Autoren-InterviewVon Antike bis Pop-Kultur: Wie der Glaube an Einhörner entstanden ist

Lesezeit 6 Minuten
Holzschnitt von Sebastian Münster um 1560. Der Glaube an Einhörner lässt sich bis in die frühe Neuzeit nachweisen. Zu sehen ist ein Einhorn in einer Landschaft mit Bäumen, Vögeln und Wolken.

Holzschnitt von Sebastian Münster um 1560. Der Glaube an Einhörner lässt sich bis in die frühe Neuzeit nachweisen.

Julia Weitbrecht und Bernd Roling haben dem Einhornglauben ein Sachbuch gewidmet. Bis in die frühe Neuzeit waren die Menschen von der Existenz der magischen Wesen überzeugt.

Julia Weitbrecht und Bernd Roling, Sie haben dem Einhornglauben ein Sachbuch gewidmet. Wie entstand der Glaube an Einhörner?

Bernd Roling: Einhörner kommen schon in antiken Texten zum Beispiel aus Indien vor. Auch im Alten Testament tauchen sie auf und werden als „Re„em“ bezeichnet. Damit ist ihre Existenz auch ohne konkrete Sichtungen für viele Jahrhunderte „bewiesen“. Sie tauchen außerdem bis in die frühe Neuzeit in eher wissenschaftlichen Schriften über die Tierwelt auf – übrigens genauso wie andere Fabelwesen wie zum Beispiel Drachen. Welches Tier genau Vorbild für die Einhörner war, weiß man nicht. Eine Theorie besagt, dass Bilder von Auerochsen oder Antilopen der Ursprung des Einhornglaubens sein könnten. Von der Seite betrachtet sehen diese Bilder aus, als hätten die Tiere nur ein Horn auf dem Kopf.

Hatten Einhörner von Anfang an schon magische Fähigkeiten?

Julia Weitbrecht: Eigenschaften wie Reinheit, Keuschheit oder auch die Fähigkeit zu heilen werden den Tieren schon sehr früh zu geschrieben. Ich weiß aber nicht, ob Magie das richtige Wort dafür ist. Wir haben uns für das Buch intensiv mit den wissenschaftlichen Quellen dieser Zeit beschäftigt. Darin werden zum Beispiel die Heilkräfte des Einhorns detailliert beschrieben, aber keineswegs ins Reich der Magie gerückt. Vielmehr waren die Menschen fest von den besonderen Fähigkeiten der Tiere überzeugt.

Störte es die Menschen gar nicht, dass ihnen nie ein Einhorn über den Weg lief?

Weitbrecht: Nein. Das Bild des wilden, geheimnisvollen Einhorns, das eben nicht greifbar ist, war sehr verbreitet. Sie wurden eher im Heiligen Land oder in Indien vermutet als in Europa. So kamen keine Zweifel auf.

Roling: Interessanterweise werden diese Bilder auch in spätmittelalterlichen Reiseberichten aufgriffen. So wollen Pilger wie Bernhard Breitenbach in Ägypten Einhörner gesehen haben. In diesen Beschreibungen werden sie allen lange zuvor beschrieben Attributen gerecht. Sie sind nicht besonders groß, haben ein eindrucksvolles Horn und verfügen über eine große Wildheit. Vieles spricht an dieser Stelle dafür, dass die Pilger eher Antilopen gesehen haben. Der Einhornglaube geht so weit, dass sich in den Reiseführern für das Heilige Land aus dem 17. Jahrhundert richtige Anweisungen finden, wie man sich bei einer Begegnung mit Einhörnern verhalten soll. So wird zu absoluter Vorsicht geraten, damit man das scheue Tier nicht verscheucht.

Antilopen sind ja nicht so majestätisch. Woher stammt unsere heutige Vorstellung der Einhörner als weiße Pferde mit strahlendem Horn?

Roling: Tatsächlich sind die Einhörner aus den antiken Beschreibungen deutlich kleiner. Nur das Horn wird schon als farbenprächtig und lang beschrieben. Manchmal ist es so lang, dass es Zweifel gibt, ob ein eher kleines Tier dieses Horn unfallfrei auf dem Kopf tragen kann. Auch in den meisten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten wird das Tier nicht signifikant größer. Zwischenzeitlich kommt sogar das Nashorn ins Spiel. Bei den beiden Namen kommen manche zeitgenössischen Autoren durcheinander und schreiben den Dickhäutern plötzlich besondere Fähigkeiten zu. Diese Vermischung schwindet bald wieder. Ein Nashorn konnte schließlich nicht elegant auf den Schoß einer Jungfrau springen. Erst im 15. und 16. Jahrhundert wird das Tier pferdeartiger und ähnelt heutigen Darstellungen.

