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Risse in der WohlstandsfassadeAuch im Kölner „Reichenviertel“ Lindenthal gibt es immer mehr Bedürftige

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Ein Mann mit grauem Haar und Brille steht inmitten von Regalen und Kleiderstange mit Kleidung.

Pfarrer Gerd Maeggi und sein Team öffnen regelmäßig die Kleiderkammer der Matthäus-Kirche für bedürftige Menschen.

In Lindenthal geht es den Bewohnern gut, lautet die gängige Meinung. Doch auch dort gibt es immer mehr Bedürftige und Wohnungslose. Ein Ortsbesuch.

Eine junge Frau wühlt im Hinterhof eines mehrstöckigen Wohnhauses der Dürener Straße auf Fußspitzen stehend in Müllcontainern. Von einem Mieter „ertappt“ erwidert sie verschämt: „Nur Geld für Flaschen. Haben Sie?“ Dankbar nimmt sie kurz darauf drei Mehrwegbehälter an und zieht weiter.

Eine alltägliche Begegnung zwischen den Welten. „Natürlich gibt es Armut in Lindenthal“, sagt Bezirksbürgermeisterin Cornelia Weitekamp. „Auf der Berrenrather- oder der Sülzburgstraße in Sülz sehe ich immer wieder obdachlose Menschen, die sich vor Hauseingängen niederlassen, um dort Schutz zu suchen“, so die Lokalpolitikerin.

Nicht nur „Adorno“ sucht Hilfe bei der evangelischen Kirche in Lindenthal

Auch im Nachbarstadtteil Lindenthal schlafen Menschen in Hinterhöfen oder betteln vor Geschäften. Manche kamen als Flüchtlinge, andere sind hier geboren und verloren durch tragische Geschehnisse, Gewalterfahrungen oder Arbeitslosigkeit den Boden unter den Füßen. „Es gibt zwei Sorten von Armut, die sichtbare und die verdeckte“, erklärt Gerd Maeggi. Der Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Lindenthal erlebt beide Erscheinungen, etwa „Adorno“, einen älteren – zumeist in Lektüre vertieften – Herrn, der seinen Spitznamen in Anlehnung an den Philosophen Theodor W. Adorno erhielt. Mit vollbepacktem Einkaufswagen hält er sich zumeist in der Nähe der Matthäus-Kirche auf, unter dessen Vordach Obdachlose nächtigen dürfen.

Alles zum Thema Dürener Straße

Die dortige Kleiderkammer werde dagegen von Personen frequentiert, denen man die Bedürftigkeit nicht ansehe. „Das sind Leute, die im Winter ihre Wohnung nicht heizen, weil sie es sich schlicht nicht leisten können“, berichtet der Geistliche. Der Bedarf nach gebrauchten Textilien wie auch die Angebote der Essenstafeln im Sülzer Tersteegenhaus seien in den letzten Jahren immens gestiegen, weiß Maeggi. Zu letzteren Terminen kämen regelmäßig 40 bis 50 Personen. „Wir stemmen das dank ehrenamtlicher Hilfe. Aber wir bräuchten darüber hinaus Entlastung, zum Beispiel durch eine staatlich finanzierte Sozialberatung. Viele Leute wissen nicht, wie man einen Heizkostenzuschuss beantragt, sich von Arzneimittelzuzahlungen befreien lassen kann oder für die Kinder eine Unterstützung bei Klassenfahrten erhält.“

Zwei Frauen stehen vor einem Gebäude mit großen Fenstern.

Sozialarbeiterin Petra Hastenteufel (l.) vom Verein Oase und Bezirksbürgermeisterin Cornelia Weitekamp (Bündnis 90/Die Grünen) stehen an Matthäuskirche auf der Dürener Straße. Hier dürfen obdachlose Menschen unter dem Vordach übernachten.

Bei den meisten Menschen in prekären Verhältnissen gäbe es vehemente Brüche im Lebenslauf: „Unsere ‚Eva‘ kommt nur im Winter. Sie wurde vor zehn Jahren von ihrem Freund in der Wohnung vergewaltigt. Seitdem lebt sie auf der Straße, weil sie sich dort sicherer fühlt“, so Maeggi. Armut sei auch in der Bezirksvertretung Lindenthal ein Thema, verweist Cornelia Weitekamp auf die Arbeit der Kollegen.

Bereits 2018 sei es zu einem Prüfantrag zur Gentrifizierung in Sülz gekommen, der mit einer Satzung zum Schutz der Mieter verbunden gewesen sei. „Die Verwaltung kam zu der Feststellung, dass kein ausreichend hoher Verdrängungsdruck existiere“, verweist Weitekamp auf die damalige Beschluss-Verhinderung. „Für mich ist momentan die Situation in Weiden zwingender. Um das Einkaufzentrum leben viele Flüchtlinge, die in provisorischen Unterkünften untergebracht sind. Ich möchte, dass es dort konstante Beratungsstellen für die Menschen gibt“, erläutert die scheidende Bezirksbürgermeisterin.

