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Nach KStA-Artikel„Keine Karriere, keine Kinder, keine Frau“ – Bekenntnisse eines Sozialphobikers

10 min
05.09.2025 Köln. Herr K. erzählt über das Scheitern seiner Lebenspläne. Protagonist will nicht erkannt werden. Foto: Alexander Schwaiger

Auf dem Sommerfest der Caritas-Werkstatt in Ossendorf liest Andreas K. eigene Geschichten. Vor einigen Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. 

Andreas K. hat wegen einer Sozialphobie nie Karriere gemacht und nie Beziehungen gehabt. Nach einem Artikel im „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat er sich offenbart. Ein Treffen mit einem mutigen Menschen.

„Und was ist aus mir geworden? Für die meisten da draußen bin ich der Prototyp eines Versagers. Keine Karriere, keine Kinder, keine Frau, keine passende Wohnung. Arbeit in der Behinderten-Werkstatt. Leben verpasst wegen Sozialphobie.“ Solche Gedanken schossen Andreas K. durch den Kopf, als er im „Kölner Stadt-Anzeiger“ eine Kolumne von Frank Nägele über ein Treffen 45 Jahre nach dem Abitur las. Nägele hatte von Ralf geschrieben, der ein führender Gen-Forscher in den USA geworden war, von Axel, einem gefeierten Top-Gastronomen, und Aki, Anwalt, der nebenbei ein Heavy-Metal-Label gegründet hatte. „Die Kolumne hat mich getriggert, sie hat auch meinen Widerspruchsgeist geweckt“, sagt Andreas K. an einem warmen Spätsommertag in einem Besprechungsraum der Caritas-Werkstatt im Ossendorfer Industriegebiet. „Auch die Zeitung berichtet ja meistens über Siegertypen und Erfolgsgeschichten.“ Andreas K. schrieb eine lange Mail an Nägele. Sie geriet zu einem Manifest des Scheiterns und las sich gleichzeitig wie ein Akt der Befreiung.

Die Mail zeigt in wenigen Sätzen, wie ein Leben auch verlaufen kann, wenn sich Ängst nicht einhegen lassen

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erhält nicht selten Zuschriften von Menschen, die in Notsituationen sind und persönliche Details aus ihrem Leben preisgeben. Die Mail von K., einem intelligenten und hochsensiblen Mann, der nie ein Leben geführt hat, das die Gesellschaft als „normal“ bezeichnen würde, ist eine Offenbarung von seltener Klarheit und Eindringlichkeit. Sie zeigt in wenigen Sätzen, wie ein Leben auch verlaufen kann – wenn Ängste sich nicht einhegen oder überwinden lassen. Was für eine Willenskraft es braucht, um täglich gegen diese Ängste anzugehen. In dem Schreiben zeigt sich ein Held der Angst, der sich seinen dunklen Gedanken stellt.  Die Mail hält Journalisten auch den Spiegel vor: Wie sehr hängen wir Aufstiegsgeschichten nach, Biografien von Unternehmens- und Parteichefs, Goldmedaillen-Gewinnerinnen, Mythen von Superhelden? Haben wir diejenigen noch ausreichend im Blick und sprechen mit ihnen, die nicht zu den Gewinnern im Kampf um Karriere, Macht und Aufmerksamkeit gehören? Immerhin sind das immer mehr: Das Armutsrisiko steigt, die Anzahl der Menschen, die sich verlassen fühlen und sich vom Staat nicht mehr vertreten fühlen, auch.

„Ich bin mit diesen Mitschülern und Mitschülerinnen nicht zusammen aufgewachsen. Ich hatte nie Freunde in dieser Oberstufe. Ich gehöre nicht zu denjenigen, ‚die es geschafft haben‘ oder auch ‚die es zu etwas gebracht haben‘. Für mich hat jedes Klassentreffen eine leicht unangenehme Komponente, gerade weil ich der ‚typische Versager‘ bin.“ So geht die Mail von Andreas K. los.

Er schreibt über starkes Mobbing in der Grund- und Realschule, das seine erst viel später diagnostizierte Sozialphobie ausgelöst habe. Die Angst, nicht anerkannt und gewollt zu sein, habe er bis heute nicht überwunden. Sie habe sein Leben verhindert.

