Missbrauchsopfer des Kölner Erzbistums berichtet„Sie haben mich mundtot gemacht“

Lesezeit 19 Minuten
Michael Schenk 1

Michael Schenk wurde als Junge jahrelang missbraucht. Vor dem Erzbischöflichem Haus in Köln berichtet er von seinen Erlebnissen.

  • Michael Schenk wurde als Junge jahrelang schwer sexuell von Priestern des Kölner Erzbistums missbraucht.
  • Als ihn die Traumata einholen, erfährt er im Erzbistum Köln ein zweites Mal die Kälte und Unbarmherzigkeit in der Kirche – bis heute.
  • Nun berichtet er von seinen Erlebnissen und warum er später selbst den Priesterberuf ergriff.
  • Ein Blick in ein System des kirchlichen Leugnens, Verdrängens und Verschweigens.

Köln/Waldbröl – Michael Schenk ist aufgeregt. Er hat einen Termin bei der Interventionsbeauftragten des Erzbistums Köln, Malwine Marzotko. Als kleiner Junge wurde der heute 52-Jährige von Priestern des Bistums jahrelang schwer sexuell missbraucht. Später hat er selbst den Priesterberuf ergriffen. 1997 wurde er von Kardinal Joachim Meisner geweiht. Fünf Jahre danach warf Meisner ihn wegen Ungehorsams aus dem Dienst. Mit seiner Leidensgeschichte fand Schenk bei seinem Bischof kein Gehör.

Hinweis der Redaktion: Einige Beschreibungen können auf manche Personen verstörend wirken.

Michael Schenks Fall führt tief hinein in ein System kirchlichen Leugnens, Verdrängens und Verschweigens von sexuellem Missbrauch. Ein System, das den Schutz der Kirche über alles stellt und die Opfer vergisst. Schenks Fall offenbart auch, wie empathielos und brutal Opfer in Köln unter dem 2017 gestorbenen Meisner behandelt wurden – und wie sich das bis in die Gegenwart auswirkt.

Alles zum Thema Erzbistum Köln

Der erlösende Satz

Es ist der 21. Oktober 2019, mehr als 17 Jahre nach Schenks letzter Begegnung mit Kardinal Meisner. Malwine Marzotko eröffnet das Gespräch. „Wir möchten Ihnen sagen, wir glauben Ihnen.“ Noch als Schenk ein Jahr später diese Worte wiederholt, wird die Stimme brüchig. Er weint. „Das war der erlösende Satz.“ Auch sein Anwalt Michael Schreier, der ihn begleitet hat, spricht von einem „sehr bewegenden Moment“.

Aber dann fährt Marzotko fort. Es stünden Schenk jetzt ja auch 5000 Euro zu, erklärt sie, „in Anerkennung des Leids“. So lautet die offizielle Formel der Kirche. 5000 Euro für schwerste körperliche und seelische Verletzungen. 5000 Euro als Ausgleich dafür, dass Michael Schenk sein Amt, seine kirchliche Existenz und seinen Lebensunterhalt verlor.

Wenige Wochen vorher haben Opfervertreter von der Bischofskonferenz Entschädigungen von bis zu 400.000 Euro gefordert. Solche Summen, sagt Malwine Marzotko, die seien doch nicht von dieser Welt. Schenks Anwalt erinnert sich, wie abfällig das geklungen habe. „Für weltfremd und beschämend halte ich nur eines: das Angebot von 5000 Euro.“

Man müsse sich klarmachen, sagt der renommierte Hamburger Arbeitsrechtler: Die Interventionsstelle handele im Auftrag der Kirche. „Das ist keine wirklich neutrale Instanz, die den Betroffenen helfen will. Das wird zwar gesagt. Aber der Fall Schenk zeigt: Das ist Blendwerk. Die Interventionsstelle tut so, als wäre sie den Opfern nah. Doch sobald es ans Geld geht oder um mögliche rechtliche Nachteile für die Kirche, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Man sitzt mit einem Gegner am Tisch.“

„Immer wieder wie in Trance gegen das Bett“

Rückblende: Michael Schenk wird 1968 als drittes von vier Kindern in Waldbröl (Oberbergisches Land) geboren. Seine Eltern betreiben dort seit 1962 ein Lebensmittelgeschäft. Es ist die Zeit, als die großen Supermärkte und Discounter aufkommen. Die Schenks kämpfen ums Überleben des Betriebs. Ihr Laden liegt im Schatten der Pfarrkirche Sankt Michael und eines – heute verschwundenen – kirchlichen Komplexes mit katholischer Volksschule, Kloster und einem von Ordensfrauen geleiteten Kindergarten. Die Schwestern erkennen die Not der Schenks. Zur Entlastung nehmen sie den kleinen Michael, noch nicht einmal drei Jahre alt, und später auch seine 1969 geborene Schwester in den Kindergarten auf. Die Eltern sind beruhigt. Im Schutz der Kirche glauben sie ihr Kind gut aufgehoben.

