Das Corona-Jahr in DeutschlandWer hat es vermasselt – die Politik?

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Spahn Lauterbach

Ehemaliger und aktueller Bundesgesundheitsminister: Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD)

Zur Halbzeit war vieles noch unentschieden. Das Wetter pendelte Anfang Juli zwischen schaurig und schön, bei der Fußball-Europameisterschaft suchte man noch nach dem ganz großen Star. Das Jahr plätscherte dahin, für die meisten Deutschen aber gab es immerhin zwei Gewissheiten: Olaf Scholz wird nicht Kanzler werden. Und Corona wird schon bald verschwinden, besiegt durch einen Impfstoff made in Germany.

Es kam am Ende anders, durch das Jahr 2021 zieht sich ein tiefer Riss. Olaf Scholz wird Kanzler an der Spitze einer Ampelkoalition, die einen politischen Neustart verspricht. Das neue Bündnis hat sich die Hoffnung auf die Fahnen geschrieben, doch es startet ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Deutschen mit so wenig Zuversicht in die Zukunft blicken wie schon lange nicht mehr.

Die neue Regierung wird überrollt von der vierten Corona-Welle

Die neuen Verantwortlichen in der Zeit nach Angela Merkel werden überrollt von der vierten Corona-Welle. Sie ist heftiger als alles andere, was wir bislang von dem Virus kannten. Und sie trifft auf ein Land, das im zweiten Corona-Winter restlos erschöpft ist.

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„Wir haben es vermasselt“, stöhnte ein Gesundheitspolitiker im Bundestag, als im November die Inzidenzen wieder in die Höhe schossen. Das klingt gut und selbstkritisch, die Frage ist nur: Wer ist eigentlich „Wir“?

Es sind sicher nicht die Millionen von jungen Deutschen, die sich zum Start des Jahres hinten angestellt haben, als in den Impfzentren erst mal die Älteren an der Reihe waren. Corona hat den Jungen einen beispielhaften Akt der Solidarität mit den Alten abverlangt. Der Impfstoff war knapp, zuerst bekamen ihn jene, die ihn am dringendsten benötigten.

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Vermasselt haben es sicher auch nicht die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte, die an vorderster Front gegen Corona gekämpft haben. Der Sommer hat ihnen nur eine kurze Verschnaufpause gegeben, viele von ihnen haben die persönliche Belastungsgrenze überschritten. Wie fast überall hat die Pandemie auch hier schon lange bestehende Probleme nur verschärft: Einen Mangel an Pflegekräften gibt es nicht erst seit Kurzem, nun haben vor allem viele Fachkräfte auf den Intensivstationen kapituliert.

Der Beifall aus der ersten Welle war schnell verklungen, und eine Prämie allein macht eine schwer erträgliche Situation nun einmal nicht leichter.

Wer hat es vermasselt – die Politik?

Vermasselt haben es aber all jene Politikerinnen und Politiker, die im Sommer glaubten, einen „Freedom Day“ auch für Deutschland ausrufen zu müssen statt Vorkehrungen für die nächste Corona-Welle zu treffen. An Mahnungen hat es nicht gefehlt. Mitten im Sommer, am 26. Juli, legte das Robert Koch-Institut (RKI) einen Bericht vor, er enthielt zwei Hinweise: Im Herbst, so lautete die erste Prognose, werde eine vierte Welle kommen. Ohne Auffrischungsimpfungen, so die zweite zentrale Aussage, komme man nicht über den Winter.

Niemand also kann sagen, er habe es nicht wissen können. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind daher am Ende ratlos. „Ich will nicht zu einem Papagei werden“, sagte der entnervte Virologe Christian Drosten in einem Interview zu seinen Erfahrungen in diesem Sommer, in der Politikerinnen und Politiker die fröhliche Stimmung nicht stören wollten.

Tatsächlich war der Sommer im Vergleich zu den Vormonaten entspannt. Die Deutschen konnten wieder reisen, die Inzidenzen blieben niedrig. Die große Leichtigkeit aber wollte sich auch in diesem Sommer nicht einstellen, dazu blieb die allgemeine Lage zu ernst. Auch in der internationalen Politik.

