ErfahrungsberichteTiefe Betroffenheit, furchtbare Bilder

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Rüdiger Köbrich, mittlerweile Verkehrssicherheitsberater bei der Polizei, schilderte, wie eine junge Frau in seinen Armen starb. (Bild: Schmitz)

Rüdiger Köbrich, mittlerweile Verkehrssicherheitsberater bei der Polizei, schilderte, wie eine junge Frau in seinen Armen starb. (Bild: Schmitz)

Euskirchen – Ein Polizist, der mit den Tränen kämpft. Schüler, die schluchzend den Saal verlassen. Eine Stille in einer mit rund 430 Leuten besetzten Aula, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Selbst das obligatorische Räuspern oder Husten, wie man es von Theaterveranstaltungen kennt, fehlt. 430 Menschen sind ergriffen von dem, was da auf der Bühne passiert.

Ganz nüchtern betrachtet sind das nicht mehr als Schilderungen aus dem größtenteils beruflichen Alltag von fünf Menschen, die da vorne sitzen: Jesko Priewe (Notarzt), Rainer Brück (Rettungssanitäter), Rüdiger Köbrich (Polizist), Alexander Rheindorf (Feuerwehrmann) und Irmgard Bünder (Krisen-Helferin). Sie alle berichten von schrecklichen Erfahrungen im Dienst: Begegnungen mit dem Tod, schweren Unfälle, Benachrichtigungen von Angehörigen. Eine Sonderrolle nimmt der querschnittsgelähmte René Mösch ein, der von seinem Schicksal als Unfallopfer erzählt und bei dem mit jedem Wort deutlich wird, wie positiv er mittlerweile damit umgeht.

„Crash-Kurs NRW“ heißt die Veranstaltung, die am Dienstagmorgen in der Aula des Emil-Fischer-Gymnasiums über die Bühne ging. 370 Schüler, 20 Lehrer und 40 geladene Gäste nahmen am Auftakt dieser Präventionskampagne für mehr Verkehrssicherheit teil. Initiiert wurde sie vom Landesinnenministerium und der Polizei. Im Kreis Euskirchen war Tido Janssen vom Verkehrsdienst für die Umsetzung zuständig.Janssen übernahm auch gleichzeitig die Moderation der Veranstaltung. „Wir möchten niemals an eurer Haustür klingeln und euren Eltern eine Todesnachricht überbringen“, gab er den Schülern noch mit auf den Weg, bevor in einer Slideshow, untermalt vom Song „Geboren, um zu leben“ der Gruppe Unheilig, zahlreiche Kreuze gezeigt wurden, die am Straßenrand stehen. Von da an ist es mucksmäuschenstill im Stadttheater, die Schüler lauschen gebannt den Schilderungen der Protagonisten.

Alexander Rheindorf, stellvertretender Leiter der Euskirchener Feuerwehr, gibt preis, was man auf dem Weg zum Unfall denkt. „Sind es Freunde oder Bekannte? Kommen wir zu spät?“ Er erzählt von blutüberströmten Unfallopfern. Davon, wie er den Wunsch einer Schwerverletzten („Bleib hier!“) ignorieren musste, weil ein weiteres Unfallopfer regungslos in einem Auto lag, wie er zu einem brennenden Auto fuhr, in dem sich die Fahrerin noch aufhalten sollte. „Von weitem sah ich die riesige Rauchsäule und dachte: »Wir kommen zu spät«.“ Rheindorf erzählte, wie sich die junge Frau, die sich nach einem Streit mit ihrem Freund betrunken hinter das Steuer gesetzt hatte, dann doch trotz schwerer Knochenbrüche selbst gerettet hatte. Wie alle folgenden Sprecher gab auch Rheindorf den Schülernmit auf den Weg: „Wir müssen das nicht haben, also passt auf euch auf.“