Michael Schenk 3

Der Eingang zum Erzbischöflichem Haus in Köln. Ein Ort, an den Michael Schenk mit Schmerz zurückdenkt.

An das, was in der folgenden Zeit geschieht, hat Michael Schenk über Jahrzehnte keine bewussten Erinnerungen. Zu niemandem hat er ein Wort darüber gesagt. Nur sein Körper redete, das Sprachrohr der Seele. Die Eltern erinnern sich, dass ihr zuvor fröhliches, aufgewecktes Kind auf einmal völlig verändert war: andauerndes ruckartiges Schaukeln, Verdauungsprobleme mit krampfhaftem Einhalten des Stuhlgangs, ständige Migräne-Attacken. In schlimmen Zeiten schlägt Michael den Kopf „immer wieder wie in Trance gegen das Bett“, schreiben Schenks Eltern in einem langen Brief vom August 2006. Dazu kommt eine verzweifelte Angst vor Berührungen durch Fremde. Einmal beim Kinderarzt wehrt der Vier- oder Fünfjährige sich beim Ausziehen so heftig, dass er den Arzt, als der ihn festhalten will, zu Boden wirft. 

Krankheiten und Phasen der Depression begleiten Schenk sein weiteres Leben. Mit der Hilfe von Psychotherapeuten gelingt es ihm seit Anfang der 2000er-Jahre, „mein Leben zusammenzusetzen“, wie er sagt. In sogenannten Flashbacks, blitzartigen Sinneseindrücken, kehren nach und nach die Erinnerungen zurück.

„Sie haben mich mundtot gemacht“

Ich sehe, wie ein Mann mich an der Hand nimmt. Der Mann ist groß und stark. Seine Hand ist schwitzig und zupackend. Ich hänge fest, muss mit. Ich schaue an dem Mann hoch, sehe den weißen Kragen über einer schwarzen Weste.

Da ist ein zweiter Mann. Er hat die Haare seitlich über die Glatze gelegt. Sie halten mich an den Armen fest. Sie drücken mich auf einer Bank nach unten. Ich spüre Schläge im Gesicht. Einer rüttelt und schüttelt mich. Es ist noch ein dritter da. Von ihm kann ich über der Binde, mit der sie mir die Augen verbunden haben, nur den Umriss erkennen. Als er vor mir steht, stinkt es. Ich höre schweres Atmen. Ein ekliger Geruch von Kaffee kommt aus dem Mund des einen Mannes. Ich höre sein meckerndes Lachen, bei dem er zugleich die Luft einzieht. Das Schlimmste ist die Hitze, eine schweißige Hitze von nackten Körpern.

„Nicht gucken!“, sagen die Männer. „Nicht gucken! Gucken ist böse. Und nichts sagen! Wenn du was sagst, kommst du in die Hölle! Ihr kommt alle in die Hölle!“

„Sie haben mich mundtot gemacht“, sagt Schenk heute. Lange ist das gelungen. Schenk hat geschwiegen, weil die Verbrechen wie ausgetilgt waren. Doch in unzähligen Therapiesitzungen sind sie wieder aufgetaucht, haben Schenk auf die Spur der Täter gebracht. Die eine führt zu Franz S., zunächst Diakon und Hilfsgeistlicher, später Pfarrer in Waldbröl.

Verwandter des Priesters bestätigt Schenk

Ein entfernter Verwandter von S. bestätigt später Schenks Schilderungen körperlicher Merkmale, von denen der kleine Michael normalerweise nicht hätte wissen können. Er gibt auch an, dass die Neigungen des spätberufenen S. in dessen Umfeld bekannt gewesen seien. In seinem beruflichen Vorleben als Metzger sei er gegenüber Lehrlingen übergriffig geworden. Vor der Priesterweihe von S. habe es Protestbriefe an den damaligen Kölner Erzbischof, Kardinal Joseph Höffner gegeben, dass „so jemand geweiht wird“.