Sozialphobien gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt. Starke Angst bei Vorträgen, Gesprächen mit Fremden oder Prüfungen sind typische Auslöser. Sieben Prozent der Menschen in Deutschland sind laut Deutschem Ärzteblatt mindestens einmal in ihrem Leben davon betroffen.

„Natürlich hatte ich nie Freunde. Nicht nur hatte meine Sozialphobie aus mir einen Langzeitarbeitslosen gemacht, sie hatte auch erschreckend effektiv dafür gesorgt, daß ich nie eine Freundin hatte, nie geheiratet hatte, nie Familie hatte., schreibt K. Mitleid wolle er bitte nicht. „Dass ich von außen betrachtet der klassische Versager bin, ist einfach ein Fakt.“

05.09.2025 Köln. Herr K. erzählt über das Scheitern seiner Lebenspläne. Protagonist will nicht erkannt werden. Foto: Alexander Schwaiger

Andreas K. möchte anonym bleiben, er hat Sorge vor Hetze in sozialen Medien.

Andreas K. ist 55 Jahre alt und arbeitet seit vielen Jahren in der Caritas-Werkstatt für Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen in Ossendorf. In der EDV-Abteilung kümmert er sich um die Warenwirtschaft, erstellt Rechnungen und Tabellen.

Die Einsamkeit war für mich immer ein deutlich größeres Problem als die Tatsache, dass ich nicht meinen Traumberuf ergreifen konnte
Andreas K. (55)

Als „erwerbsgemindert Beschäftigter“ verdient er knapp 500 Euro im Monat, dazu bezieht er Grundsicherung. „Hier werde ich als kompetent anerkannt und habe Menschen, die mich verstehen“, sagt er. Die habe er in der Welt draußen nie gefunden. „Die Einsamkeit war für mich immer ein deutlich größeres Problem als die Tatsache, dass ich nicht meinen Traumberuf ergreifen konnte.“ Paläontologe wollte Andreas K. als junger Mensch werden.

In seiner Mail schreibt er: „Es gibt immer jemanden, dem es schlechter geht als dir. In diesem Falle bin das ich. Ich bin derjenige, auf den sie herabsehen können, um sich zu vergewissern: So schlecht war es doch gar nicht.“

Frank Nägele ist beeindruckt von dem Text und schreibt K. ausführlich zurück. Er fragt ihn, ob er es sich vorstellen könnte, einen Teil seiner Biografie für die Zeitung zu erzählen. Es dauert ein wenig, bis Andreas K. zurückschreibt, dass er „nicht abgeneigt“ sei. Er plane ohnehin ein Buchprojekt mit seinen gesammelten Geschichten, Fantasy und Gedichte, Essays und Experimentelles – und, wer weiß, eines Tages, eine Biografie.

„Vom Scheitern“, so könnte der Titel seiner Biografie lauten, sagt er bei dem Gespräch in der Werkstatt, in der 140 Menschen mit körperlicher, geistiger und seelischer Beeinträchtigung für einen Konzern Autoteile verpacken. Womöglich folgt der Untertitel: Wie ich eines Tages lernte zu fliegen. Denn: „Ich bin gerade dabei, meine Flügel zu entfalten.“ Das zeigt nicht nur seine Mail.

Ein paar Tage nach dem ersten Gespräch sitzt Andreas K., Nickelbrille und graumeliertes Haar, Hemd und Hosenträger, in einem kleinen Raum der Behinderten-Werkstatt und liest einen poetischen Text, in dem er als Suchender durch die Wälder wandelt und „hinter dem dünnen Vorhang der Realität“ eine andere Welt sucht, während draußen vor dem Fenster die Beschäftigten zu Helene Fischers „Atemlos in der Nacht“ grölen und tanzen. Andreas K. zieht die Mundwinkel hoch, sein Lächeln geht nach Innen. „Party machen ist nicht so meins“, sagt er. „Aber jeder so, wie er will.“ Als er kurz zuvor draußen vor der Bühne am Mikrofon stand und ankündigte, dass seine Lesung gleich beginne, hatte er das so leise getan, dass es im fröhlichen Getöse fast unterging.

