Preise, Werbung, TV-ExperimenteDas Ende des Streaming-Schlaraffenlands naht

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Streaming Apps Handy IMAGO

Apps von verschiedenen Streaming-Anbietern auf einem Smartphone. (Symbolbild)

Berlin/Los Angeles – Die Goldgräberstimmung auf dem Streamingmarkt ist verflogen: Netflix verliert Abonnenten, die Preise steigen, das Murren der Kunden wird lauter. Und jetzt wollen Disney+ und Netflix sogar Werbung zeigen. Welche Streamingdienste werden am Ende überleben?

Es war einmal ein Paradies, in dem nicht Milch und Honig flossen, aber eines gab es dort im Überfluss: Vergnügen. Den Bewohnern dieses Landes war Langeweile fremd, denn sie konnten für kleines Geld so viel und so lange fernsehen, wie sie nur wollten. Sie lebten im Goldenen Zeitalter: im televisionären Schlaraffenland.

Gewöhnung an Luxus und Komfort

Doch wie immer macht die Dosis das Gift. Und die Menschen gewöhnten sich an Luxus und Komfort für ein paar Taler. Und sie murrten immer öfter, wenn die Chefs im Paradies nicht täglich neue Sensationen lieferten. Schal und lahm erschien ihnen plötzlich, was gestern noch glamourös und verheißungsvoll war. Und plötzlich hingen dunkle Wolken über dem Schlaraffenland.

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Die Goldgräberstimmung auf dem Streamingmarkt ist verflogen. Erstmals seit zehn Jahren hat der Pionier Netflix in diesem Frühjahr Abonnenten verloren. Im Jahr 2020 galt er neben Amazon noch als großer Gewinner der Corona-Krise: Die halbe Welt lag auf dem Sofa und dürstete nach Ablenkung. 15,8 Millionen Neukunden verzeichnete der Streamingdienst im ersten Quartal 2020 – Rekord. Ende des Jahres knackte Hastings’ Firma dann die 200‑Millionen-Abonnenten-Marke. Serien wie „The Crown“, „Das Damengambit“ oder „Umbrella Academy“ galten als potenter Impfstoff gegen die Lockdownlangeweile, sie waren das Laudanum für die coronageplagte Seele.

Netflix rechnet mit Millionen Abgängen

Doch der Boom ist vorbei. Nach fetten Jahren mit explosivem Wachstum hat der Streamingdienst die Mühen der Ebene erreicht. 200.000 Bezahlabos gingen im ersten Quartal 2022 sogar verloren. Die Nutzeranzahl weltweit liegt nun bei 221,6 Millionen. Bis zum Sommer rechnet der Marktführer sogar mit zwei Millionen weiteren Abgängen. Der Aktienkurs brach ein. Und rechnet man die 700.000 Netflix-Kunden heraus, die der Konzern nach seinem Rückzug aus Russland infolge des Krieges in der Ukraine verlor, liegt der erfolgsverwöhnte Entertainment-Riese noch immer weit unter seinen eigenen Erwartungen von 2,5 Millionen Neukunden.

Der Heimatmarkt USA scheint gesättigt. Der Netflix-Aktienkurs brach am Tag der schlechten Nachricht um 35 Prozent ein. Und die Suche nach den Gründen führt direkt zu einer alten Regel der Marktwirtschaft: In einer Marktlücke ist man niemals lange allein. Ein Geschäftsmodell, das funktioniert, lockt die Konkurrenz an wie Erdbeerkuchen die Wespen.

Werbung ist kein Tabu mehr

So freut sich zum Beispiel Disney+, das im November 2019 an den Start ging, bereits über 130 Millionen Kundinnen und Kunden. Eine verlässliche Marke, eine pralles Archiv und ein niedriger Preis – das funktionierte vom Start weg. Auch der Schwesterdienst Hulu – ebenfalls aus dem Hause Disney – legte zu. Neu auf den Markt kam 2021 in den USA auch der zum US‑Medienkonzern Viacom CBS gehörende Streamingdienst Paramount+.

