Multiple SkleroseTäglicher Kampf um Selbstständigkeit

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Selbstständig Hindernisse auch im Rollstuhl zu überwinden hat Horst Vierkötter mit der Zeit gelernt. Heute zeigt er anderen Betroffenen wie es geht.

Selbstständig Hindernisse auch im Rollstuhl zu überwinden hat Horst Vierkötter mit der Zeit gelernt. Heute zeigt er anderen Betroffenen wie es geht.

Leverkusen – Die Diagnose ist für Horst Vierkötter ein Schock: Multiple Sklerose. Eine unheilbare Krankheit, die Entzündungen im zentralen Nervensystem verursacht und zu schweren Behinderungen führen kann. Vierkötter, ehemaliger Betreiber des Mutter-und-Kind-Ladens in Opladen, verdrängt die Diagnose. Er lässt sich nicht behandeln; stattdessen überspielt er die etwa alle vier Wochen auftretenden Beschwerden. Zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 1989, ist Vierkötter 28 Jahre alt. Um Probleme mit dem Mutter- und-Kind-Laden zu vermeiden, vertuscht er die Krankheit. Jahrelang. Zunächst hat er damit Erfolg – die Beschwerden beschränken sich auf ein Bein, welches er ab und zu nachzieht. Mit der Zeit jedoch häufen sich die Anfälle: Sehbeschwerden, Entzündungen und Gleichgewichtsstörungen treten auf.

Als Gehhilfe dient ihm ein Regenschirm – der ist unauffälliger als ein Stock. Es fällt ihm zusehends schwerer, die Krankheit zu überspielen. 1999 dann ändert sich alles: Innerhalb eines Jahres erleidet Vierkötter elf heftige Anfälle, die sein Nervensystem dauerhaft schädigen. „Ich konnte die Krankheit nicht länger leugnen“, erzählt er. „Ich musste mich dringend in ärztliche Behandlung begeben.“ Die nächsten Jahre werden nicht einfach. 2001 muss Vierkötter in die Reha. Dort hat er Zeit, über alles nachzudenken – die Krankheit, das Leben, den Tod, sein Geschäft, die Zukunft. Er fasst den Entschluss, den Mutter-und-Kind-Laden zu schließen. „Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Schließlich handelte es sich um ein fast 50 Jahre altes Familienunternehmen“, sagt Vierkötter.

Anders als viele Betroffene ist er erleichtert, als er den Rollstuhl bekommt. „Die meisten Leute, die plötzlich im Rollstuhl sitzen müssen, denken: »Jetzt ist es aus«. Ich hab’ ihn als eine Chance begriffen, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen und selbstständiger zu sein“, erinnert er sich. „Es fiel mir viel leichter, mich fortzubewegen. So blieb mehr Kraft für andere Dinge.“ Statt sich zurück zu ziehen, beginnt er, sich mit seiner Krankheit auseinander zu setzen und versucht, so viel wie möglich selbstständig zu tun. Das ist sehr wichtig bei Multipler Sklerose, da der Körper Bewegungen und Abläufe schnell verlernt. „Man muss seine Fähigkeiten trainieren, um sie zu erhalten. Ich falte zum Beispiel viele Origami, das trainiert die Beweglichkeit der Hände, Motorik und Koordination“, erklärt Vierkötter. „Trotzdem muss man jeden Tag bei Null beginnen.“

Der Körper eines an Multipler Sklerose Erkrankten „vergisst“ über Nacht. Konnte man sich am Vortag noch problemlos die Zähne putzen, muss man es sich am nächsten Morgen wieder mühevoll beibringen. Vierkötter geht es selbst so: „Wenn mir die Koordination sehr schwer fällt, binde ich mir einfach die Zahnbürste an der Hand fest. Auch wenn es Zeit und Mühe kostet, die Selbstständigkeit ist es wert.“ Doch Selbstständigkeit bedeutet nicht, dass man mit seiner Erkrankung allein fertig werden muss. Vierkötter engagiert sich in der Ortsvereinigung Leverkusen des gemeinnützigen Vereins der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Betroffene und Angehörige kommen hier zusammen, um sich gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, gemeinsame Freizeitaktivitäten zu planen oder sich kreativ zu betätigen.Vierkötter, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Vereins, ist heute als Beisitzer im Vorstand aktiv. Er pflegt viele Kontakte nach außen, unter Anderem zu zahlreichen Selbsthilfegruppen.

Die Idee hinter dem Verein beschreibt er so: „Wir wollen ein Bewusstsein für Multiple Sklerose in der Gesellschaft schaffen. Viele Menschen haben noch immer Berührungsängste, was Behinderte betrifft. Die wollen wir ihnen nehmen.“ Hier setzen Informationsveranstaltungen und Gruppenaktivitäten an. Dazu zählen auch Einzelgespräche, Sportangebote und Schulungen, wie zum Beispiel ein Rollstuhlfahrkurs, den Vierkötter abhält. Er appelliert eindringlich an alle Betroffenen, sich an den Verein zu wenden und offen mit Multipler Sklerose umzugehen. Vielen falle dies schwer, hauptsächlich aufgrund von mangelnder Akzeptanz im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz. Mobbing sei keine Seltenheit, Partnerschaften halten der neuen Herausforderung häufig nicht stand.

Selten verbessert sich der Zustand der Betroffenen. Medikamente können helfen, Anfällen und Entzündungen vorzubeugen und die Krankheit aufzuhalten. „Da man mit den Medikamenten keine entstandenen Schäden rückgängig machen kann, ist es sehr wichtig, möglichst früh mit der Behandlung zu beginnen. Hätte ich das getan, würde es mir heute vermutlich bessergehen“, sagt Vierkötter. In wenigen Fällen heilt sich der Körper selbst. Der Vorgang nennt sich Remyelinisierung; dabei stellt sich die sogenannte Myelinscheide, die Isolierschicht der Nervenfasern, wieder her und elektrische Impulse aus dem Gehirn können weitergeleitet werden. So funktioniert dann zum Beispiel eine gelähmte Hand wieder, oder Sehstörungen verschwinden. „Das ist leider sehr selten. Natürlich hofft jeder Betroffene darauf; meine Lebensgefährtin hatte das Glück. Früher saß sie im Rollstuhl, heute kann sie wieder gehen“, berichtet Vierkötter.

Durch seine Krankheit hat er den Wert des Lebens neu zu schätzen gelernt: „Ich genieße im Gegensatz zu früher viel mehr, reise viel und treffe Menschen.“ In seiner Freizeit schnorchelt er, außerdem tanzt er gern – Foxtrott und andere Standardtänze lassen sich auch im Rollstuhl tanzen. Kurse werden unter anderem von der Tanzschule Kaechele in Opladen angeboten. Für die Zukunft wünscht er sich, dass sich die Gesellschaft gegenüber Behinderten mehr öffnet und diese im Gegenzug auch bereit sind, Hilfe anzunehmen und aufeinander zuzugehen. Darüber hinaus sei es wichtig, dass Betroffene lernen, ihre Krankheit zu akzeptieren und sich wieder neu in ihr Leben einfinden. Vierkötter kann nur jedem raten, sich an den Verein zu wenden. „Wir konnten bereits vielen Menschen bei den unterschiedlichsten Problemen helfen. Niemand soll mit seiner Krankheit allein sein müssen.“

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