„Warteprofis bleiben cool wie James Bond“Warum ein Kölner Autor KVB-Minuten und Zugverspätungen genießt

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Armin Nagel schaut in die Kamera und lacht.

Armin Nagel zählt Menschen, die laut aufstöhnen, wenn in der Bahn eine halbe Stunde Verspätung angesagt wird, zu den Warte-Amateuren.

Der Kölner Autor und Comedian Armin Nagel über die Kunst des guten Wartens – beim Einkaufen, im Advent, bei Zugverspätungen und KVB-Minuten.

Wir warten in Köln auf die KVB, die Eröffnung von Opern- und Schauspielhaus oder auf drei Punkte beim FC. Wird in dieser Stadt überproportional viel gewartet?

Was die KVB angeht, würde ich sagen: Ja. In München, wo ich vor Kurzem war, läuft das besser. Obwohl ich sagen muss: Ich bin absoluter Bahnfan. Ich würde die Bahn immer wieder verteidigen, auch wenn ich einsehe, dass das im Moment schwierig ist. Da hilft dann eigentlich nur noch Geduldsmuskeltraining. Man muss es sportlich sehen.

In Köln haben wir sogar den Begriff KVB-Minute.

An der kann man gut sehen, wie dehnbar die Zeit ist. Auch beim Fußballspiel kann eine Minute übrigens rasend schnell oder quälend lang sein, je nachdem, ob man ein Tor aufzuholen hat oder ob man führt.  Für die Fans der Mannschaft, die knapp führt, dauert es gefühlt unendlich lang bis zum Spielende.

Wie erhebt man das Warten zur Kunstform, so wie Sie das getan haben?

Indem man bewusst wartet. In meinem Buch habe ich mit vielen Menschen gesprochen, für die Warten zum Beruf gehört, mit einer Hebamme, aber auch vielen Künstlern. Ich habe sie Warteberater genannt. Sie werden keinen kreativen Menschen finden, der sagt, dass es ohne Warten geht. Denn der Heureka-Moment kommt nicht auf Knopfdruck, jeder kreative Prozess braucht eine Inkubationszeit. Diese Zeit der Unsicherheit muss man aushalten. Warten ist in diesem Sinne nichts anderes, als sich auf den Kuss der Muse vorzubereiten.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch „Schöner Warten – Vom Umgang mit einem unvermeidlichen Zustand“ zwischen verschiedenen Wartecharakteren. Wodurch zeichnet sich der Warte-Amateur aus?

Das sind für mich die Leute, die laut aufstöhnen, wenn in der Bahn eine halbe Stunde Verspätung angesagt wird. Die auf die Bahn schimpfen und sich als Opfer fühlen. Man darf sich ruhig ärgern, aber das Entscheidende ist es dann, raus aus der Opferrolle zu kommen. Ich habe meine Tricks, wie ich mit solchen Situationen umgehe. Warteprofis bleiben in solchen Momenten so cool wie James Bond.

Sie sehen das Warten positiv. Warum ist Warten so oft negativ behaftet?

Viele Menschen würden von sich behaupten, sie sind ungeduldig. Damit wollen sie ausdrücken, dass sie beschäftigt und aktiv sind. Wir sind eine Gesellschaft, in der Handeln sehr positiv eingeschätzt wird – und das Warten oder Abwarten eher gering. Gerade von Politikern wird stets erwartet, dass sie sofort das Heft in die Hand nehmen und handeln. Dabei kann das Abwarten manchmal die bessere Strategie sein. In unserer Gesellschaft und in Unternehmen passieren viele dumme Dinge, nur weil einer das Gefühl hat: Wir müssen jetzt sofort etwas machen.

Was sagt die Wissenschaft zum Warten?

Es gibt eine sehr interessante Studie: Menschen, die sich im Urwald verirrt haben, hatten oft die größeren Überlebenschancen, wenn sie nicht topfit, sportlich und kräftig waren, sondern eher schwach. Weil sich die Fitten häufig überschätzten und davon ausgingen, dass sie sich selbst retten können – bis sie sich im Dickicht des Dschungels verirrten. Die Schwächeren warteten ab, sparten ihre Kräfte und wurden am Ende gefunden. Abwarten kann strategisch also sogar lebensrettend sein.

Im Dezember warten wir auf die vierte Kerze auf dem Adventskranz, auf den Glühwein in der Schlange am Weihnachtsmarkt und auf den Weihnachtsmann. Da ist das Warten plötzlich schön.

Im Dezember zelebrieren wir das Warten, der Monat ist verbunden mit Vorfreude. Wenn Sie mich nach den schönsten Wartemomenten meines Lebens fragen, waren das die Weihnachtsfeiern in meiner Kindheit, wo wir mit einer Riesenfamilie rund um den Tisch saßen und uns auf die Geschenke gefreut haben.

Am Beispiel von Kindern sieht man gut, dass Warten erst erlernt werden muss.

Das stimmt. Das Spannende bei Kindern ist, dass sie sehr stark im Hier und Jetzt sind. Und genau das fällt uns Erwachsenen schwer: im Hier und Jetzt zu sein. Gutes Warten heißt aber, gern im Hier und Jetzt zu sein. Statt zu klagen, dass ich zehn Minuten auf die S-Bahn warten muss, kann ich auch sagen: Warten ist keine gestohlene Zeit, sondern geschenkte Zeit.

