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Mehr entdeckte BlindgängerLuftbildauswertung zeigt „das Erbe des Krieges“ in NRW

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„Die Karten der Luftbildauswertung zeigen, dass das Erbe des Krieges vielerorts noch unsichtbar unter unseren Füßen schlummert“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul unserer Zeitung.

„Die Karten der Luftbildauswertung zeigen, dass das Erbe des Krieges vielerorts noch unsichtbar unter unseren Füßen schlummert“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul unserer Zeitung.

Große Bomben, kleine Bomben, Minen, Handgranaten. In den meisten Regionen von NRW sind die Böden vom Kampfmitteln aus dem 2. Weltkrieg belastet. Experten des Kampfmittelräumdienstes müssen laut Statistik immer häufiger ausrücken.

Die Zahl der geräumten Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg ist im ersten Halbjahr 2025 auf 95 angestiegen – das sind 19 mehr als im Vorjahr. In neun Fällen mussten die Bomben durch eine Sprengung vor Ort unschädlich gemacht werden. Das geht aus einer Auswertung des NRW-Innenministeriums hervor, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt.

„Die Karten der Luftbildauswertung zeigen, dass das Erbe des Krieges vielerorts noch unsichtbar unter unseren Füßen schlummert“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul unserer Zeitung. Die Kampfmittelräumer holten heute noch Tag für Tag die Altlasten des Krieges ans Licht.

Das NRW-Innenministerium hat jetzt erstmals Übersichtskarten erstellen lassen, auf denen die Belastungsrichtwerte für die betroffenen Gebiete abzulesen sind. In den Grafiken wurde das Land in Kilometerquadrate eingeteilt. Je röter die Färbung ist, desto belasteter ist die Sektion mit Bombenblindgängern. Erwartungsgemäß sind im Ruhrgebiet und in der Rheinschiene besonders viele Blindgänger im Boden zu finden. Aber auch der Niederrhein ist stärker betroffen, als zu erwarten gewesen wäre. Dort sollen britische Piloten auf dem Rückflug Bomben abgeworfen haben, um Gewicht zu sparen.

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Die Karte zeigt die Belastung in Nordrhein-Westfalen mit Bombenblindgängern. Je röter die Färbung ist, desto belasteter ist die Sektion.

2880 Kampfmittel in sechs Monaten geräumt

Bei den 95 entschärften Blindgängern handelt es sich um Bomben mit einem Gewicht von mehr als 50 Kilo. Die Zahl der Funde von kleineren Bomben und anderen Kampfmitteln ist um ein Vielfaches höher. Insgesamt wurden im ersten Halbjahr 2025 bereits 2880 Kampfmittel geräumt – darunter 1067 Granaten, 41 Minen und 446 Handgranaten.

Kai Kulschewski ist Dezernent beim Kampfmittelbeseitigungsdienst bei der Bezirksregierung Düsseldorf. Der Experte und sein Team haben die neue Übersichtskarte ausgearbeitet. „Die Luftbilder haben die Alliierten während des Zweiten Weltkrieges zum Zwecke der Aufklärung gemacht“, erklärt Kulschewski. „Die wollten wissen, wo ihre Bomben angekommen sind und wo nicht. Die Angriffe fanden häufig nachts statt, und da konnte man nicht viel sehen. Durch die Luftbilder konnten sie checken, was zerstört wurde und was nicht.“

Die Aufnahmen wurden unter Gefahr gemacht, weil die deutsche Flugabwehr die Maschinen der Alliierten im Visier hatte. Man brauchte einen wolkenlosen Himmel und musste möglichst hoch fliegen. „Die alte Bundesrepublik hat mit den Briten in den 80er Jahren einen Vertrag für die Nutzung der Aufnahmen abgeschlossen“, sagt Kulschewski. NRW verfüge über mehr als 300 000 Luftbilder.

Experten schätzen, dass allein über Köln im 2. Weltkrieg 48.000 Tonnen Bombenlast abgeworfen wurden. Die meisten Blindgänger finden sich beim Straßen- oder Hausbau. Die Prüfung von Bauland auf Kampfmittelfreiheit ist gemäß der Landesbauordnung verpflichtend - Entschärfungen dürfen ausschließlich vom Kampfmittelbeseitigungsdienst der Bezirksregierung durchgeführt werden. „Unsere Mitarbeiter arbeiten verantwortungsbewusst und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Heißsporne können wir hier nicht gebrauchen“, berichtet Kulschewski.

Große Gefahr durch Bomben mit Langzeitzündern

Während manche Blindgänger nur knapp unter der Oberfläche liegen, befinden sich andere metertief darunter. Bomben mit Aufschlagzünder sind oft nicht explodiert, weil sie zu schräg auf den Boden auftrafen. Besonders riskant ist die Entschärfung von Bomben mit Langzeitzündern.  „Diese Bomben sollten zeitverzögert explodieren, um zum Beispiel Aufräum- oder Bergungsarbeiten anzugreifen“, erklärt Kulschewski. Die Explosionen sollten die Moral der Bevölkerung zermürben.

Bei den Langzeitzündern ist der Schlagbolzen durch eine Feder gespannt und wird durch einen Sicherungsring aus Kunststoff gehalten. Davor befindet sich eine Glasampulle, die mit der ätzenden Flüssigkeit Aceton gefüllt ist. Beim Abwurf aus dem Flugzeug wird diese zerstört - und das Aceton beginnt den Sicherungsring aufzulösen, was die Zündung auslöst. Die Verzögerung der Explosion konnte zwischen 30 Minuten und 144 Stunden variieren. Bei Blindgängern wurde der Prozess oft unterbrochen, weil die Bombe beim Einschlag ins Erdreich mit der Spitze nach oben gedreht wurde. Dann konnte das Aceton nicht auf den Sicherungsring träufeln. Wird die Bombe nach dem Fund bewegt, funktioniert die Zündkette möglicherweise wieder. Die Folgen können fatal sein.

Drei Tote bei Entschärfung in Göttingen

In Göttingen kamen im Sommer 2010 drei Mitarbeiter des Kampfmittelräumdienstes beim Versuch ums Leben, eine Bombe mit Langzeitzünder zu entschärfen. Im Rheinland gab es in den letzten 20 Jahren keine tödlichen Unfälle. „Man sollte jede Bombe so behandeln, als wenn es die Erste wäre, denn es kann jedes Mal die Letzte sein“, empfahl Karl-Heinz Clemens, Entschärfer beim Kampfmittelbeseitigungsdienst Westfalen-Lippe, in einem Interview. Je länger die Bomben im Boden stecken, umso unberechenbarer ist ihr Zustand. So kann es vorkommen, dass sie aufgrund von Alterungsprozessen oder Korrosion von selbst im Boden detonieren. 

Bombenentschärfer arbeiten meist allein und brauchen viel Fingerspitzengefühl. In NRW verdienen sie in der Entgeltgruppe 9b monatlich rund 5000 Euro brutto. Darin ist eine Gefahrenzulage 1344,68 Euro enthalten. Bei der Entschärfung einer Bombe mit Langzeitzünder winken als Sonderprämie 901,91 Euro.

Innenminister Reul erklärte, das Thema Kampfmittelräumung werfe ein Schlaglicht darauf, wie wichtig Frieden und Zusammenhalt seien. „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen und unsere Demokratie zu hüten“, sagte der Politiker aus Leichlingen. Die Kampfmittelräumer kämpften heute noch mit den Altlasten des 2. Weltkriegs: „Wir müssen diesen Frauen und Männern dankbar sein, dass sie mit ihrer Professionalität unser Land jeden Tag sicherer machen.“