Köln – Es gibt diese Momente, wenn sich Renate Canisius ein bisschen wie ein Burgfräulein fühlt. Die Natur ruft das Gefühl hervor. Denn falls die frühere Kölner Bürgermeisterin einfach mal alles hinter sich lassen möchte, dann spaziert sie mit ihrem Mann Peter hinaus aus Neubrück. Sie laufen den Hüttenweg entlang, lassen das frühere Madaus-Gelände links und das Baggerloch rechts liegen, bis sie ankommen am Rather Kirchweg. Dort duftet es zwischen Neubrück, Brück und Rath/Heumar nach frischem Stroh, der Bauer hat gerade den Weizen abgeerntet. „Und wenn wir da ankommen, fühle ich mich, als ob ich eine Zugbrücke hochziehe. Es gibt dort nur meinen Mann, die Natur und mich. Es ist wunderschön da“, beschreibt Canisius.
Fortschrittliche Siedlung
Vor 45 Jahren zog das Paar in das Gebiet, das eigentlich einmal Konrad-Adenauer-Siedlung heißen sollte. Der frühere Bundeskanzler hatte sich eingesetzt für den Bau, soll bei der Grundsteinlegung an der Briandstraße am 26. August 1965 sogar von der fortschrittlichsten Siedlung Deutschlands, vielleicht sogar der ganzen Welt, gesprochen haben. Verschiedene Architekten hatten die reine Wohnsiedlung in ein- bis 16-geschossigen Häusern geplant und zwischen der Bebauung Raum für zahlreiche Grünflächen gelassen; entstanden ist sie binnen fünf Jahren auf dem Rollfeld eines Militärflughafens, der im Zweiten Weltkrieg zum Fliegerhorst Ostheim gehörte. Und als das Veedel später der 85. Stadtteil Kölns wurde, hieß es dann doch Neubrück. Die Idee mit der Konrad-Adenauer-Siedlung hatte keine Mehrheit im Rat der Stadt gefunden.
Dass sich die Familie Canisius fürs damalige Neubaugebiet entschied, lag an den Grundstückspreisen: Ein Haus für 120 000 Mark konnten sie sich leisten. „Wir kamen aus Karlsruhe“, erinnert sich Renate Canisius, „mein Mann war nach Köln versetzt worden. Wir hatten schon unsere Tochter und unseren Sohn und mussten sehen, was wir als junge Familie finanziell gestemmt bekamen.“
Kontakte knüpften sie schnell. In der katholischen Pfarrei St. Adelheid rief Gründungspfarrer Hans-Helmut Stüßer die sogenannten Familienkreise ins Leben. In den Gruppen trafen sich meist fünf der zugezogenen Ehepaare einmal im Monat, lernten sich kennen, halfen einander. „Viele aus unserem Familienkreis sind leider mittlerweile gestorben“, bedauert Canisius. „Und das ist typisch für die Siedlung, wir kämpfen hier mit der Überalterung. Ich bin nun auch schon 79, mein Mann ein wenig älter.“ Das Durchschnittsalter der 8787 Einwohner liegt etwas über 44,1 Jahren, gut zwei Jahre über dem Kölner Schnitt von 41,9 Jahren. Viele waren hergezogen, um in Neubrück alt zu werden. „Ich habe selbst immer gesagt, dass ich unser Haus einmal mit den Füßen zuerst verlassen werde“, erzählt Canisius. Heute sei sie sich da nicht mehr so sicher. Sie liebäugelt mit einem Umzug in die Residenz am Dom, in die schon einige ihrer Bekannten gewechselt seien. „In der Innenstadt kann man mit dem Rollator an mehr Schaufenstern vorbeischieben und gucken, als in Neubrück.“
Boulenachmittag von Ehemann Peter
Aber dann sind da die lieb gewonnenen Gewohnheiten in ihrem Veedel, beispielsweise der Boulenachmittag von Ehemann Peter. „Eben hat er noch seine Kugeln poliert“, plaudert Gattin Renate aus. Mittwochs um 15 Uhr (im Winter eine halbe Stunde früher) trifft er sich mit einer Gruppe aus meist sechs Spielern um Bob Wichmann auf dem Spielplatz an der Ecke von Claudel- und Böhmweg.