In dem anderen Mann erkennt Schenk den damaligen Waldbröler Kaplan Kurt P. Er hat seine Dienstwohnung im Dachgeschoss über dem Kindergarten. Dorthin nimmt er Michael gelegentlich mit. Den Tätern kommt zupass, dass der Junge oft unbeaufsichtigt ist. Niemand ahnt etwas Böses. Nach der Einschulung müssen die Täter von ihrem Opfer abgelassen haben. „Ich habe von dieser Zeit keine Flashbacks mehr“, sagt Schenk. Er vermutet, dass er mit zunehmendem Alter und körperlicher Veränderung „nicht mehr ins Beuteschema gepasst“ habe. Zudem verlässt P. im Jahr 1971 die Waldbröler Gemeinde.

Michael Schenk 2

Michael Schenk

Schenk durchläuft eine zeittypische katholische Sozialisation: frommes Elternhaus, obligatorischer Kirchgang. Schenk wird Messdiener, ist in der Pfarrjugend aktiv, ebenso im örtlichen Karnevalsverein. In der Session 1993/94 amtiert er als Prinz Michael I. Früh regt sich in ihm der Wunsch, Priester zu werden. „Da war eine Sehnsucht in mir“, sagt Schenk. „Ich habe den Ruf Jesu gespürt.“ Pfarrer S., der bei Schenks Familie ein und aus geht, unterstützt und fördert ihn. Später wird er ihm zur Priesterweihe seinen Primizkelch schenken, dazu auch Priestergewänder und Teile seiner Bibliothek.

Unterbewusste Identifikation mit dem Angreifer?

Lag nie der Schatten der Vergangenheit über dem Verhältnis zu seinem Pfarrer? Kein Erkennen aufseiten des Kindes? Keine Sorge des Geistlichen, sein Opfer-Protegé könnte doch etwas offenbaren? Nichts dergleichen, sagt Schenk. Lediglich sein älterer Bruder weiß zu berichten, wie Pfarrer S. Michael vor der versammelten Messdienerschaft gemaßregelt habe, er solle ihn nicht immer so anstarren. „Ich selber weiß davon nichts mehr.“

Viel später, nach seiner Weihe, hat Schenk immer wieder mit der Frage gerungen: „War mein Wunsch, Priester zu werden, am Ende eine unbewusste Folge der Geschehnisse in der frühen Kindheit? War das, was ich für Berufung hielt, nur eine unbewusste Identifikation mit dem Angreifer? Und was bedeutet das dann für meinen Glauben?“ Heute ist er sicher: Sein Glaube an Gott ist unerschütterlich. „Erschüttert bin ich über das, was mir durch Menschen in der Kirche widerfahren ist.“ Und der Zölibat, die Verpflichtung der katholischen Priester zur sexuellen Enthaltsamkeit? „Da weiß ich heute, dass diese Lebensform für mich eine Flucht war, eine Flucht in die Unberührbarkeit.“

Schon in seiner ersten Stelle als Kaplan muss Schenk erkennen, dass seine Flucht gescheitert ist. Kardinal Meisner schickt ihn 1997 als Kaplan und Religionslehrer nach Wipperfürth. Dem dortigen Pfarrer eilt unter den jungen Priestern der Ruf voraus, ein schwieriger Chef zu sein, cholerisch, herrisch. „Er hieß nur der Gurkengott – wegen seiner Nase und seiner unnahbar überlegenen Haltung“, erzählt Schenk. Doch merkwürdigerweise begegnet der Pfarrer seinem neuen Mitarbeiter, der mit ihm Wand an Wand wohnt, ganz anders als erwartet: ständige Einladungen zum Abendessen, allerlei Privilegien.

