In Köln ist exemplarisch ablesbar, wie die Bevölkerung Deutschlands politisch tickt. Ein Gastbeitrag von Ansgar Hudde
Viele Veedel, drei WahlmusterWie Köln politisch tickt und warum Hahnwald heraussticht

In Köln ist exemplarisch ablesbar, wie die Bevölkerung Deutschlands politisch tickt
Copyright: Arton Krasniqi
Ziehen wir in Gedanken einmal einen Kreis um das Kölner Rathaus mit einem Radius von 4,5 Kilometern. Innerhalb dieses Kreises leben genauso viele Kölnerinnen und Kölner wie außerhalb. Doch politisch ticken die beiden Hälften ganz anders – und das wird die Kommunalwahl 2025 prägen. Wenn ich durch einen Ort laufe, frage ich mich oft: Wer lebt hier, und wie ticken diese Menschen politisch? Zur Beantwortung solcher Fragen habe ich die Wahlergebnisse aus allen 94.000 Stimmbezirken Deutschlands analysiert, sie mit Daten zur Sozialstruktur verknüpft und Gespräche im ganzen Land geführt. Die Ergebnisse sind in eine große Studie unter dem Titel „Wo wir wie wählen“ eingeflossen.
Repräsentative Umfragen wie der „Köln-Check“ im Auftrag des „Kölner Stadt-Anzeiger“ sind wertvoll, um Themen zielgenau abzufragen. Für detaillierte Vergleiche zwischen Veedeln fehlen jedoch oft genug Befragte. Hier helfen kleinräumige Wahlergebnisse, denn sie bieten uns einen Einblick in die politische Stimmung jedes einzelnen Veedels. Bei allzu vielen Zahlen verliert man allerdings leicht den Überblick. Deshalb habe ich die Hauptmuster herausgearbeitet: Deutschlands politische Landkarte in vier Wahlmustern. Köln spielt in meinen Untersuchungen eine zentrale Rolle – nicht nur, weil ich hier wohne.
Die Stadt steht exemplarisch für westdeutsche Metropolen. Hier zeigen sich typische Muster besonders klar. Köln ist akademisch geprägt und hat einen Stadtaufbau, der der „Idealform“ einer kreisförmigen Stadt nahekommt. Im Vergleich dazu ist Hamburgs Struktur durch die Wasserlandschaft komplexer, in München mischt sich eine Prise bayerisch-konservativer Prägung unter großstadttypische Eigenschaften. Innerhalb des 4,5-Kilometer-Kreises um das Zentrum Kölns gehören die allermeisten Veedel (85 Prozent) zum „Grün-Links“-Wahlmuster, außerhalb gehören die allermeisten zum „Typisch-Deutschland“-Muster. Die Grenze könnte kaum klarer sein.
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Köln passt in gesamtdeutsches Wahlmuster
Hinzu kommen einige Viertel mit dem „AfD-trifft-Linke“-Wahlmuster, die meisten davon liegen außerhalb des 4,5-Kilometer-Radius. Nicht vertreten ist in Köln das Konservativ-Wahlmuster. Hier sind Union und Freie Wähler stark. Alles links der Mitte schneidet schwach ab. Dieses Wahlmuster kommt fast nur im kleinstädtischen und ländlichen Bayern vor. Wenn ich davon berichte, hat das bislang noch niemanden besonders überrascht.
Die vier Wahlmuster sind erstaunlich stabil. Ob in der Bundestagswahl 2021, der Europawahl 2024 oder der Bundestagswahl 2025 – die geografische Verteilung bleibt jeweils fast unverändert – in Köln wie im Rest des Landes. Die meisten Stimmbezirke passen eindeutig in eines der vier Muster, auch wenn es Mischformen und Ausnahmen gibt. Um eine solche Ausnahme wird es im folgenden noch gehen.
Grün-Links im Zentrum: Ehrenfeld ist Hochburg des Wahlmusters
In den zentrumsnahen Vierteln liegen die Grünen auf Platz eins, die Linke auf Platz zwei. Hier weicht das Wahlverhalten am stärksten vom Bundestrend ab.
Ich wohne in einem solchen Viertel und muss es mir bisweilen selbst in Erinnerung rufen: Was ich vor meiner Haustür erlebe, ist nicht repräsentativ für Deutschland insgesamt. Ehrenfeld ist eine Hochburg des Grün-Links-Wahlmusters. Es gilt als „Hipster-Veedel“ und Paradebeispiel für Gentrifizierung – und solche Viertel wählen fast immer grün-links. Hier leben viele Akademiker und junge Menschen in ihren 20ern und 30ern. Zwischen den einzelnen Grün-Links-Nachbarschaften gibt es jedoch Unterschiede in der Bevölkerungszusammensetzung, die mit den feinen Unterschieden im Wahlverhalten zusammenhängen. Ich nenne es die „Sülz-Kalk-Skala“.
