„Es hat uns alle geschockt“Nachruf auf den Kölner Winfried Even, der das Leben liebte

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Winfried Even starb am 1. April 2020 in Köln.

  • In unserer Serie Nachrufe erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind.
  • Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt.
  • Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden. Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.

Köln – „Wir sind bestürzt, einen so tollen Arzt verloren zu haben“, trauert eine Familie. „Es gibt ein paar wenige Menschen, da fühlt man sich alleine durch die Gegenwart der Person schon wohl. So positiv, so beruhigend, so humorvoll“, hält jemand anders fest. Einen „tollen, herzlichen, offenen, hilfsbereiten Menschen“ nennt ihn eine Frau. Solche Worte sind im Internet unter den Anzeigen zu lesen, die zum Tod von Dr. Winfried Even geschaltet worden sind. Im vergangenen April ist der Kölner Kinder- und Jugendpsychiater, der seinen Beruf ebenso wie das Leben liebte und auf eine gesunde Lebensweise bedacht war, völlig unerwartet gestorben.

Am Morgen jenes Tages, nachdem er auf dem Laufband trainiert hatte, wurde er tot in der Küche gefunden. „Da steht jemand mitten im Leben, kippt um und ist tot. Es hat uns alle geschockt“, sagt Stefan Lange, der gut mit Even befreundet war. Die Plötzlichkeit des Todes mache es noch immer schwierig, damit fertig zu werden. Als „lebensbejahende Integrationsfigur“ bezeichnet ihn Oliver Tibussek, ein anderer enger Freund. „Fair und feinsinnig“ sei er gewesen, begabt mit „rheinländischem Frohsinn“ und voller Optimismus, sagt Dr. Carsten Reister, der 18 Jahre lang mit Even die Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Breite Straße geleitet hat.

Winfried Even engagierte sich in der Umwelt- und Friedensbewegung

Geboren wurde Winfried Even 1962 in Bonn. Sein Vater Bert war zwölf Jahre lang CDU-Abgeordneter des Bundestags und bis 1990 Präsident des Bundesverwaltungsamts. „Unser Elternhaus war konservativ, aber weltoffen und liberal“, sagt Burkhard Even, der ältere Bruder. Dass sich Winfried Even, Sohn aus katholisch-gutbürgerlicher Familie, später in der Umwelt- und Friedensbewegung engagierte und einer anderen Partei beitrat, habe aus der Familie gleichsam eine „schwarz-grüne Koalition“ gemacht. Es tat dem guten Verhältnis zu den Eltern jedenfalls keinen Abbruch.

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1970 zogen sie mit ihren beiden Söhnen und der zwei Jahre zuvor geborenen Tochter Astrid nach Köln um. Auf dem Gymnasium Rodenkirchen machte Winfried Even Abitur. Den Zivildienst leistete er in einem Kindergarten für Jungen und Mädchen mit Behinderung ab.

„Er hatte große Freude am Umgang mit Kindern“, sagt Diplom-Pädagoge Tibussek, der sich als Geschäftsführer des Zentrums für Interdisziplinäre Frühförderung und Frühbehandlung Köln oft auch fachlich mit ihm austauschte. In Aachen studierte Even ein Semester lang Psychologie, bevor er zum Medizin-Studium an die Universität Köln wechselte.

In Australien kümmerte sich der Kölner um die Gesundheit der Aborigines

Anne Heisterkamp, eine Kommilitonin, wurde ihm zur guten Freundin. Zwölf Jahre lang lebten sie in Wohngemeinschaften zusammen. Sie leiteten zu zweit Gruppen von Studenten, die im Rahmen ihrer Ausbildung Patienten zu deren Krankengeschichte befragten, verreisten gemeinsam und feierten zuhause manche Party. „Ich hatte das Gefühl, er ist immer für mich da“, sagt die Ärztin. Über ein halbes Jahr verbrachte Even während des Studiums in Australien, wo er sich unter anderem um die Gesundheit von Aborigines kümmerte.

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Zurück in Köln, schloss er sein Studium ab. Anfang 1992 begann er, im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße zu arbeiten und blieb dort sechs Jahre. Unter anderem war er auf der Intensivstation tätig, die auf die Betreuung frühgeborener Kinder spezialisiert ist, und auf der chirurgischen Station. Mit einem Diplom-Psychologen baute er eine Ambulanz für so genannte Schreibabys auf. Und er war Ansprechpartner beim Verdacht auf Kindesmisshandlung; denn Eltern, deren Säuglinge exzessiv schreien, werden nicht selten gewalttätig.

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Winfried Even im Jahr 2018 im Urlaub in Schweden. 

1995 kam Winfried Even mit seiner späteren Frau Sabine zusammen, die damals als Krankenschwester in der Kinderklinik arbeitete. Im selben Jahr begann er, sich in der Kölner Uniklinik zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ausbilden zu lassen. Er rief eine Spezialambulanz für Säuglinge und Kleinkinder ins Leben, war auf der Kinder- und Jugendstation eingesetzt, in der Kindertagesklinik und der allgemeinen Ambulanz.

In dieser Zeit lernte er Carsten Reister kennen. Sie beschlossen, in der Innenstadt eine sozialpsychiatrische Gemeinschaftspraxis zu gründen. 2002 war es so weit. Die Aufgabenteilung sah vor, dass Even sich vorwiegend der Jungen und Mädchen bis zu drei Jahren annahm und sein Kompagnon der älteren Kinder und der Jugendlichen. Zum Team zählten mehrere Therapeuten.