Das könnte Sie auch interessieren:

„Die unterschwelligen Avancen habe ich gar nicht mitbekommen.“ Als dem Pfarrer – wie Schenk sagt, falsche – Gerüchte von einer Liaison des Kaplans mit einer Frau zugetragen werden, kippt die Stimmung im Pfarrhaus. Der junge Geistliche fühlt sich zunehmend schikaniert und von seinem autoritären Pfarrer unter Druck gesetzt. „Ich weiß etwas über dich.“ Schenk erkrankt schwer. Die alten körperlichen Symptome setzen neu und noch heftiger ein als früher. Auch wenn Schenk es zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisiert: Es hat damit zu tun, dass es wieder ein Priester ist, unter dem er zu leiden hat. Wieder einer mit dem deutschen Priesterkragen. Wieder geht es um die Macht eines Stärkeren gegenüber einem Schwächeren. Und wieder ist Schenk in der Rolle des Opfers. Der Traum von der Integrität, der Unantastbarkeit – zerplatzt. „Ich saß in der Falle.“

Die Rettung aus Köln – zunächst

2000 scheint Rettung aus Köln zu kommen. Kardinal Meisner holt Schenk aus Wipperfürth weg und macht ihn in Köln zum Direktor des Zentrums für geistliche Berufe. Ein Vorzeige-Job. Die Aufgabe: Priesternachwuchs gewinnen. Schenk stürzt sich in die Arbeit. Doch inzwischen kann er seinen Traumata, den Gespenstern der Vergangenheit, nicht mehr entrinnen. Die ersten Flashbacks setzen ein: Bilderfetzen von Händen, die nach ihm greifen, und immer wieder dieser dreieckige weiße Kragen, der Schenk schaudern lässt. „Das »deutsche Kollar« trugen damals viele Priester in Köln. Ich dachte, meine Aversionen kämen von den Erfahrungen mit meinem Pfarrer in Wipperfürth. Aber dem war nicht so.“

2001 bricht Schenk körperlich und seelisch zusammen. Er plant, sich umzubringen. In einem Bollerofen verbrennt er alles, was ihm seit seiner Erstkommunion lieb und teuer gewesen ist. Den Tag seines Suizids, einen Montag, hat er schon festgelegt. Doch eine Bekannte, die Schenk am Wochenende besucht und seine mit Todesanzeigen aus der Zeitung beklebte Zimmertür entdeckt, schlägt Alarm. „Sie war mein Schutzengel“, sagt Schenk.

Das Erzbistum gewährt ihm ein Krankenjahr. Er geht nach Hamburg, wo er Lähmungserscheinungen, schwerste Rückenschmerzen und andere Symptome auskurieren will, die auf das verschüttete Verbrechen aus seiner Kindheit hinweisen. Einmal muss er mitten am Tag als Notfall in die Uni-Klinik Eppendorf eingewiesen werden. Die Ärzte stellen eine akute Analfissur fest, für die es keinen erklärbaren äußerlichen Grund gibt. Schenk beginnt auch mit Psychotherapien, die ihn einer Erklärung näherbringen.

„Herr Kardinal, ich suche gerade den Vater“

Weil er sich nicht imstande fühlt, nach Köln zurückzukehren und wieder als Priester tätig zu werden, holt er sich Rat bei dem Limburger Kirchenrechtler Thomas Schüller, heute Professor in Münster. Der kennt die von Schenk geschilderten körperlichen Symptome für sexuellen Missbrauch aus ähnlichen Fällen nur zu gut. „Ich glaube Ihnen“, sagt er Schenk schon im ersten Telefonat. Es ist das erste und für die nächsten 17 Jahre einzige Mal, dass Schenk das von einem Vertreter der Kirche zu hören bekommt. Dagegen geraten seine Gespräche mit Kardinal Meisner in Köln zum Fiasko. Als Schenk ihm bei einem ersten Besuch zu Pfingsten 2002 eröffnet, er könne in seiner Verfassung nicht Priester sein, fährt der Erzbischof auf: „Dann wollen sie zum 1. Juni gehen?“ Schenk erinnert den Kardinal an dessen Wort, er sei als Bischof der Vater seiner Priester. „Herr Kardinal, ich suche gerade den Vater.“ – „Eltern müssen auch mal streng sein“, entgegnet Meisner. 

Zur Zeit eines zweiten Besuchs im September 2002 hat Schenks Zustand sich massiv verschlimmert. Als er dies erstmals gegenüber Meisner auf die sexuelle Gewalt in seiner Kindheit zurückführt, tut der Kardinal das ab. „Ach, die Geschichte mit den Männern, ach ja. Aber das ist Vergangenheit, daran kann es auch nicht liegen, das ist lange her, darüber steht man doch.“ So hat Schenk Meisners Worte festgehalten. In seiner Not überreicht er dem Erzbischof ein knappes Gesuch, ihn aus dem aktiven priesterlichen Dienst zu entlassen. Als „Flucht nach vorn“ vor körperlichen und seelischen Qualen sei dies „klarer Ausdruck eines emotional ausweglosen Zustands“, wird es später in einem psychotherapeutischen Gutachten heißen.

