Bitte nicht nur studierenWarum systemrelevante Ausbildung einen Top-Ruf verdient hat

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Alexandra Hantusch macht eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten. „Ich wollte schnell auf eigenen Beinen stehen und für mich und die Kleine sorgen können.“

  • Klempner oder Krankenschwester haben die wenigsten Eltern im Kopf, wenn sie sich die berufliche Zukunft ihres Nachwuchses ausmalen.
  • Dabei halten Menschen, die in Handwerks- und Pflegeberufen anpacken, die Gesellschaft zusammen.
  • Ein Landschaftsgärtner, ein Schreiner und eine Medizinische Fachangestellte berichten, warum sie sich trotz guter Noten für eine Ausbildung entschieden haben.

Köln – Manchmal führt der direkte Weg zum beruflichen Glück: Abitur, Medizinstudium, Promotion, Habilitation, zusammen mit dem Ehemann Gründung eines Biotechnologieunternehmens. Und schließlich die Entwicklung eines Impfstoffes, der die Welt aus den Fängen einer Pandemie befreien kann. So lesen sich die Eckdaten der Karriere von Biontech-Mitbegründerin Özlem Türeci. Die 54-Jährige ist in Niedersachsen aufgewachsen und zur Schule gegangen und hat im Saarland studiert. Sie hat einen Marsch durch das deutsche Bildungssystem hingelegt, wie wir ihn uns für unsere Kinder erträumen. Im Geheimen. Weil Fußballprofi ja wohl eher nichts werden wird.

Klempner oder Krankenschwester haben die wenigsten Eltern im Kopf, wenn sie sich die berufliche Zukunft ihres Nachwuchses ausmalen. Und auch der Wunsch der Kinder, Müllmann oder Baggerfahrerin zu werden, überdauert selten die Vorschulzeit. Jobs im Handwerk oder der Pflege bringen zu wenig Geld und keinen hinreichenden gesellschaftlichen Status. Heißt es. Müssen aber gemacht werden. Sind sogar „systemrelevant“, wie uns diese unsägliche Corona-Pandemie gerade lehrt. Wir brauchen die Verkäuferin, die Toilettenpapier und Nudeln abkassiert, genauso dringend wie die Impfstoffentwickler. Und die Krankenschwester auf der Intensivstation sowieso.

Und doch wollen alle am liebsten studieren. Ins Handwerk oder in die Pflege geht fast nur, wer Abitur oder Studium nicht schafft. Auch deshalb mangelt es an allen Ecken und Enden an Fachkräften. Die Oma bekommt im Altenheim nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätte. Wenn im Winter die Heizung ausfällt, müssen wir ein paar Tage frieren, bevor endlich mal ein Installateur Zeit hat. Und an unseren Fahrrädern machen wir uns selbst die Finger schmierig, weil die Werkstatt um die Ecke auf Wochen ausgebucht ist.

Noch viel düsterer ist das Bild, das der britische Autor David Goodhart in seinem Buch „Kopf, Hand, Herz – Das neue Ringen um Status“ zeichnet. Mit dem Slogan „was wir verlieren, wenn alle studieren“ bewirbt sein Verlag die deutsche Ausgabe. „Die Schlauen haben zu viel Macht“, schreibt Goodhart. Und sieht darin einen Grund für den zunehmenden Populismus in der westlichen Welt. Donald Trump als Präsident der USA, die Briten und der Brexit, die AfD im deutschen Bundestag – für Goodhart sind das deutliche Zeichen, dass „sich zu viele Menschen von unserer liberalen und kognitiven Leistungsgesellschaft ausgeschlossen fühlen“.

Akademiker, Goodhart nennt sie die Kopf-Arbeiter, erhalten demnach zu viel Status und Anerkennung, und alle anderen (die Hand- und Herz-Arbeiter im Handwerk und in den Pflegeberufen) zu wenig. „Wir haben die Definition eines gelungenen Lebens zu eng gefasst und den Weg dorthin mit dem Studium zu schmal gestaltet“, schreibt Goodhart.

