Kommentar zu Gaza-ProtestenEs gibt keinen Konsens mehr, den man voraussetzen könnte

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ARCHIV - 19.10.2023, Großbritannien, London: Die Klimaaktivistin Greta Thunberg demonstriert gemeinsam mit Demonstranten von Fossil Free London vor den Büros von J.P. Morgan in Canary Wharf, um den Gipfel des Energy Intelligence Forum (EIF) zu stören. Die schwedische Umweltaktivistin Thunberg hat an diesem Freitag statt zu einem Streik fürs Klima zu einem Streik für Solidarität mit den Palästinensern aufgerufen. (zu dpa "Thunbergs Aufruf zu Solidarität mit Palästinensern sorgt für Empörung") Foto: Lucy North/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg.

Mittlerweile gibt es viele gegensätzliche Meinungen bei wenig gemeinsamem Wissen. Für die Zukunft verheißt das nichts Gutes.

Eines muss man wohl vorneweg sagen – nicht zuletzt, weil manche jetzt wieder einen gegenteiligen Eindruck erwecken: Man kann in Deutschland zum Nahostkonflikt folgenlos unterschiedliche Meinungen vertreten. Dies geschieht auch, und zwar täglich. Was man nicht tun kann und sollte, ist, den Terror der Hamas zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen, um gleichzeitig den Mantel des Schweigens über das Leiden der Israelis zu legen.

Dass Greta Thunberg und Fridays for Future International eben dies taten, ist so traurig wie fatal. Ein Desaster ist, dass es in der Manier von Verschwörungserzählern geschah, wie wir sie bisher von Rechtsaußen kannten. Da tauchen plötzlich „westliche Medien“ auf, die angeblich „von imperialistischen Regierungen finanziert“ „Gehirnwäsche“ betreiben. Dabei wird stündlich über die Situation der Zivilbevölkerung im Gazastreifen informiert. Derlei Kritik ist nicht mehr nur eine bloße Verirrung. Sie ist ein Totalschaden für die Klimaschutzbewegung und deren junge Frau an der Spitze.

Wandel hat mit Generationswechsel zu tun

Man könnte den Skandal auf einen Mangel an Professionalität einer Bewegung zurückführen, in der einzelne zum Schaden aller posten dürfen, was sie wollen. In Wahrheit zeigt er ein weiteres Mal den radikalen Wandel der politischen Kultur in der westlichen Welt an. Sie ist durch wachsende Polarisierung gekennzeichnet.

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Der Wandel hat zumindest in Deutschland mit einem Generationswechsel zu tun. Es treten junge Menschen auf den Plan, für die das Existenzrecht Israels eben nicht Staatsräson ist – so wie für die Nachkriegs- und 1968er-Generation, in deren Seelen das „Nie wieder“ fest eingebrannt wurde und die wissen, dass es Israel ohne die von Deutschen verursachte Shoa so gar nicht gäbe. Die Flugblattaffäre um den Vorsitzenden der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, hat gezeigt, dass die Imprägnierung unter älteren Biodeutschen ebenfalls abnimmt. Mit Tätern und Opfern des Nationalsozialismus sterben auch die Lehren aus ihm aus.

Ein Drittel der Menschen in Deutschland haben Migrationshintergrund

Der Prozess geht einher mit dem Umstand, dass mittlerweile fast ein Drittel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund hat. Sie haben einen anderen Zugang zur deutschen Geschichte, zuweilen haben sie gar keinen. Das ist kein Vorwurf. Und dass Zuwanderer aus der arabisch-muslimischen Welt auf den Nahostkonflikt anders blicken als die Mehrheit, versteht sich von selbst. Nur: Man muss es wissen und daraus Schlüsse ziehen, etwa im Bereich der politischen Bildung. Sie wird für den Fortbestand der demokratischen Bundesrepublik existenziell.

Auch aus einem dritten Grund: Die Älteren wuchsen selbstverständlich mit einem Zeitungsabonnement und linearem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf. Das ist vorüber. Heute gilt, was der ehemalige US-Präsident Barack Obama vor einiger Zeit in Berlin erklärte. Demnach müsse man jungen Leuten erstmal klar machen, dass das, was sie auf Tiktok sähen und läsen, nicht zwingend richtig sei.

Viele gegensätzliche Meinungen bei wenig gemeinsamem Wissen

Der Wandel vollzieht sich in einer Gesellschaft, die sich insgesamt ausdifferenziert. So, wie es in den Parlamenten immer mehr Parteien gibt, gibt es im echten Leben immer mehr Milieus und Sub-Milieus. Die Klimaschutzbewegung ist dafür ein Beispiel. Obwohl das Ziel identisch ist, zerfällt die Bewegung in Gruppen wie Fridays for Future, die Letzte Generation oder Extinction Rebellion. Fridays for Future in Deutschland tickt, wie wir am Nahostkonflikt sehen, nochmal anders als die internationale Sektion.

Die Konsequenz ist stets die gleiche. Es gibt keinen Konsens mehr, den man voraussetzen könnte. Stattdessen gibt es viele gegensätzliche Meinungen bei wenig gemeinsamem Wissen. Für die Zukunft verheißt das nichts Gutes.

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