Er liegt bei deutlich mehr als 30 Millionen Nutzern und rechnet bis Ende 2024 mit 100 Millionen Abonnenten. Beide schielen selbstverständlich nach Europa. Der Bezahlpionier HBO liegt mit seinem Streamingableger HBO Max inzwischen bei 77 Millionen Kunden. Und auch Rivalen wie Peacock von der NBC-Mutter Comcast investieren Milliarden. Die Neulinge haben ihre Märkte noch lange nicht voll erschlossen. Netflix läuft bereits in jedem Land der Erde – außer in China, Nordkorea, Syrien und Russland. Alle anderen haben geografisch noch viel Luft nach oben. Das bedeutet: Wachstum.

Und dann wären da noch die Giganten Amazon und Apple, die mit Prime Video und Apple+ preislich deutlich unter Netflix liegen. Amazon plant bis zum Jahresende in Deutschland sogar ein kostenloses Streamingangebot – finanziert durch Werbeunterbrechungen. Und auch Disney+ hat ein günstigeres Einsteigerangebot mit Werbung für 2023 angekündigt. US‑Medien zufolge will der Konzern dann im Schnitt vier Minuten Werbung pro Stunde einblenden. In Nutzerprofilen von Kindern soll es aber keine Werbung geben. Auch „kontroverse“ Inhalte, etwa Werbung für Politik oder Alkohol (oder Konkurrenzfirmen), sind tabu.

Experimente mit Livefernsehen

Netflix hat sich immer gewunden, ebenfalls Werbung zu zeigen – nun aber scheint die Firma bereit, das Tabu zu brechen und ein Einsteigerpaket mit Werbeclips zu schnüren. „Wir schauen uns das an und versuchen, das in ein bis zwei Jahren auf die Reihe zu kriegen“, sagte Hastings in einem Pressegespräch. Was das neue Netflix-Angebot kosten soll, ist noch offen.

Zusätzlich will der Konzern, um sein Wachstum wieder in Gang zu bringen, in Zukunft stärker gegen das Account-Sharing vorgehen – also die gemeinsame Nutzung eines Kontos in mehreren Haushalten. Entsprechende Modelle sind bereits in der Erprobung. „Es handelt sich hier um 100 Millionen Haushalte“, sagte Hastings. „Die mögen unseren Dienst. Wir müssen dafür nur irgendwie Geld bekommen.“

Und noch ein anderes Experiment will Netflix wagen: Livefernsehen. Das Fachmagazin „Deadline“ berichtet, dass der Streamingriese mit linearen Angeboten experimentiere, etwa mit Livetalentshows oder einer live gesendeten Neuauflage des Comedyfestivals „Netflix Is A Joke“ aus Los Angeles. Sportübertragungen dagegen seien nicht geplant. Die Rechte dafür seien selbst Netflix inzwischen einfach zu teuer.

Die Preise steigen immer weiter

Um die Aktionäre zu beruhigen, hat Netflix in den USA gerade die Preise erhöht, ebenso in Großbritannien und Irland (von 17,99 auf 20,99 für das Premium-Abo). Sehr wahrscheinlich, dass sich auch hiesige Netflix-Kunden auf (noch) höhere Kosten einstellen müssen. Seit 2019 kostet das Premium-Abo in Deutschland 17,99 Euro (vorher 15,99 Euro). Im Januar 2021 stieg der Preis für das Standard-Abo von 11,99 Euro auf 12,99 Euro. Das Basispaket blieb bei 7,99 Euro.

Immerhin: Das Landgericht Berlin hat Netflix jüngst untersagt, den Preis einfach auf Basis seiner Geschäftsbedingungen „von Zeit zu Zeit in unserem billigen Ermessen zu ändern“. Das genügte den Richtern nicht, die forderten mehr Transparenz. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Netflix-Langzeitkunden können unter Umständen sogar Geld zurückfordern – das wird davon abhängen, ob der Bundesgerichtshof das Urteil rechtskräftig bestätigt.