Und dann ist da der Donnerstag: Da kauft Renate Canisius auf dem Wochenmarkt vor der Pfarrkirche St. Adelheid ein. „Bevor ich aus dem Haus gehe“, berichtet sie und lacht, „bittet mein Mann mich immer, ich möchte meinen Einkauf doch mal binnen einer Stunde schaffen.“ Was machbar wäre: Die beiden wohnen fünf Fußminuten vom Marktplatz entfernt. „Aber Sie können sich vorstellen, wie das ist: Sie gehen fünf Schritte vor, dann wieder zehn zurück, überall sind Bekannte, man wechselt hier ein Wörtchen, da eins.“ Man kennt sich, man grüßt sich. Da ist es klar, dass Canisius mit einer Stunde nie ausgekommen ist. Das macht aber nichts: Verheiratet ist sie dennoch seit 53 Jahren mit ihrem Mann.
Gemeinsam haben sie auch die Enttarnung des früheren DDR-Spions Hansjoachim Tiedge miterlebt. Bis zu dessen Flucht im Jahre 1985 hatte er am Kollwitzweg gelebt. Beim Bummel vorbei am weiß gestrichenen Bungalow erinnert sich Canisius: „Die Adelheidiade, unser Pfarrfest in Neubrück, feiern wir ökumenisch. Und ich weiß noch, dass wir früher immer einen gemeinsamen Bücherstand der evangelischen und katholischen Gemeinden hatten. Da habe ich mal mit Tiedge Bücher verkauft. Niemand von uns hat ja geahnt, wer er eigentlich war.“
In der Siedlung erinnern sich aber offenbar noch viele daran, dass Canisius bis vor zehn Jahren als Bürgermeisterin tätig war. Manche bitten um Hilfe, fragen, ob sie nicht etwas tun könne. Zum Beispiel die beiden Frauen, die Canisius am Ludwig-Quidde-Platz trifft im Süden der Siedlung, dort, wo sich Hochhäuser zur Einflugschneise des Kölner Flughafens emporrecken. Eine der Passantinnen erzählt von ihrer Tante, die lebe in einem Mehrfamilienhaus. Die Eigentümer kümmerten sich um nichts, klagt die Nichte, es müsse dringend renoviert werden, aber weil nichts geschehe, wolle die Tante nun ausziehen. „Viele Häuser sind von Investoren übernommen worden, die ihre Firmensitze irgendwo in Übersee haben“, sagt Canisius. „Die Eigentümer tun nichts an den Häusern, das ist wirklich schlimm.“
Kallendresser im grünen Wams
Neubrück hat zwei Gesichter: Die Gegend um den Ludwig-Quidde-Platz ist der an vielen Stellen vernachlässigte Teil, die Gegend um die Reinhold-Schneider-Straße der gutbürgerliche. In Haus Nummer 4 zum Beispiel leben Paula und Hubert Hiertz. Bei ihnen leuchten die roten und weißen Blüten der Geranien vor dem verschieferten Einfamilienhaus, hier sammeln Bienen Nektar in den Hibiscus-Blüten. „Wie machen Sie das mit den Geranien?“, will Canisius wissen. „Blaukorn“, erklärt Paula Hiertz, „wir düngen ganz einfach mit Blaukorn.“ Sie plaudern noch ein wenig im Gärtnerlatein, dann deutet Canisius zum Dachfirst hinauf. „Deswegen sind wir hier“, unterstreicht sie. Ein Kallendresser im grünen Wams hält dort seinen pavianroten Hintern jedem entgegen, der zu ihm hinaufblickt. „Wir wollten etwas typisch Kölsches an unserem Haus haben“, erklärt Paula Hiertz und lächelt zur Figur hinauf. Der Legende nach symbolisiert sie, dass man sich von der Obrigkeit nichts gefallen lasse. Der bekannteste Kallendresser hängt am Alter Markt. „Er ist aber nicht so schön wie unserer“, findet die 83-Jährige, die bis vor wenigen Jahren das Kölsch Thiater geleitet hat – und aus der Mutterstolz spricht: Sohn Walter, genannt Mori, hat ihren Kallendresser gefertigt.
Und wer weiß: Vielleicht entscheidet sich Canisius ja wirklich eines Tages für den Umzug in die Innenstadt, schiebt mit ihrem Rollator zum Alter Markt und schaut nach, welcher Kallendresser nun der ansehnlichere ist. Aber bis dahin wird sie mit ihrem Mann noch oft durch die Felder bummeln, am Rather Kirchweg ihre gedankliche Zugbrücke hochziehen und sich ganz einfach nur freuen über den Duft von frischem Stroh.