An Weihnachten warten wir aber nicht nur, wir erwarten auch: harmonische Familienfeiern, das richtige Geschenk. Und das wird nicht selten enttäuscht.

Darum ist es an Weihnachten wichtig, die Erwartungen zurückzuschrauben. Alles, was perfekt sein muss, kann nur geradezu ins Fiasko führen. Wir berauben uns großer Leichtigkeit, wenn wir die Dinge zu perfekt haben wollen. In der Zeit nach Weihnachten kommt es vermehrt zu Scheidungen.

Sie beschäftigen sich schon seit Jahrzehnten mit dem Warten. Der Grund dafür war ernst.

Das stimmt. Ich bin als junger Mann auf eine Zirkusschule in England gegangen, mein großer Traum. Nach kurzer Zeit dort bin ich auf dem Fahrrad von einem Sattelschlepper angefahren worden. Meinen Fuß hat es böse erwischt. In England haben sie mich zweimal falsch operiert, es folgten weitere OPs in Deutschland. Ich hatte eine Infektion am Fuß, beinahe hätte man ihn abnehmen müssen. Dreieinhalb Jahre am Stück konnte ich nicht gehen. Das war ein Schock.

Wie konnten Sie diesem Warten Gutes abgewinnen?

Auch hier gilt: Wenn etwas Schlechtes passiert, muss man irgendwann raus aus der Opferhaltung kommen. Vor dem Unfall hatte ich ein ganz anderes Zeitgefühl. Wenn ich als Jugendlicher mal zwei Wochen kein Tennis spielen durfte, war das für mich eine Ewigkeit. Nach dem Unfall musste ich realisieren: Das Leben ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Ich bin geduldiger und ruhiger geworden. Das war ein zentraler Moment in meinem Leben, da habe ich Wurzeln gefasst.

Tendenziell sind Schlangen auf der rechten Seite länger, weil die meisten Menschen Rechtshänder sind
Armin Nagel

Adventskalender sind verkürzte Wartezeiten durch Ablenkung, sagen Sie. Welche psychologischen Tricks gibt es noch?

Aus Themenparks wie Disneyland weiß man, dass bei Attraktionen mit langen Schlangen mehr Wartezeit angegeben wird als am Ende notwendig ist. Statt der erwarteten 60 warten die Menschen dann nur 45 Minuten. Tatsächlich sind die Wartenden Menschen dann zufriedener. Der Flughafen Houston ist auch ein tolles Beispiel.

Inwiefern?

Da gab es Beschwerden von Passagieren wegen des langen Wartens auf Gepäck. Dann hat die Flughafenleitung den Gehweg vom Flugzeug zur Gepäckausgabe um die siebenfache Strecke verlängert, die Leute mehr oder weniger im Kreis geschickt. Während des Gehens haben die Leute aber nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht. Das fand ich eine interessante Strategie.

Ist sie nicht auch ein bisschen gemein?

Es ist Beschäftigungstherapie, und wenn die Beschwerden dadurch abnehmen, warum nicht?

Welche anderen professionellen Tricks gibt es, Wartezeit zu verkürzen?

Mittlerweile haben fast alle Bahnhöfe nur noch eine Warteschlange, in die man sich anstellt und eine Nummer zieht. Damit geht es gerechter zu. In Restaurants gibt es diese Buzzer, die man in die Hand bekommt, um am Tisch warten zu können. Mittlerweile gibt es sogar Hotlines, in der man Termine ausmacht und dann zurückgerufen wird.

Im Supermarkt hat man oft das Gefühl, in der langsamsten Warteschlange zu sein. Was weiß die Wissenschaft darüber?

Da gibt es spannende Antworten. Tendenziell sind Schlangen auf der rechten Seite länger, weil die meisten Menschen Rechtshänder sind und offenbar dazu tendieren, sich rechts anzustellen. Männer sind wohl tendenziell ein bisschen ungeduldiger als Frauen. Wenn in einer Schlange mehr Männer sind, könnte es also sinnvoller sein, sich dort anzustellen. Außerdem sollte man sich dort anstellen, wo wenig Menschen stehen, selbst wenn diese deutlich vollere Einkaufswagen haben. Denn nicht die Zahl der Produkte ist das Problem, sondern der Bezahlvorgang.

Jede Sekunde, die zu füllen ist, greifen wir oft nach dem Smartphone. Ihre These: Damit verlernen wir das Warten.

Absolut. Wobei es drauf ankommt: Ich habe auf meinem Handy einen Ordner, der Wartemomente heißt, in dem ich Podcasts oder interessante Zeitungs-Artikel, die ich noch nicht lesen konnte, gespeichert habe. Die hole ich mir dann bewusst raus. Bewusstes und selbstbestimmtes Warten ist gutes Warten. Dann sind diese Minuten ein Geschenk, weil ich sie auf eine schöne Art und Weise benutze.

Zur Person

Armin Nagel ist Autor, Comedian und Keynote Speaker zum Thema Service. Das Warten beschäftigt ihn seit vielen Jahrzehnten, unter anderem entwickelte er eine künstlerische Warteinstallation für das Schauspiel Köln. Sein Buch „Schöner Warten – über den Umgang mit einem unvermeidlichen Zustand“ ist bei Lübbe Life erschienen. Nagel lebt mit seiner Familie in Köln.

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