Meisner will Schenks Antrag zunächst nicht nachkommen. Als er Schenk ultimativ auffordert, binnen vier Wochen zum Dienst in Köln anzutreten, weigert sich Schenk unter Verweis auf seine bekannten „psychosomatischen Gegebenheiten“. Seine Therapeuten sagen ihm: Wenn Sie gehen, dann ist das Ihr Ende. Doch jetzt macht das Erzbistum ernst. Mit Einschreiben per Rückschein spricht Meisner im Oktober 2002 gegen Schenk wegen Ungehorsams die Suspendierung aus, die schärfste Strafe für einen Kleriker. Er darf nicht mehr als Priester und Religionslehrer arbeiten, seine Bezüge werden ihm nach einer kurzen Übergangszeit gestrichen. Damit ist er mittellos. Mit Privatdarlehen helfen Freunde ihm über die Runden. Scheinbar ergeben fügt Schenk sich in sein Schicksal. Zur Gegenwehr, sagt er heute, habe ihm „einfach die Kraft gefehlt“.

Forderung nach Wiedergutmachung

„Das damalige Vorgehen Kardinal Meisners und seiner Rechtsberater ist ein Skandal sondergleichen“, erklärt Thomas Schüller als Schenks Wegbegleiter und juristischer Experte. „Die Suspendierung war ein grober Rechtsbruch. Wenn ein schwer kranker Priester der Aufforderung zum Dienst nicht nachkommt, verletzt er nicht die Gehorsamspflicht. Aber auch nach der Suspendierung hätte das Erzbistum Herrn Schenk eine finanzielle Grundversorgung sichern müssen. Das ist rechtswidrig nicht geschehen. Das Erzbistum steht in der Pflicht, den Schaden aus diesem Rechtsbruch wieder gutzumachen.“

Doch das Erzbistum denkt gar nicht daran. Als Schenk 2004, inzwischen genesen und im Bilde über den sexuellen Missbrauch in seiner Kindheit, sich erneut nach Köln wendet, um nun vollends die Hintergründe für seine Erkrankung darzulegen, schlagen ihm die Personalverantwortlichen ein aussagepsychologischen Gutachten vor, um seine Angaben zu überprüfen. Schenk willigt ein. „Ich dachte, jetzt kommt alles in Ordnung und ich kann wieder zurück in den Dienst. Die kennen mich doch, wir duzen uns – bis in die höchsten Ränge. Die wissen, was mit mir los war, und jetzt können sie endlich verstehen, wie es dazu kam.“ Der nächste fatale Irrtum in Schenks an Verrat und Enttäuschungen reicher Geschichte.

Der Berliner Psychologe Max Steller, Professor an der Charité und eine Koryphäe seines Fachs, kommt im März 2005 zu dem Schluss, „dass es in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass die von Herrn Schenk als Erinnerungen erlebten Vorstellungen tatsächlich Scheinerinnerungen darstellen“. Seine Therapeuten hätten ihm in der Behandlung suggeriert, was er dann als persönliches Erleben ausgegeben habe.

Als er den Namen Steller gehört habe, sagt Thomas Schüller, „war mir sofort klar, wie die Sache laufen würde. Steller wurde von der Kirche gern beauftragt, weil er regelmäßig zugunsten der beschuldigten Kleriker entschied.“ Steller spricht auf die Anfrage zur Zahl seiner Gutachten für die Kirche von „mehreren“, die Frage nach deren Ausgang nennt er unergiebig. Im „eigenen Fallspeicher“ liege die Häufigkeit der Gutachtenergebnisse „wahrscheinlich »therapierte« Fehlerinnerung“ weit unter den Ergebnissen „wahrscheinlich erlebnisbegründete Schilderung“.

Gutachter sprach nie mit Michael Schenk

Zwei umfassende psychotraumatologische Gutachten der Therapeuten Thomas Ilking (2007) und Cäsar Schwieger/Theresia Mestmäcker (Hamburger Zentrum für somatisch orientierte Psychotherapie, 2009) nehmen Stellers Gutachten auseinander. Die ausgewiesenen Experten halten ihrem Kollegen schwerste methodische Mängel vor und Voreingenommenheit  mit seinem Zweifel am Erlebniswert detaillierter frühkindlicher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Schenks Fall sei geradezu ein Lehrstück, wie das Trauma sexueller Gewalt im Kindesalter sich in körperlichen Symptomen Bahn breche – jenseits dessen, was die Betroffenen in Worte fassen können.