Überall steigen die Preise – das gilt auch für den Streamingmarkt. Es scheint, als gehe die „Anlockphase“ ihrem Ende entgegen. Jetzt wird abkassiert. DAZN erhöhte seinen Monatspreis um stolze 40 Prozent von 14,99 Euro auf 24,99 Euro im Jahresabo. Zur Begründung dichtete man in schönster Verschleierungslyrik, man wolle „der Qualität und der Wertigkeit des stark erweiterten Angebots gerecht werden und sich mit einem angemessenen Preis im Marktgefüge positionieren“. Was immer das bedeuten soll. Auch die Musikstreamer wollen mehr Geld: Ein Standard-Abo des Musikdienstes Deezer kostet in Deutschland jetzt einen Euro pro Monat mehr – 10,99 Euro statt 9,99 Euro. Auch Amazon Music Unlimited kostet statt 7,99 Euro jetzt 8,99 Euro im Monat. Spotify hält sich, was Preiserhöhungen angeht, noch bedeckt.

Wie viel Entertainment darf es sein?

Aber wie viele Streamingdienste kann und will sich das Publikum überhaupt leisten? Die Inflation ist hoch. Wie viel Geld bleibt da noch für Entertainment? Im vergangenen Jahr haben in den USA stolze 35 Millionen Kunden ein kostenpflichtiges Streaming-Abo gekündigt. Die Wechselbereitschaft ist groß.

Warum das so ist, zeigt eine einfache Rechnung:

Blicken wir als Beispiel auf die Basisangebote der größten Streaminganbieter: Netflix im Basis-Abo kostet 7,99 Euro ohne HD, Apple+ liegt bei 4,99 Euro, Amazon Prime Video kostet im reinen Video-Abo monatlich 7,99 Euro und Disney+ 8,99 Euro. Kommen noch RTL+ (4,99 Euro), Sky Ticket (ohne Sport) für 10 Euro und DAZN mit monatlicher Kündigungsmöglichkeit für 29,99 Euro dazu, liegt die Gesamtsumme für ein Basisangebot bei monatlich 74,94 Euro.

Noch teurer wird es natürlich, wenn man die Premiumangebote der größten Anbieter addiert und weitere in Deutschland buchbare Streamingportale hinzunimmt: Netflix kostet im Premium-Abo mit Ultra HD 17,99 Euro. RTL+ Premium (für mehrere Geräte) schlägt mit 7,99 Euro zu Buche, die Konkurrenz von Joyn (mit Inhalten der Pro-Sieben-Sat.1-Gruppe) kostet fast werbefrei 6,99 Euro. Magenta TV kostet ohne Telekom-Vertrag 10 Euro im Monat. Das Maximalpaket bei Sky mit Serien, Filmen, Bundesliga und Sport liegt ohne Rabattaktion derzeit bei 42,50 Euro im Monat.

Youtube Premium ohne Werbung kostet 11,99 Euro im Monat. Apple+, Prime Video und Disney+ haben kein Premium-Modell, die Preise sind also identisch. Dieses Streaming-Luxuspaket kostet stolze 119,43 Euro im Monat – und da ist der Rundfunkbeitrag für ARD und ZDF (plus ihre Mediatheken) von 18,36 Euro im Monat noch gar nicht enthalten.

Der Markt ist massiv in Bewegung, und vor allem Netflix spürt den heißen Atem der Verfolger im Nacken. Und die Konkurrenz ist stinkreich, zäh und erfahren. Alle großen Spieler der Entertainmentwelt verfolgen inzwischen dasselbe Ziel: Anfixen, süchtig machen – abkassieren.

2021 kamen 559 neue Serien auf den Markt

Wenn aber immer mehr Medienkonzerne mit mächtigen Filmarchiven ihr Material selbst versenden, bleibt für Netflix weniger Lizenzware übrig. „In der Vergangenheit haben Sender eigene Serien an Netflix verkauft, dort liefen dann auch Serien wie ‚Friends‘ oder ‚Big Bang Theory‘ – aber das hat Netflix auch populär gemacht und viele Zuschauer abgezogen“, sagte Medienexperte Jury Woodruff der „Tagesschau“. „Genau deswegen nehmen einige dieser Sender ihre Produkte wieder zurück und bauen eigene Streamingplattformen auf.“ Reed Hastings Firma muss also mehr Serien und Filme selbst herstellen – zu horrenden Preisen. Aber für jede Droge gilt eben: Willst du dieselbe Wirkung erreichen, musst du die Dosis erhöhen. Und zwar ständig. Das ist bei Seriensucht nicht anders als bei Opium. Im Jahr 2010 kamen 210 neue Serien auf den Markt. Im vergangenen Jahr waren es spektakuläre 559. Das ist ein Anstieg von 166 Prozent.