K. liest antike Literatur, Archäologie-Hefte, er schreibt seit 30 Jahren Gedichte und Kurzgeschichten

Die Lesung ist wichtig für ihn. Vor einigen Jahren noch hätte er sich nicht getraut, vor Menschen zu sitzen und seine Geschichten vorzutragen. Hätte keine Mail an eine Redaktion geschrieben, hätte nicht mit einem Journalisten über sein Leben gesprochen. Jetzt befasse er sich ernsthaft mit dem Gedanken, sein Leben mit allen Tiefschlägen und Verletzungen aufzuschreiben. Den Text, den er 16 Betreuern und Beschäftigten der Werkstatt vorliest, heißt „To the Unicorn“. Untertitel: „Beyond the Gates, beyond Reality, we are there, we are one.“ Übersetzt: An das Einhorn – Jenseits der Tore, jenseits der Realität, sind wir dort, wir sind eins.“

K. liest ins Deutsche übersetzte antike Literatur, Archäologie-Hefte, er schreibt seit 30 Jahren Gedichte und Kurzgeschichten. Er spricht wie ein Mensch, der viel liest und denkt. Er sieht aus wie ein etwas nerdiger Erfinder aus einem Hollywoodfilm. „Hier im Betrieb bin ich wegen meines Kulturwissens und meiner intellektuellen Erfahrungen das Einhorn“, sagt er.

Eigentlich habe er gute Anlagen gehabt für eine „normale“ Karriere. „Ich war als Kind neugierig und habe mich für viele Dinge interessiert, für Dinosaurier zum Beispiel und Fossilien. Ich hatte ein sehr gutes Gedächtnis und war den meisten Kindern mit zehn, zwölf Jahren intellektuell weit voraus. Aber ich war immer auch der, den die anderen als den kleinen Idioten verspottet haben.“ Er erinnert sich an Jungs, die ihn in der Realschule beim Essen und Trinken nachäfften, die Grimassen zogen, sobald sie ihn sahen, die ihn irgendwann, Jahre später, im Traum verfolgten.

Andreas K. geriet nicht vollends aus der Bahn: Er wechselte von der Realschule zum Gymnasium, erfuhr keine Zurückweisung mehr, wiederholte eine Klasse, machte Abitur. Das naturwissenschaftliche Studium habe er wegen seiner Rechenschwäche abbrechen müssen. Dafür eine Ausbildung zum Fachinformatiker begonnen und abgeschlossen. Mit Logik habe er nie Probleme gehabt. „Nach meinem Abschluss kurz nach der Jahrtausendwende gab es den bekannten Zusammenbruch des IT-Stellenmarkts. Ich habe nie eine Arbeitsstelle gefunden.“ Vor allem, weil er immer das Gefühl gehabt habe, nicht gut genug zu sein: „Ich habe mich für die meisten Stellen vorab selbst aussortiert.“ Und hatte immer diese krankhafte Angst vor negativen Reaktionen von Mitmenschen.“

05.09.2025 Köln. Herr K. erzählt über das Scheitern seiner Lebenspläne. Protagonist will nicht erkannt werden. Foto: Alexander Schwaiger

Die Lesung ist für Andreas K. ein Schritt, um seine Ängste zu überwinden.

Ein paar kurze Fernbeziehungen zu Frauen habe er gehabt, sagt er, die letzte vor 18 Jahren. „Bei der Suche schlägt mein Minderwertigkeitskomplex, nicht genügen zu können, durch.“ Er nutze noch gelegentlich Kennenlernplattformen im Internet, habe aber weiterhin Angst, nicht gut genug zu sein.  „Die meisten Frauen in meinem Alter sind geschieden und haben Familie, sie suchen Männer mit Erfahrungen, die ich nicht gemacht habe.“

Andreas K., der lange überlegt hat, mit vollem Namen in der Zeitung zu erscheinen, sich „wegen der Unkultur auf Social Media“ aber dagegen entschieden hat, spricht das alles sehr ruhig aus. Mit 40 hat er die erste Therapie gemacht. Seitdem arbeitet er seine Traumata auf. „Ich verstehe inzwischen besser, warum ich geworden bin, wer ich bin“, sagt er. „Ich mache Fortschritte. Es könnte noch ein bisschen was werden aus mir.“ Er lächelt.