Rainer Brück vom Rettungsdienst im Kreis Euskirchen ist einer der Gründer des Kriseninterventionsdienstes. Er hat die Erfahrung gemacht, dass man sich mit zunehmender Erfahrung immer mehr in die Lage der Menschen versetzt, die man rettet. Das führt zu schlaflosen Nächten. Was passiert mit ihnen hinterher, wie verändert sich ihr Leben nach einer Operation, nach der Reha-Klinik? Können Unfallopfer ihrem Beruf noch nachgehen, noch Sport treiben? Immer öfter wollten Eltern von jungen Todesopfern wissen, ob ihr Kind noch etwas gesagt und ob es gelitten habe. „Denkt mal daran, wenn Eltern abends sagen: »Passt auf euch auf«.“

Notarzt Jesko Priewe forderte von den Schülern, gegenseitig auf sich zu achten. „Trinkt nicht, wenn ihr fahrt, und zieht eure Schutzkleidung an.“ Diese Mahnung bezog sich auf sein Beispiel: Eine junge Frau starb, weil sie als Sozia auf dem Motorrad den Helmgurt nicht geschlossen hatte. Bei einem Verkehrsunfall löste sich der Helm, sie schlug mit dem Kopf auf den Asphalt. Zwei Tage nach dem Unfall war sie tot.

Ständige Vorwürfe

Rüdiger Köbrich wollte immer schon Polizist werden. Erst mit zunehmenden Alter merkte er: Die Haut wird immer dünner. „Irgendwann kommt immer der Fall, wo es einen erwischt und man zusammenbricht.“ Bei ihm war es 1988 auf der Autobahn 1 bei Frauenberg. Ein VW Golf raste unter einen mit Stahlrohren beladenen Lastwagen, die Beifahrerin erlitt schwerste Verletzungen. „Ich zog sie aus dem Auto und merkte, dass sie stirbt. Ich wollte nicht, dass sie dabei alleine ist. Sie starb in meinen Armen. Das war der größte Dienst, den ich an jemandem geleistet habe“, erzählt Köbrich mit zitternder Stimme und dickem Kloß im Hals.

Irmgard Bünder weiß, welche Vorwürfe sich Unfallverursacher machen. Einen hat sie vor vier Jahren betreut. Beim Brötchenholen nach einer Party geschah das Unglück. Ein Mitfahrer starb, ein anderer erlitt schwere Verletzungen, der Fahrer war körperlich größtenteils unversehrt, seelisch aber stark mitgenommen. Immer wieder stellte er sich die Frage: „Bin ich ein Mörder?“ Gedanken tobten in seinem Kopf, doch er war allein mit dem Chaos, zog sich zurück. „Ich bin heilfroh, dass keiner meiner beiden Söhne dieses Schicksal erlitten hat.“Letzter Vortragender war René Mösch aus Wahlen.

Im Juli 1988 war er mit dem Motorrad unterwegs gewesen. Kurz vor Engelgau war er einen Augenblick unachtsam, stürzte und prallte mit der Brust gegen den Pfosten einer Leitplanke. „Ich wollte nach dem Sturz aufstehen, so wie immer, konnte aber nicht.“ Er hatte sich die Wirbelsäule gebrochen, ist seither querschnittsgelähmt. Neun Monate verbrachte er im Krankenhaus, die ersten drei Monate liegend. Alle fünf bis sechs Stunden wurde er gedreht, er aß und trank im Liegen.

Nach drei Monaten wurde er erstmals aufgerichtet. „Ich sah meine Füße vor mir, mein Kopf sagte aber, dass ich stehe. Mein Körper war mir fremd.“ Er musste lernen, wie man mit dem Zwerchfell atmet und mit dem Rollstuhl fährt. Immer wieder hat er mit Spasmen zu kämpfen, die er mittlerweile unterdrücken kann. „Dat sieht lustig aus und jeder denkt: »Der Idiot, wat macht der denn da?«“, berichtete er mit rheinischem Zungenschlag. Jede längere Fahrt muss genau geplant sein. Und dennoch hat er den Lebensmut nicht verloren. „Ich habe Glück gehabt. Hätte ich den Pfosten ein paar Zentimeter höher erwischt, hätte ich ab dem Hals abwärts gelähmt sein können.“ Seine Mahnung an die Schüler war deutlich: „Überlegt euch immer zweimal, was ihr macht!“

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