Gab es auch Zweifel an den Einhörnern?

Roling: Ganz im Gegenteil. Die Wikinger verkaufen fast 400 Jahre lang die Stoßzähne von Narwalen als Hörner von Einhörnern. Daraus wird Medizin gegen Krankheiten wie Epilepsie oder auch Vergiftungen hergestellt und dafür werden dann auch horrende Summen gezahlt. Dieser Nepp ist auch deshalb möglich, weil auf dem europäischen Festland niemand die Existenz von Einhörnern anzweifelt. Das ändert sich erst als der Austausch zwischen der Wissenschaftscommunity zunimmt und die Existenz von Narwalen in ganz Europa bekannt wird. Interessanterweise wird die angeblich heilende Wirkung der Hörner weitere knapp 100 Jahre einfach auf die Stoßzähne der Narwale übertragen. Man spricht sogar vom marinen Einhorn.

Tritt das Einhorn im Mittelalter auch schon in Kunst, Sagen oder Musik auf und wird damit ein Teil der Kultur?

Weitbrecht: Ja, vor allem in der Adelskultur spielen Einhörner eine große Rolle. Ein gutes Beispiel dafür sind Wappen, auf denen das Einhorn gerne verwendet wird. Es gilt als stolz, rein, wild, unzähmbar und freiheitsliebend. Zum Beispiel wird es auf dem Wappen Schottlands gezeigt, direkt neben dem englischen Löwen, gehalten von einer goldenen Kette. Auch in der höfischen Kunst taucht das Einhorn immer wieder auf – als ein schwer greifbares und dadurch noch begehrenswerteres Wesen mit Anleihen bei der Christussymbolik. Aus der Vorstellung, dass man ein Einhorn nur mit einer keuschen Jungfrau zähmen und einfangen kann, entstehen unzählige Geschichten. Auch in der Minnedichtung vergleichen sich Sänger mit dem angelockten Einhorn, um ihre Liebe zu verdeutlichen. Das wird auch ironisch behandelt: Der Dichter Rudolf von Ems fragt sich zum Beispiel, wie Einhörner die Keuschheit der Jungfrauen erkennen wollen und spekuliert über eine drastische Rache für einen möglichen Betrug. In diesem Fall wird die Frau schlicht vom Horn durchbohrt.

Kann man einen Zeitpunkt ausmachen, an dem der Glaube an Einhörner verschwindet und sie endgültig im Land der Fantasie landen?

Weitbrecht: Tatsächlich gibt es keine klassische Fortschrittsgeschichte, in der erst an Einhörner geglaubt wird und später nicht mehr. Wir erleben vielmehr, dass mit einer wissenschaftlichen Betrachtung und der festen Überzeugung von der Existenz der Einhörner auch eine große Sehnsucht nach diesen Tieren einhergeht. Beides hält sich einige Hundert Jahre. Selbst in den populären Naturkunden des 19. Jahrhundert wie Brehms Tierleben wird noch die Frage gestellt, welche Tiere hinter dem Fabelwesen stecken könnten.

Roling: Der Boom der Einhörner, wie wir ihn heute in der Popkultur oder auch bei Spielzeugen erleben, ist noch sehr jung. Er entstand erst in den letzten 25 Jahren und ist eng verbunden mit erfolgreichen Filmen wie dem „Letzten Einhorn“ und der entsprechenden Vermarktung von Einhörnern durch Spielzeughersteller. Mit dem ursprünglichen Einhornglauben hat das wenig gemein – vor allem, wenn wir daran denken, dass Einhörner früher für schwer auffindbar gehalten wurden.

Waren Einhörner auch mal out und von der Bildfläche verschwunden?

Roling: Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert nimmt das Interesse an Einhörnern doch merklich ab. Trotzdem bleiben sie im kulturellen Gedächtnis, wie eine amüsante Fake News aus dieser Zeit zeigt. Im 19. Jahrhundert werden die Spiegelteleskope immer besser. Man kann nun die Oberfläche des Mondes beobachten. In den USA gibt es daraufhin eine Serie von Zeitungsartikeln, die über vermeintliches Leben auf dem Mond berichten. Zu sehen ist laut dieser Berichte eine ganze Zivilisation von geflügelten Menschen. Auch das Einhorn wird Teil der ausgedachten Mondfauna. Es grast in großen Herden auf den galaktischen Wiesen. Die Begeisterung für diese fiktiven Berichte hält sich immerhin einige Monate und das Einhorn ist in diesen Tagen in aller Munde. (rnd)

KStA abonnieren