Anke Everskemper, Sozialarbeiterin und Leiterin des Bereichs Rehabilitation in der Einrichtung, glaubt das auch: „Andreas hat in den vergangenen Jahren riesige Fortschritte gemacht. Die Mail an die Redaktion, auch, dass er locker mit anderen redet, eine Lesung macht – das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.“

Die Zahl psychisch erkrankter Menschen nimmt stark zu

Auf dem Sommerfest liest er auch ein satirisches Bewerbungsschreiben vor. „Ich bewerbe mich unterwürfigst und komme mit weniger als dem allernotwendigsten aus“, auch „Schläge und andere Folterinstrumente“ akzeptiere er, „wenn es sein muss“, und wolle auch nicht zwingend etwas verdienen. Der Text erinnert an die Kleinanzeige, die der Kölner Investigativjournalist Günter Wallraff als Hilfarbeiter „Ali“ vor 40 Jahren aufgab: „Ausländer, kräftig, sucht Arbeit, egal was, auch Schwerst- u. Drecksarbeit, auch für wenig Geld.“ Die bewusst enthemmende Aussage dahinter – Ihr könnt alles mit mir machen – liefert die Gewissensfrage gleich mit: Werdet ihr auch alles mit mir machen?

Die Beschäftigten der Werkstatt lachen über Andreas K.s Satire. „Ich wollte mich darüber lustig machen, dass man sich in Bewerbungen ganz schön zum Affen macht“, sagt Andreas K. „Aber natürlich steckt auch etwas Ernstes, Autobiografisches dahinter. Ich fand mich immer zu schlecht und unfähig für alle möglichen Jobs.“

Die Zahl psychisch erkrankter Menschen hat in Deutschland in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Es gibt immer mehr Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Erkrankungen, mehr Krankmeldungen wegen mentaler Probleme. Die Zahl depressiver Jugendlicher ist infolge der Corona-Pandemie stark gestiegen. Der DAK-Gesundheitsreport zählte im vergangenen Jahr 183 Fehltage auf 100 Beschäftigte allein wegen Depressionen – im Jahr 2023 waren es 122 Fehltage. Andreas K., der auf der Arbeit fast nie fehlt, ist mit seinen Ängsten nicht allein.

Nach der „Gauß’schen Normalverteilungskurve liege ich im Randbereich
Andreas K.

Und er geht nicht erst seit seiner Mail an die Redaktion mutig dagegen an. Er hat den Verein Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität mitgegründet und sich darin einige Jahre engagiert. „Wenn es wie bei einem Sommerfest hier zu laut wird, ich viele Menschen treffe und Reize auf mich einprasseln, stresst mich das sehr“, sagt er. Weil er besonders sensibel gegenüber Stimmungen und sozialen Situationen sei, „macht das die Suche einer Partnerin auch nicht einfacher“. Nach der „Gauß’schen Normalverteilungskurve liege ich im Randbereich“. Auch das, sagt Andreas K., habe er inzwischen akzeptiert. Als er vor einigen Jahren zu einem Abi-Treffen gegangen sei, habe man wenig über Karriere und Familie geredet – „ich habe mich ein bisschen fremd gefühlt, aber auch ganz nett unterhalten. Es war eigentlich ganz okay“.

Seine erfundenen Geschichten haben fast immer ein Happy-End. „Da geht es immer auch um Heilung.“ Bei der Einhorn-Geschichte steht der Ich-Erzähler am Ende mit dem Einhorn auf einer Lichtung im Wald, die beiden sprechen miteinander und sind sich selbst genug – sie haben ihre Heimat gefunden.

K.s Mail an den Kollegen Nägele endet anders: „Jedes Mal, wenn ich ein Paar in der Kölner Innenstadt sehe, dann kommt es mir vor wie eine Verhöhnung: Wir haben uns gefunden. Und du?“ Und jedes Mal, wenn es zu einem Klassentreffen komme, „dann kommt es mir vor, wie eine Verhöhnung: Wir haben es geschafft. Und du? Ich bin der Versager“, schreibt er da. „Aber da ging es natürlich auch um die Dramaturgie des Textes“, sagt Andreas K. „Versager, das ist eine Kategorie, die Gesellschaft für Menschen wie mich bereithält. Das ist so. Ich denke trotzdem: Aus mir kann noch etwas werden.“