Schwanger mit 19. Ohne Job

Wer studieren könnte und es nicht tut, braucht ein dickes Fell. Wie Alexandra Hantusch. In der sechsten Klasse wurden ihr Französisch und Mathe zum Verhängnis. Es hieß: Sitzenbleiben oder ab auf die Realschule. Sie entschied sich für den Schulwechsel, das Jahr wiederholen wollte sie auf keinen Fall.

Am Ende der zehnten Klasse fehlten dann wenige Punkte, um ans Gymnasium zurückzukehren. Hantusch arbeitete zunächst im Altenheim, verdiente sich das Geld für den Führerschein. Dann machte sie am Berufskolleg Fachabitur. Das war gerade geschafft, da wurde sie schwanger. Mit 19 Jahren. Ohne Job. Ihren Freund kannte sie erst seit drei Monaten.

Heute ist Tochter Johanna zweieinhalb Jahre alt, ein quirliges Mädchen mit blonden Locken. Nachdem Hantusch zum ersten Mal ihren Herzschlag im Ultraschall gesehen hatte, war an einen Schwangerschafts-Abbruch nicht mehr zu denken. Sie zog das durch, sie bekam ihr Kind, trotz all der Bedenken, die ihr entgegenschlugen. Seit dem vergangenen Sommer absolviert sie nun eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer orthopädischen Praxis in Bensberg.

Ein Studium? Kam nicht infrage. „Ich wollte schnell auf eigenen Beinen stehen und für mich und die Kleine sorgen können. Ich wusste ja nicht, ob die Beziehung klappt“, sagt Hantusch.

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Und überhaupt: „Nur, weil man studiert hat, heißt das ja nicht, dass man drei Mark mehr im Portemonnaie hat und schlauer ist.“ Oder gar glücklicher. „Ich habe mir nie reinreden lassen. Ich habe meinen Sturkopf, der wirft mich manchmal zurück, aber am Ende hat er mich im Leben immer vorangebracht.“ Hantusch ist hochgewachsen, knapp 1,90 Meter lang. Ihr liebstes Hobby: Handball. Zweimal Training unter der Woche und Verbandsligaspiele am Wochenende. Ihr Sport war nie verhandelbar. Genauso wenig wie ihre Tochter. „Ich mache in meinem Leben vielleicht einiges anders als andere“, sagt Hantusch: „Aber ich komme immer zum Ziel.“

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Ruben Hensch hat studiert und macht jetzt eine Ausbildung als Tischler.

Ihre Beziehung hält. Gerade ist die junge Familie in eine größere Wohnung gezogen. Zwei von acht Paaren, mit denen Hantusch und ihr Freund den Geburtsvorbereitungs-Kurs besuchten, haben sich bereits getrennt. Sie waren um die 40. Hantusch erzählt das ohne Häme in der Stimme. Aber ein bisschen Stolz schwingt schon mit.

David Goodhart, der britische Autor, hat vier erwachsene Kinder. Sie haben alle studiert. Etwas anderes kam dem Journalisten, der in den 90er Jahren als Deutschland-Korrespondent für die Financial Times in Bonn arbeitete, für seinen Nachwuchs nicht in den Sinn. Ein Sohn ist heute Ingenieur, da habe sich das Studium gelohnt. Bei seinen anderen Kindern sei es eher Luxus gewesen, „drei Jahre philosophische Texte zu lesen“. Heute würde er ihnen raten, direkt in einen Beruf einzusteigen.

„Wir brauchen weniger akademische Bildung“, sagt Goodhart. Bitte nicht missverstehen. Das ist dem 65-Jährigen wichtig. Die Türecis dieser Welt sollen auch künftig keine Ausbildung zur Zahnarzthelferin absolvieren. „Aber es macht keinen Unterschied für unsere Forschungslandschaft, ob 60 Prozent der Schulabgänger an die Uni gehen oder nur 20“, betont Goodhart. Soll heißen: Die Hochintelligenten, diejenigen, die Impfstoffe zur Pandemiebekämpfung entwickeln oder Technologien zur Rettung des Klimas erfinden, gehen sowieso ihren Weg. Es drängt sie zu tun, was sie zu tun vermögen. Viele andere jedoch werden gedrängt zu versuchen, was sie nicht besonders gut können.

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Sebastian Kersten hat studiert, fand sein Glück aber als Gartenbauer.

