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100 Jahre GiftkippeWarum es so viel Giftmüll in Leverkusen gibt

Lesezeit 6 Minuten
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Mit dem so genannten „Kipp-Bähnchen“ wurde in den ersten Jahrzehnten nach 1922 die Wiesdorfer Dhünnaue angeschüttet.

  • Wie ist in Leverkusen Europas wohl größter Müllberg entstanden, an dem im Juli 2021 ein Tanklager explodierte und sieben Menschen starben?
  • Autor Ralf Krieger ist dieser Frage bereits 2016 nachgegangen. Das ist seine Recherche.

Heutige Kommunikationsprofis würden der Bevölkerung entsprechende Pläne vielleicht als „Win-win-Situation“ verkaufen: Die Geschichte des wahrscheinlich größten Giftmüllbergs Europas begann mit einem Grundstücksgeschäft zwischen der Stadtgemeinde Wiesdorf und den Farbenfabriken (FF). Weil die Stadt um 1920 einen Sportplatz anlegen wollte, mussten Grundstücke getauscht werden.

Die Farbenfabriken lieferten das Material für den Damm

Als Gegenleistung gestattete die Stadt der Fabrik, die Niederung zwischen Haupt- und Niederfeldstraße und dem Rheindamm mit ihren Abfällen anzuschütten. Der Sportplatz läge heute zwischen Tor 8 und der Wacht am Rhein.

Die Wiesdorfer Verwaltung hatte außerdem auch noch ein anderes drängenderes Problem: Wegen eines üblen Rheinhochwassers im Januar 1920 sollte endlich die Verlängerung und Verstärkung des Hochwasserdamms nördlich der Hauptstraße in Angriff genommen werden. Dafür sollten die Farbenfabriken, die zu der Zeit bereits seit fast 60 Jahren in Wiesdorf produzierten, irgendwelches Material liefern: Das fiel dort in großen Mengen ab.

Alles zum Thema Hochwasser, Überschwemmung und Flut

Die FF hatten sicherlich ein Entsorgungsproblem, das gelöst sein wollte. Das Ziel: Mit ihrem Abfall sollten die Überflutungsflächen „In den Kämpen“ angeschüttet und höher gelegt werden. Die Kippgebühr: drei Mark je Kubikmeter. Anschließend sei alles mit 50 cm Mutterboden zu bedecken. So steht es in der Leverkusener Akte 230.56.

Glaubten die Fachleute da etwa noch, dass dieser Boden später zu bearbeiten sei? Die Werksdirektion und die Stadt hielten ihre Abmachung 1923 in einem Vertrag fest, nachdem man mit der Anschüttung schon begonnen hatte.

Das Gebiet wird „Wiesdorfer Hölle“ genannt

Das vermutlich unabhängige Wasserwirtschaftsamt Düsseldorf bewertete den Plan damals so: „Auch wenn die Abfallablagerung (durch die Farbenfabrik) die primäre Ursache für den Anschüttungsplan gewesen sei, so sei die deichpolizeiliche Genehmigung dennoch im Interesse des öffentlichen Wohls […] erstellt worden“ (aus einer Chronik der Dhünnaue).

Die ursprüngliche Landschaft, wo heute die Wacht am Rhein, der Neulandpark und die Autobahn am Wiesdorfer Rheinufer liegen, muss man sich erheblich anders vorstellen als heute.

Das ehemalige Mündungsgebiet der Dhünn in die Wupper war ein knapp über Rhein-Niveau liegendes Schwemmgebiet, über einen Quadratkilometer groß – das entspricht 140 Fußballfeldern. Wildes Land und Felder. Die alte Flurbezeichnung für das Gebiet heißt „Wiesdorfer Hölle“, sie ist übrigens heute noch gültig.

Nicht immer mündete die Dhünn noch auf den letzten Metern in die Wupper und die dann in den Rhein. Denn der Strom überflutete schon bei geringem Hochwasser diese Dhünnaue, das Mündungsgebiet von Wupper und Dhünn. Von hinten drückte der Strom das Wasser dann nach Wiesdorf hinein und flutete die Häuschen auf der unteren Hauptstraße.

Das tiefliegende Auenland gibt es nicht mehr:

Letztlich war es die Stadtverwaltung, die zuließ, dass die I.G. dort von Süden nach Norden Millionen Tonnen teils belasteten Bauschutt, Giftmüll aus der Produktion und auch einfachen Hausmüll abkippte. Nördlich des Autobahnknotens erhebt sich heute die fast 50 Meter über Rheinniveau reichende Deponie Bürrig; die wächst nach wie vor.