In Sülz leben viele aus der akademisch geprägten Mittelschicht, deren Kinder meist aufs Gymnasium gehen. Das Viertel ist kaum migrantisch geprägt. Je näher die Bevölkerung eines Veedels an der von Sülz liegt, desto weiter liegen die Grünen vor der Linken. Die Wahlbeteiligung ist hoch, und die AfD bleibt unter fünf Prozent. Nach Kalk ziehen zwar immer mehr junge Leute, die studieren oder ihren Studienabschluss schon in der Tasche haben, aber der Akademikeranteil ist noch unterdurchschnittlich.
Hier gehen weniger Kinder aufs Gymnasium, und der Stadtteil ist stark migrantisch geprägt. Je näher ein Viertel Kalk an Kalk liegt, desto stärker schneidet die Linke ab und landet dann teils noch vor den Grünen. Die Wahlbeteiligung ist niedriger, die AfD erreicht etwa zehn Prozent.
Typisch-Deutschland – wo Bundestagswahlen entschieden werden
Wer eine politische Stimmung erleben will, die dem Bundestrend entspricht, muss an den Kölner Stadtrand fahren. Typisch-Deutschland-Viertel findet man etwa in Immendorf und Godorf im Südwesten, in Roggendorf/Thenhoven und Worringen im Nordwesten oder in Elsdorf, Wahn und Lind nahe dem Flughafen. Zwei Drittel aller Deutschen leben in solchen Typisch-Deutschland-Gebieten. Deren Wahlmuster ist über das ganze Land verteilt, besonders häufig in Klein- und Mittelstädten im Westen. In Stadt-Land-Debatten fallen diese Orte oft unter den Tisch. Stattdessen spricht man über Großstadtzentren oder kleine Dörfer mit Kirche in der Mitte.
Doch die meisten Menschen leben weder hier noch dort, sondern dazwischen – und in diesem Dazwischen werden Bundestagswahlen entschieden.
AfD-trifft-Linke: nicht nur im Osten
Im AfD-trifft-Linke-Wahlmuster liegt die AfD klar vorn, aber auch die Linke und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sind überdurchschnittlich stark. Dieses Muster findet sich vor allem in Ostdeutschland, außerhalb der Zentren von Groß- und Universitätsstädten. Doch auch im Westen gibt es solche Gebiete, besonders häufig im Ruhrgebiet. In Köln gehören nur wenige Viertel zu diesem Muster, die meisten außerhalb des 4,5-Kilometer-Kreises.
Dazu zählen Chorweiler – hier ist die AfD am stärksten – und angrenzende Viertel genau wie Teile von Vingst, Humboldt-Gremberg oder Ostheim. Diese Viertel sind sozial benachteiligt und stark migrantisch geprägt. Vor dem Einkaufszentrum in Chorweiler kam ich mit einem älteren Mann ins Gespräch. Er fasste die politische Stimmung als „gleichgültig“ zusammen: „Die meisten hier haben genug damit zu tun, ihr eigenes Leben zu bewältigen.“ Das passt zur niedrigen Wahlbeteiligung.
Ich war in der Woche vor der Europawahl in Chorweiler, und mir fiel auf, dass kein einziges Wahlplakat beschmiert oder beschädigt war – weder die von den Grünen noch die von der AfD, die sonst oft Ziel von Vandalismus sind. Auch das passt – so seltsam es klingen mag – zur Diagnose „Gleichgültigkeit“.
Das Konservativ-Wahlmuster: in Köln nicht vertreten
Auch wenn das Konservativ-Wahlmuster, wie eingangs erwähnt, in Köln nicht vertreten ist, gibt es auch hier Viertel, in denen linke Parteien kaum Stimmen holen.