„95 Prozent aller Menschen sind nicht brillant“, sagt David Goodhart: „Wir sind ganz normal, mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, die alle wichtig sind für unser Zusammenleben.“ Und doch sind es die kognitiv-analytischen Fähigkeiten, für die es zuallererst Geld und Anerkennung gibt.

Herzensmenschen dagegen, mit viel emotionaler Intelligenz ausgestattete Krankenschwestern, Kindergärtner oder Altenpfleger, stehen deutlich weiter unten auf der Statusleiter. Ebenso wie die einfachen Handwerker, ohne deren Finesse mancher Hochschulabsolvent kein Dach über seinem schlauen Kopf hätte. Das sei mal anders gewesen, betont Goodhart: „Unsere Wirtschaft und Gesellschaft bot einst Platz für ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen – in den Lehrberufen, in der Landarbeit, in der Armee, in der Kirche und im privaten Bereich der Familie.“ Heute würden dagegen vorwiegend Akademiker begünstigt.

60 Prozent werden Akademiker

Kein Wunder also, dass sich fast 60 Prozent der Schulabgänger eines Jahrgangs in Deutschland für den akademischen Weg entscheiden. So beziffert es die Handwerkskammer zu Köln. Nur 40 Prozent beginnen demnach eine Ausbildung. Vor zehn Jahren sei das Verhältnis noch umgekehrt gewesen. Und vor 50 Jahren sah es ganz anders aus. „Damals war es gut, dass immer mehr Universitäten gegründet wurden, das Angebot an kognitiven Arbeitsplätzen war stark gestiegen“, sagt Goodhart. Inzwischen übersteige das Angebot an Studierten jedoch massiv den Bedarf. Das Resultat: Die Akademiker-Löhne sinken. Und viele Absolventen finden heute gar nicht erst eine ihrem Abschluss entsprechende Arbeit.

Oder sie finden eine, mögen sie aber nicht. So ist es Sebastian Kersten ergangen. Er hat Agrarwissenschaften studiert. Weil für ihn außer Frage stand, dass aufs Abitur ein Studium folgen muss. „Und weil ich Grün gut fand“, erzählt er. Anschließend arbeitete Kersten in einem Ingenieurbüro für Umweltplanung. Schnell landete er in der Abteilung für Schall-Akustik-Gutachten. Er saß den ganzen Tag am Rechner und kämpfte mit einem komplizierten Computer-Programm. „Die Arbeit war frustrierend, da habe ich sehr schnell mit aufgehört“, erklärt der 43 Jahre alte Vater von drei Kindern.

Der Weg, der doch so zielsicher ins berufliche Glück führen sollte, endete für Sebastian Kersten in Stress, Frust, Arbeitslosigkeit. Heute kann er wieder lachen. Mit einer Heckenschere in der Hand steht er am Grundstück eines Kunden in Bergisch Gladbach. In einem bundesweiten Franchise-Verbund hat er sich als Garten- und Landschaftsbauer selbstständig gemacht. Er kann sich kaum retten vor Aufträgen und würde gern einen gelernten Gartenbauer einstellen. Aber er findet niemanden. Sein Helfer an diesem Tag ist Samuel Grote – Pädagogik-Student. Die Lust auf Handarbeit liegt uns im Blut. Das zeigt sich deutlich in aktuellen Trends: Wir backen, pflanzen, stricken, basteln, reparieren, renovieren was das Zeug hält. Unsere Hände wollen mehr tun als nur die Computer-Tastatur bedienen. Und unser Gehirn lechzt nach Ausgleich. Die Gedanken wollen munter schweifen, während die Hände eifrig schuften. Warum also nicht gleich Geld mit dem verdienen, was uns Zufriedenheit bringt?

Lehre lohnt sich auch finanziell

Wäre eine Ausbildung der bessere Weg für Kersten gewesen? „Finanziell hätte sich das für mich sicher mehr gelohnt“, sagt er: „Reich wird man als einfacher Angestellter mit Ausbildung im Handwerk zwar nicht, aber man kann davon leben.“ Und als Meister oder Betriebsinhaber eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten.