Leverkusener Berge

Die Rheinschiffer nennen die Müllkörper die „Leverkusener Berge“. Vom Fluss aus und von der Autobahn sind sie nicht zu übersehen. In einem Kapitel des 2005 erschienenen Standardwerks „Leverkusen: Geschichte einer Stadt am Rhein“ resümierte der inzwischen verstorbene Lokaljournalist Matthias Bauschen die frühen Verträge zur Anschüttung: „Die Dhünnaue ist ein schwieriger Fall und ein komplizierter. Für die Stadt und für Bayer.“

Man genehmigte 1922 eine Kleinbahn. Damit ließen sich die große Mengen Abfälle und Abraum aus dem Werk abtransportieren. Das Gleis, auf dem die von den Wiesdorfern harmlos „Kipp-Bähnchen“ genannte Lorenbahn fuhr, führte zuerst zu „einem Sandloch“ Ecke Große Kirch- und Dhünnstraße. Nach einem Jahr war das Loch voll, die Kippe wurde mit Mutterboden abgedeckt und für „kleingärtnerische Nutzung“ freigegeben.

Keine Haftung durch Bayer

Das Land liegt am Rand der Kolonie II, unter der Oberfläche des heutigen Neulandparks. Die Wiesdorfer Verwaltung erhandelte sich das Recht, „alle eigenen Schutt- und Kehrichtmassen auf den den Farbenfabriken angewiesenen Kippstellen ohne Vergütung unterzubringen“. Dieser Müll liegt am Ostrand der Kippe. Eine wichtige Klausel im Vertrag von 1923 lautet: „Eine Haftung der Farbenfabriken für etwaige aus der Anschüttung sich ergebenden Regressansprüche Dritter wird hiermit ausdrücklich ausgeschlossen.“

Eigentlich sollte für die Wiesdorfer eine Grünfläche angelegt werden

Schon 1929 fanden die I.G und die von ihr finanziell sicherlich weitgehend abhängige Stadtverwaltung eine neue Regelung, die heute schier unglaublich klingt: Die Parzellen in der Dhünnaue wurden von der Farbenbfabrik gekauft. Die Stadt verzichtete auf die Erhebung der Kippgebühren. Stattdessen fielen die Grundstücke nach erfolgter Anschüttung zurück an die Stadt. Möglicherweise ging man in der damaligen Verwaltung von einer Wertsteigerung aus. Anschließend, so der Plan, sollte dort für die Wiesdorfer eine Grünfläche angelegt werden.

1932 kam der zweite Vertrag zustande, jetzt vereinbarten Stadt und die aus den „FF“ hervorgegangenen I.G. Farben, das 68 Hektar große Überschwemmungsgebiet in den Kämpen endgültig hochwasserfrei anzuschütten.

Eine Allee, aber ohne Bäume

Ganz ahnungslos über die Folgen war man schon 1930 nicht: Von einer vertraglich zugesicherten Pflanzung von Alleebäumen an der nun höher liegenden Rheinallee rieten die Ingenieure der I.G. ab. Durch die Einflüsse der unter dem neuen Mutterboden lagernden Fabrikabfälle würden die Bäume sicher absterben, wussten die Fachleute. Die Stadtverwaltung beschloss, die Pflanzung zu verschieben, „bis die Fabrikabfälle ausgegoren“ seien. Aus heutiger warte klingt das wie ein Witz.

Witze über den Gestank gehören zum Leverkusener Erzählschatz

Besonders aus der Geschäftswelt gab es Beschwerden über die Kippe und über das Kipp-Bähnchen. Aus den Loren staubte es auf frische Wäsche und auf die Teller der Gaststätten. „Jeder, der dort [auf einer der Bänke neben den Gleisen] säße, müsse aufspringen, damit seine Kleider nicht von herumfliegenden Chemikalien beschädigt würden“, heißt es in einem Bericht einer Besprechung im Rathaus von 1932.

Besonders die Erschütterungen der Bahn störten. Als einige Stadtverordnete eine Transportseilbahn statt der Lorenbahn forderten, drohten die Werksvertreter, „bei einer ständigen Erhöhung der Unkosten müsse man einer Verlegung des Betriebs nähertreten“.

Die zum Teil humorvollen Berichte über den Gestank, den bunten Staub auf weißer Wäsche, in der Nase oder im Essen, über zerfallende Nylonstrümpfe gehören zum kollektiven Leverkusener Erzählschatz.

Nach dem Krieg war ein großer Teil der Dhünnaue entlang des Rheins hoch angeschüttet. Vertragsgemäß fielen weite Teile des nur mit ein wenig Oberboden abgedeckten Giftbergs an die Stadt Leverkusen zurück.

Erst 1987 „entdeckte“ man die Altlast

Es herrschte Wohnungsnot; man ließ auf dem Müll acht Wohnblocks entlang der Rheinallee bauen. Offenbar ahnte man etwas von den Gefahren unterm Boden, denn die Häuser mit Rheinblick erhielten wegen der möglichen betonschädlichen Wirkung des Untergrunds extra starke Bodenplatten aus Stahlbeton.

Es sollte noch bis 1987 dauern, bis man die Altlast „entdeckte“ und hektisch anfing, sie wenigstens notdürftig zu sichern und ihre Bewohner zu schützen. Der anfangs geschätzte beidseitige Nutzen hatte sich für die Stadt zu einem schwerwiegenden Problem gewandelt. Statt gelegentlicher Hochwasser steckte man nun bis über beide Ohren im Giftmüllproblem.

Hier gehts zu Teil2.

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