Even hatte schon viel Erfahrung damit, Säuglinge zu behandeln, die extrem viel schreien, schlecht schlafen oder Probleme beim Essen zeigen. Zusammengefasst werden diese Schwierigkeiten mit dem Begriff „Regulationsstörungen“. In solchen Fällen ist stets die Rolle der Eltern zu berücksichtigen. Verhält sich das Baby nicht normal, weil unabhängig von äußeren Einflüssen die Entwicklung gestört ist wie zum Beispiel beim Autismus? Oder reagiert es auf Eheprobleme oder Krankheiten der Eltern, etwa darauf, dass die Mutter womöglich depressiv oder der Vater alkoholsüchtig ist?

Große Sensibilität im Umgang mit den jungen Patienten

Even, der damit arbeitete, das Verhalten der Kinder auf Videoaufnahmen zu analysieren, kam in seinem Beruf zugute, dass er fachärztlich doppelt ausgebildet war. So, wie Reister ihn schildert, zeigte er große Sensibilität im Umgang mit den Patienten, ihren Müttern und Vätern. „Er ist uns ans Herz gewachsen“, sagt Dorothee Plum, die ihn mit ihrem Sohn, seit dieser vier Jahre alt war, häufig konsultierte. „Er war ein besonderer Typ, immer positiv, wohlwollend, und er hatte einen guten Humor.“ Die Sitzungen seien zugleich „konstruktiv und lustig“ gewesen.

„Er war mit Herzblut bei der Sache“, sagt Reister und nennt Even einen „ausgewiesenen Experten und Pionier in der Region.“ Die Praxis wurde bald nach der Gründung über Köln hinaus bekannt. Sein Wissen gab Even als Dozent und als Referent auf Kongressen weiter.

Mit dem Rad zur Arbeit und zur Demo in den Hambacher Forst

Auch privat fand er Erfüllung. Drei Kinder kamen zur Welt. Die ältere Tochter studiert Psychologie, die andere Medizininformatik; sein Sohn ist erst zwölf. Von Ehrenfeld, wo er sich bei den Grünen engagierte, pflegte der Arzt mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Dies entsprach seinen ökologischen Prinzipien. In den 80er Jahren hatte er wie so viele gegen das Vorhaben demonstriert, in Wackersdorf eine Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe aus deutschen Kernreaktoren zu bauen.

Jahrzehnte später ließ er kaum eine Demonstration gegen die Abholzung des Hambacher Forsts aus. Bei einem als Prozession organisierten Protest dagegen, dass im Rheinischen Braunkohlerevier die Orte Manheim und Morschenich dem Tagebau weichen sollten, sagte er dem Domradio: „Als Christ stehe ich für gewisse Werte: Soll es um Gier gehen, um die Profitinteressen von Konzernen? Oder um die Zukunft der nächsten Generationen?“

Gelegentlich sei er „missionarisch“ geworden

Burkhard Even erwähnt, sein Bruder habe selbst dann noch E-Mails mit dem Logo „Atomkraft? Nein danke“ gesendet, als der Atomausstieg längst beschlossene Sache war. Mit dem Auto sei er selten schneller als 100 gefahren, und wo es ging, habe er auf Energieeinsparung geachtet. Gelegentlich sei er „missionarisch“ geworden, dies aber „auf eine gewinnende Art“. Anne Heisterkamp: „Er war überzeugend und mitreißend, kämpferisch, aber nicht aggressiv.“ Stefan Lange: „Er stand hundertpro dahinter, war aber nicht starrköpfig und für andere Meinungen offen.“

„Manchmal habe ich mich gefragt, woher er all die Energie nimmt“, sagt Reister, der die neu aufgestellte Praxis in der Breite Straße weiterführt. Even brannte für seinen Beruf, war politisch aktiv, immer für seine Familie da, widmete sich der Fotografie — und gehörte bei Partys zu denen, die am längsten blieben. „Er hat das Leben genossen“, sagt Stefan Lange und überlegt: „Vielleicht hat er manchmal zu viel gemacht.“

Urlaube auf Bauern- und Reiterhöfen

Die beiden Männer gingen lange Zeit Jahr für Jahr mit ihren gleichaltrigen Töchtern auf Reisen, verbrachten zu sechst Urlaube auf Bauern- und Reiterhöfen und unternahmen Städtetouren. Die Tradition setzte Even später, als seine Töchter erwachsen waren, mit seinem Sohn, Oliver Tibussek und dessen Sohn fort. Mit seinen engen Freunden ging er oft gemeinsam zum Tanzen und auf Konzerte. In deren Traueranzeige heißt es: „Dein großes Herz war voller Lebensfreude, immer neugierig auf Neues. Du hast den Karneval geliebt. Du hast für eine lebenswerte Welt für unsere Kinder gekämpft. Du warst ein wunderbarer Gesprächspartner mit Einfühlsamkeit, wachem Verstand und großem Wissen.“

Beigesetzt worden ist Winfried Even auf dem Melaten-Friedhof. Weggefährten haben vor, zum Gedenken an ihn auf dem Friesenplatz einen Baum pflanzen zu lassen, eine Winterlinde. Unzählige Male ist er dort mit dem Rad vorbeigekommen, auf dem Weg in seine Praxis.

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