Im Kölner Bezirk seien aktuell rund 300 Ausbildungsplätze offen, sagt Simone Marhenke, Geschäftsführerin Bildung bei der Handwerkskammer zu Köln. Ihr wichtigstes Anliegen: „Wir hätten gern mehr junge Menschen mit einem höheren Schulabschluss.“ Die Anforderungen in einigen Handwerksberufen seien inzwischen sehr hoch. Zudem mangele es an potenziellen Führungskräften. „Und ein Studium ist nicht zwangsläufig ein Freifahrtschein in ein gutes Leben“, sagt Marhenke.

Von allen derzeit aktiven Auszubildenden im Kammerbezirk Köln sind 19,7 Prozent Abiturienten. Immerhin. Damit liegt Köln über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 2020, der mit 15,8 Prozent angegeben wird. Aktuell gibt es im Kölner Handwerk etwa 1,2 Ausbildungsstellen pro Bewerber. Besonders beliebt sind die Ausbildungsberufe KFZ-Mechatroniker und Friseurin. Vor allem angehende Fachverkäufer für das Lebensmittel-Handwerk (111 offene Stellen), Bäcker (47) und Anlagen-Mechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (24) werden noch händeringend gesucht.

Tischlermeister dagegen haben eher seltener Probleme bei der Suche nach geeigneten Auszubildenden. Ihre Branche ist beliebt, auch bei Abiturienten oder studierten Umschülern. Bei Oliver Linnenbrink stapeln sich die Anfragen. Und Ruben Hensch ist glücklich, in der Werkstattgemeinschaft in Niehl untergekommen zu sein. Der 28-Jährige ist studierter Sozialwissenschaftler – hat aber nie in diesem Beruf gearbeitet. „Er hat mich nicht befriedigt“, sagt Hensch. Warum dann das Studium? „Es war der logische Anschluss an das Abitur, da bin ich mit der Masse gegangen.“

Nach dem Abschluss jobbte er beim Film, landete schließlich beim Filmkulissenbau und entdeckte dort seine Vorliebe für die Arbeit mit dem Werkstoff Holz. Die Tischler-Ausbildung gefällt ihm. Aber er warnt vor einer Romantisierung des Berufs. „Das ist viel Arbeit und teilweise keine einfache, da muss man auch mal was wegbeißen“, sagt Hensch. Und wo gehört er nun hin? Zu den Kopf-Arbeitern? Oder zu den Hand-Arbeitern? „Die Frage der gesellschaftlichen Verortung kommt natürlich auf, der soziale Vergleich schwingt immer mit“, sagt der 28-Jährige: „Ein angestellter Schreiner-Geselle wird nicht gut bezahlt, da müsste tarifmäßig mal etwas geregelt werden.“ Zumal: „Die größeren Betriebe verdienen sich gerade eine goldene Nase.“ Die Motivation, einen Handwerksberuf zu ergreifen, würde seiner Ansicht nach mit höheren Gehältern steigen: „Das Selbstwertgefühl ist nun mal für einige Menschen an den ökonomischen Status gekoppelt.“

Es wird sich was ändern

Womit wir wieder bei David Goodhart sind und seiner Theorie, dass Menschen mit Hand- und Herz-Berufen mehr finanzielle Anerkennung und einen besseren Status erhalten müssen, um die Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten. Aber wie? Wie können Eltern lernen, dass die Zukunft ihrer Kinder auch als Fahrrad-Mechatroniker im rosigsten Rosarot schimmern kann? „Einen Teil wird der Markt von ganz allein regeln“, ist Goodhart überzeugt. Wenn sich all die ausgeklügelten Studiengänge nicht mehr lohnen, die Ausbildung zum dringend gesuchten Klimaanlagen-Installateur aber schon, wird sich etwas ändern. In den Köpfen der Eltern, an den Plänen der Kinder, im Empfinden der Gesellschaft.

„Zusätzlich brauchen wir eine neue Generation Politiker“, sagt Goodhart. „Die müssen das Problem erkennen und eine Brücke bauen.“ An ein paar Schrauben drehen, damit der Kopf wieder mit Hand und Herz im Einklang funktioniert. Braucht es dafür ein Studium? Eine Ausbildung? Ein bisschen Superhirn à la Özlem Türeci? Oder ein dickes Fell, wie es die Handballerin und junge Mutter Alexander Hantusch hat?

Wer weiß das schon. Sicher ist nur: Wege zum Glück gibt es viele.

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