Streetworkerin im vermeintlichen „Reichenviertel“ Lindenthal

Seit acht Jahren ist Petra Hastenteufel in Köln als Streetworkerin tätig. Dass man auch in Lindenthal vermehrt auf Menschen trifft, die sich in ihrer Notlage an Passanten richten, ist für sie nicht überraschend. „Ich habe mich früher gewundert, warum auf der Dürener Straße niemand bettelt, weil dieser Ort als Reichenviertel gilt“, sagt die Mitarbeiterin des gemeinnützigen Vereins Oase.

Als Streetworkerin bewege sie sich durch das Stadtgebiet und spreche Menschen an, die sie als Zielgruppe wahrnehme. Zudem geht Hastenteufel Meldungen nach, die von Bürgern oder Mitarbeitern des Ordnungsamtes stammen. „Niemand muss draußen schlafen! Diese oft zitierte Aussage stimmt zwar in der Theorie. In der Realität sieht es jedoch anders aus: Viele Alternativangebote sind Mehrbettzimmer, in denen man zu viert oder fünft in einem schlecht ausgestatteten Zimmer eines heruntergekommenen Hotels schläft.“

Ein Mann steht vor einer rot-weißen Schranke, die die Zufahrt zu einer Straße verbietet, die in einem Wald liegt.

Straßenzeitungsverkäufer Khan wünscht sich, von Mitmenschen wahrgenommen zu werden.

„Neben durchgelegenen Matratzen wurde mir auch von Ungeziefer berichtet. Da entscheiden sich nicht wenige dafür, draußen zu schlafen“, sagt Hastenteufel. Dem Prinzip „Housing First“ (Konzept zur gesetzlichen Verankerung eines Wohnanspruchs, Anmerkung der Redaktion) steht die Sozialarbeiterin mit gemischten Gefühlen gegenüber: „Ich bin natürlich dafür, dass jedem Wohnraum zusteht. Aber man muss das auch objektiv sehen. Diejenigen, die massiv im Straßenbild auffallen, werden wahrscheinlich die letzten in der ‚Kette‘ sein. Manche sind verbal nicht erreichbar. Viele Menschen aus Osteuropa wollen nicht dauerhaft hier ansässig werden. Zudem muss man bedenken, dass auch für ‚Housing First‘ bezahlbare Wohnflächen benötigt werden.“

Neben einem Geschäftseingang liegt ein Kissen, daneben ein Schild mit der Aufschrift: „Bitte für Essen Danke“.

Armut ist auf der Dürener Straße in Lindenthal allgegenwärtig.

Wer Interesse an Veränderungen habe, solle den Mut aufbringen, Lebensraum zur Verfügung zu stellen, denn zu Köln gehöre nicht nur die Armut, sondern ebenso der Reichtum, findet Hastenteufel. Dass die Kluft zwischen wohlhabend und bedürftig wächst, belegt das „Statistische Jahrbuch der Stadt Köln“: Demnach stieg die Zahl wohnungsloser Haushalte von 1.999 im Jahr 2010 auf 4.170 im Jahr 2023.

Sorgen bereitet die Zahl von Menschen am Rande der Gesellschaft darüber hinaus ansässigen Geschäftsleuten: „Schon seit längerem teilen mir Kollegen mit, dass in den letzten Monaten scheinbar drogenabhängige Personen, Bettler und Obdachlose vermehrt hier anzutreffen sind. Diese Leute sind – bei allem Mitgefühl für ihre soziale Lage – mitunter aufdringlich und laut. Sie benötigen professionelle Betreuung“, berichtet ein Händler auf der Dürener Straße, der anonym bleiben möchte.

Khan verkauft den „Draussenseiter“ in Köln-Lindenthal

Jemand, der sowohl Solvenz als auch Geldnot erlebt hat, ist Khan. Der 52-jährige ehemalige Berufskraftwagenfahrer verkauft seit rund 18 Monaten die Straßenzeitung „Draussenseiter“ in Braunsfeld. Jeden Mittwoch und Samstag ist der gebürtige Kölner vor- und nachmittags am Clarenbachstift sowie auf der Kitschburger Straße anzutreffen. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, einmal auf der Straße zu landen. Alles lief gut. Dann starb meine Partnerin an Krebs. Einige Jahre später verlor ich auch meine neue Gefährtin an diese Krankheit. Ich konnte unsere Wohnung nicht mehr finanzieren, betäubte meinen Schmerz mit Alkohol und verlor schließlich meinen Job, in dem ich zehn Jahre gearbeitet hatte. Ich war über zwei Jahre draußen. Dort bist du nicht nur der Witterung, sondern auch anderen Menschen ausgeliefert.“

Seine neue Wirkungsstätte im Kölner Westen empfindet der wieder Wohnhafte als traurigen Ort. „Am schlimmsten finde ich die Kälte der Menschen. Für sie bin ich unsichtbar. Man möchte hier nicht mit Armut konfrontiert werden.“ Doch Khan glaubt als bekennender Optimist an bessere Zeiten. Vom Job-Center hat er den Bildungsgutschein für einen Schweißer-Lehrgang erhalten. Das bringe ihn weiter. „Ich wünsche mir einfach ein bisschen mehr Empathie von den Mitmenschen. Vielleicht mal ein ‚Guten Morgen‘. Ist das zu viel verlangt?“