noch nicht das rechte Maß gefunden“.

Die Schere geht weiter auseinander

Mit der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland ist es ohnehin schon so eine Sache, weiß Alex Bürgerhoff, der Sozialarbeiter in der Gesamtschule Holweide, durch Corona aber werde die Schere noch einmal weiter auseinandergehen: Kinder, die zu Hause Unterstützung bekommen, werden diejenigen abhängen, denen die Hilfe fehlt. „Im Grunde müsste man die Jahrgänge neu mischen, wenn es wieder losgeht. Aber es ist ja überhaupt nicht realisierbar, 30 von 250 Schülern in einem Jahrgang freiwillig wiederholen zu lassen, dann hätte der Jahrgang darunter eine Klasse mehr – ausgeschlossen!“

Wie geht es weiter, wenn die Schulen wieder öffnen, oder gar nach der Pandemie, auch wenn man sich ihr Ende noch kaum vorstellen kann – mit Prüfungen, mit Wiederholungen, mit der Gerechtigkeit? Wenn die Diskussionen über die Zukunft der Bildung nun beginnen, dürfe man die gewonnenen Erfahrungen nicht vergessen, mahnen die Schulpsychologen Greiner und Sonneborn. Und der Politiker Ott stimmt zu: „Wir müssen auch wissenschaftlich auswerten, was in der Zeit der Pandemie eigentlich passiert ist, gerade auch im Hinblick auf pädagogische und psychologische Folgen für alle Betroffenen – nicht zuletzt, um für zukünftige Fälle gewappnet zu sein.“

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