Speziell ein Stadtteil sticht heraus: SPD, Grüne und Linke zusammengenommen, kommen hier auf gerade einmal 15 Prozent. Das Veedel hat keine Bäckerei, keine Kneipe, keine Schule, keine Apotheke. Der Bus fährt selten und ab dem späteren Abend gar nicht mehr. Haben Sie eine Idee? Hier handelt es sich um Hahnwald. In der Villensiedlung, wo Gerhard Richter, Stefan Raab, Katja Burkard oder Pietro Lombardi wohnen, ging in der Bundestagswahl 2025 jede zweite Stimme an die CDU, jede fünfte an die FDP – eine knappe Dreiviertelmehrheit (72 Prozent) für Schwarz-Gelb. Im gesamten Bundesgebiet gab es nur einen einzigen Stimmbezirk – in Hamburg-Eimsbüttel – der Hahnwald bei den FDP-Stimmen übertraf.
Faszinierende Parallelen zu anderen Metropolen
Die politisch-gesellschaftlichen Stadtpläne Kölns und anderer westdeutscher Metropolen weisen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf: In den Grün-Links-Vierteln ähneln sich Stimmung, Architektur, Geschäfte und Gastronomie – egal ob in Köln, Hamburg oder Frankfurt. Typisch-Deutschland-Gebiete findet man oft dort, wo Einfamilienhäuser, Reihenhäuser und Mehrfamilienhäuser nebeneinander stehen. AfD-trifft-Linke-Hochburgen liegen dagegen meist in Großwohnsiedlungen am Stadtrand – so wie Chorweiler.
Wo wird die Kommunalwahl entschieden?
Diese Muster sind auch bedeutsam für die kommende Kommunalwahl. Die politischen Unterschiede zwischen den Wahlmustern beziehungsweise Stadtvierteln hängen auch mit handfesten Interessenunterschieden zusammen. Ein Beispiel ist die Verkehrspolitik als kommunalpolitischer Dauerbrenner, bei dem die Emotionen zuverlässig hochkochen.
Wer Oberbürgermeisterin oder Oberbürgermeister von ganz Köln werden will, muss die Gegensätze zwischen Ehrenfeld, Worringen und Chorweiler verstehen – und zusammenbringen
Im jüngsten „Köln-Check“ stand Verkehr mit Abstand auf Platz eins der größten Probleme. In den Typisch-Deutschland-Vierteln Kölns außerhalb des 4,5-Kilometer-Kreises wohnen mehr Menschen, die von Hauptverkehrsstraßen in die Innenstadt und von günstigen Parkplätzen profitieren. In den Grün-Links-Vierteln innerhalb des Kreises hingegen gibt es mehr Menschen, die ausgebaute Radwege und verkehrsberuhigte Straßen schätzen. Mit Blick auf die bevorstehende Kommunalwahl am 14. September haben die Grünen und ihre OB-Kandidatin Berîvan Aymaz innerhalb des 4,5-Kilometer-Radius und in den Grün-Links-Veedeln außerhalb aufgrund der politischen Grundausrichtung die besten Chancen. Jenseits dieser Gebiete wird es für sie schwieriger.
Für Markus Greitemann von der CDU und für seine Partei gilt das Gegenteil. Torsten Burmester und die SPD haben gleichmäßiger verteilte Chancen: Die Sozialdemokraten haben in Köln kaum Hochburgen, aber auch kaum Veedel, in denen sie weit abgeschlagen sind. Mehr als Wahlen auf Bundesebene sind Bürgermeisterwahlen vor allem auch Abstimmungen über Personen. Starke Kandidatinnen und Kandidaten können auch außerhalb ihrer Kernklientel punkten. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist Sichtbarkeit. Doch die meisten Kölnerinnen und Kölner kennen wenige Wochen vor der Wahl weder Aymaz noch Burmester oder Greitemann.
Wo bemühen sich die Kandidatin und die Kandidaten aktuell am meisten um Stimmen? Ein Blick auf ihre Instagram-Kanäle lässt vermuten, dass Greitemann häufig außerhalb des 4,5-Kilometer-Kreises und in Typisch-Deutschland-Nachbarschaften unterwegs ist. Von Aymaz sieht man Fotos von Veedelstouren – fast ausschließlich in Grün-Links-Veedeln wie Ehrenfeld, Mülheim oder Sülz. Steckt dahinter eine Strategie, dann lautet sie wohl: Zuerst die eigene Kernklientel mobilisieren. Doch nur mit den Stimmen aus einem einzigen Wahlmuster schaffen es die Kandidierenden vielleicht in die Stichwahl, aber nicht ins Rathaus. Wer Oberbürgermeisterin oder Oberbürgermeister von ganz Köln werden will, muss die Gegensätze zwischen Ehrenfeld, Worringen und Chorweiler verstehen – und zusammenbringen. Präsenz in den verschiedenen Veedeln ist vielleicht ein guter Anfang.