Keine Zeit für einen Sommer voll unbeschwerter Leichtigkeit

Die Bilder von verzweifelten Menschen, die sich auf dem Flughafen Kabul im August an Flugzeugfahrwerke klammerten, verstörten nachhaltig. Wie konnte es zu einem solchen Desaster des Westens in Afghanistan kommen? Hatte nicht der gerade erst im Januar ins Amt gestartete US-Präsident Joe Biden die große Erwartung geweckt, dass sich die Welt zum Besseren wandelt? Selten zuvor hat ein Hoffnungsträger so schnell enttäuscht. Keine Zeit für unbeschwerte Leichtigkeit

Schon als Mitte Juli die unglaubliche Flutwelle durch das Ahrtal rollte und Zerstörung und Tod brachte, war klar, dass für unbeschwerte Leichtigkeit in diesem Sommer nur wenig Platz blieb. So nah war der Klimawandel noch nie an die Deutschen herangerückt, das Land blieb in der Corona-Pause im Katastrophenmodus. Finden wir noch die Kraft, uns gegen die Erderwärmung zu stemmen?

Die Zeiten sind ernst. Dazu passen keine Politikerinnen und Politiker, die im Hintergrund einer Pressekonferenz mit Hochwasserhelfern fröhlich lachen. Hätte Unionskanzlerkandidat Armin Laschet die Wahl gewonnen, wenn er Ende Juli im nordrhein-westfälischen Erftstadt nicht flachsend von den Kameras einfangen worden wäre? Am Ende hat sich der Kandidat mit seinem Unernst selbst um die Chance gebracht.

Vierte Welle hätte nicht so stark ausfallen müssen

Die vierte Corona-Welle, da sind sich die Fachleute einig, hätte nicht so heftig ausfallen müssen, wenn wirklich alle diese Erkrankung ernst genug genommen und mit einer Impfung gegengesteuert hätten. Verpatzt haben es am Ende also vor allem jene fast 15 Millionen Deutsche, die ohne Corona-Impfstoff in diesen Winter gestartet sind.

Staunend steht die Welt vor dem Phänomen, dass ein Land, das die ersten Wellen gut gemeistert hat, nun selbst zum Problemfall geworden ist. Die „New York Times“ widmet Mitte November eine ganze Seite den Schwurblern aus dem Erzgebirge. Die Skeptiker, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker zu überzeugen sei unmöglich, urteilt die „New York Times“, und das bringt die Amerikaner zum Staunen: Scheitert das sonst so rationale Deutschland an den Unbelehrbaren?

Spaltung – oder ein bizarres Nebeneinander?

So gibt es am Ende des Jahres nicht nur eine Corona-Endlosschleife, sondern auch ein geradezu bizarres Nebeneinander: Auf der einen Seite stehen Menschen stundenlang Schlange für eine Booster-Impfung – und auf der anderen Seite stehen Männer und Frauen, die sich damit brüsten, gar nicht geimpft zu sein. Da ist der Motorradfahrer, der in einer digitalen Freizeitbörse nach Mitfahrern sucht – „natürlich ungeimpft“. Da sind die Stellenangebote für den Maurer in Paderborn oder den Elektriker in Rosenheim. Einstellungsvoraussetzung: ungeimpft.

Deutschland erlebt in diesem Jahr eine schmerzhafte Form der Teilung. Aber droht wirklich eine Spaltung der Gesellschaft, eine Dauerpolarisierung wie in den USA? Kämpft wirklich jeder nur noch für sich, wie manche Politikschaffende beklagen?

Nein. Umfragen zeigen vielmehr: Während der gesamten Corona-Krise gab es einen Zusammenhalt der großen Mehrheit der Menschen, die hinter strengen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus stehen. Daneben gibt es eine „kleine, sich allerdings lautstark artikulierende Minorität der Impfverweigerer“, wie Forsa-Chef Manfred Güllner sagt. Und über die Minderheit ärgert sich nun zunehmend die Mehrheit.

Eine Zeit für offene Konflikte

Die Politik hat den Konflikt mit der Minderheit nicht gewagt – weil Wahlkampf war und niemand verschreckt werden sollte. Und weil politische Konflikte in der Ära Merkel ohnehin kaum noch offen ausgetragen wurden. Die neue Ampelregierung in Deutschland wird das ändern müssen. Eine allgemeine Impfpflicht, eigentlich nur schwer vorstellbar im liberalen Deutschland, dürfte der erste Schritt sein.

Deutschland kann 2022 wieder enger zusammenrücken. Aber nicht im Geist der Minderheit.

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