Netflix hat sich von Anfang an als popkulturelles Schlemmerbüfett für jeden Geschmack vermarktet. Die erste heiße Liebe zwischen dem TV-Spezialitätenrestaurant und den heißhungrigen TV-Gourmets der Welt aber ist längst erkaltet. Noch eine Superheldenserie? Noch mehr Sci-Fi? Noch ein juveniler Weltenretter im engen Latexdress? Noch eine Coming-of-Age-Geschichte aus einer düsteren Provinzkleinstadt? Noch eine sturzblöde Adam-Sandler-Klamotte, der dank seines Exklusivdeals mit Netflix Halbgares heraushaut wie eine Brezelbäckerei die Brezeln? Man kann nicht alle vier Wochen komplette Begeisterung auslösen – das war aber über Jahre das Versprechen von Netflix.

„Keine erfreuliche Entwicklung“

Hinzu kommt: Masse macht mürbe. In der Psychologie spricht man vom Paradox of Choice (Paradoxon der Wahlmöglichkeiten) oder „Choice Fatigue“: Menschen sind glücklicher, wenn sie aus weniger Auswahl wählen sollen. Deshalb verkleinert jeder TV-Restaurant-Retter als Erstes die Speisekarte. Henk Handloegten – gemeinsam mit Tom Tykwer und Achim von Borries einer der Regisseure der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ – fürchtet, dass sich die enorme Nachfrage nach Serien am Ende zwangsläufig auf die Qualität niederschlagen muss.

„Es ist zu befürchten, dass man überhaupt nichts anderes mehr machen darf als Serien“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das meine ich sehr ernst. Es gibt im Moment eine solche Schwemme von Serien, die müssen ja irgendwo herkommen. Entweder lagen die alle jahrzehntelang in irgendwelchen Schubladen – das wäre schön, denn das hieße, dass es Herzensprojekte sind.“ Er habe stattdessen aber den Eindruck, „dass alles, was vorher schon für 90 Minuten nicht getaugt hat, jetzt zur Serie aufgeblasen wird“. Das sei „keine erfreuliche Entwicklung“.

Die großen Streamingdienste gehen außerdem verstärkt dazu über, die heiße Ware in wöchentliche Folgen zu zerhacken. Das liegt zum Teil daran, dass noch immer viele Produktionen von herkömmlichen TV-Konzernen stammen, die an der klassischen Ausstrahlungspolitik festhalten. Der US-Dienst Hulu rationiert fast alle seiner selbst produzierten Serien. Die Kundschaft von Mediatheken und Streamingdiensten trennt sich also in Jäger und Sammler: Jäger lauern wöchentlich auf die neue Episode und schlagen sofort zu – Sammler warten, bis die Staffel komplett ist, und gucken dann am Stück. Für die meisten Kunden aber ist der Sequenzzwang ein Ärgernis. Denn die schöne neue Fernsehwelt hatte sie ja mit dem Versprechen sofortiger Verfügbarkeit gelockt.

Wann platzt die Streamingblase?

Steht die Streamingblase also kurz vor dem Platzen? Sicher ist nur, dass die Marktbereinigung bereits in vollem Gange ist. Nischenanbieter wie Jeffrey Katzenbergs Quibi oder CNN+ gaben zuletzt auf, ebenso der deutsche Musikstreamingversuch Juke aus dem Hause Media Markt und Saturn. CNN+ wollte Dokus, Hintergrundinfos und längere Interviews hinter die Bezahl­schranke packen – kam aber nur auf 150.000 Abonnenten. Also senkte der CNN‑Mutter­konzern Warner Brothers Discovery in Manhattan den Daumen. Wer aus der wachsenden Schar der globalen Streaminganbieter mittelfristig überleben wird, ist offen. Zweifellos werden Marken fusionieren und einzelne Anbieter aufgeben. Sicher fühlen kann sich niemand. Nicht einmal Netflix.

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