Mit Michael Schenk hat Steller nie gesprochen. Er stützt sein Gutachten allein auf kurze schriftliche Berichte von Schenks damaligen Therapeuten. Das sei „seinerzeit angemessen“ gewesen, erklärt Steller auf Anfrage. „Die Berichte waren auftragsgemäß zu würdigen.“ Seinen Befund erhält er „eindeutig“ aufrecht, „gemessen an den damals vorliegenden Erkenntnissen“. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheinerinnerung lasse sich „insbesondere aus der Analyse der Entstehungsgeschichte der infrage stehenden Vorstellungen einschätzen“.

Zehn Jahre später, 2015, schildert Steller den Fall in einem populärwissenschaftlichen Buch zu den fatalen Folgen falscher Beschuldigungen. Nur leicht verfremdet (aus Kaplan Michael Schenk wird „Vikar Rafael Kauf“), versieht  er ihn mit einem frei erfundenen Schluss über den ruinierten Ruf der beiden Geistlichen und bringt Schenks Geschichte auf die Formel: „Gesucht: Work-Life-Balance – Gefunden: Sexueller Missbrauch in der Kirche“. Thomas Schüller findet dafür zwei Worte: „Menschenverachtend und disqualifizierend für seinen Beruf.“ Steller hingegen verteidigt das Vorgehen als „angemessene Verdeutlichung“ seiner Kritik an „Erinnerungstherapie“ durch „plakative Sprache“.

Erzbistum Köln stützte sich auf Ferndiagnose

Für das Erzbistum Köln ist mit Stellers Gutachten der Fall erledigt. Das nächste Mal hört Schenk erst wieder von seinem früheren Dienstgeber, nachdem er 2008 zur alt-katholischen Kirche übergetreten ist und 2012 an der Bonner Namen-Jesu-Kirche als Geistlicher eingesetzt werden soll. Da erreicht ihn aus Köln ein Brief von Kardinal Meisner: Exkommunikation. Der endgültige Bruch.

Es dauert sechs Jahre, bis Schenk erneut tätig wird. Ein von ihm 2009 angestrengtes Ermittlungsverfahren gegen Kurt P. hat die Staatsanwaltschaft Hamburg im gleichen Jahr wegen Verjährung eingestellt. P. stirbt 2010 als Pfarrer in Bonn. Franz S. ist bereits 199 9 gestorben. Beide wurden von der Kirche nicht belangt. Schenk hat inzwischen ein Stück Abstand zwischen sich und die Vergangenheit gebracht. Als Berater und Therapeut hat er sich eine neue Existenz aufgebaut. Ehrenamtlich ist er mit Leidenschaft als Geistlicher der alt-katholischen Kirche tätig.

Dann aber, im September 2018, sind die Zeitungen voll von der „MHG-Studie“ der deutschen Bischöfe zum sexuellen Missbrauch im Raum der katholischen Kirche. „Das jüngste Opfer war erst drei Jahre“, liest Schenk in einem Bericht über die Fälle im Erzbistum Köln. „Das hat mich gepackt, aber wie!“, erzählt Schenk. „Ich dachte: Entweder bin ich das; dann glauben sie mir jetzt ja doch. Oder es ist ein anderes Opfer; aber dann glauben sie ja dem.“ In diesem Moment habe er gewusst: „Du musst jetzt was unternehmen. Sonst laufen die Dinge an dir vorbei, und du holst sie nie wieder ein.“

Im Oktober 2018 schreibt er an Kardinal Rainer Woelki, mit dem er aus seiner Kölner Zeit per Du ist. Er berichtet von seiner „offenen Wunde“ und der Suche nach „Heilung und Aussöhnung“. Er bittet den Erzbischof um ein persönliches Gespräch. Keine Antwort. Nach einem erneuten Brief im Januar 2019, „diesmal per Einschreiben“, verweist Woelkis Sekretärin ihn an die Interventionsstelle des Erzbistums. Das förmliche Verfahren, das ein Jahr später zur „Anerkennung des Leids als Opfer sexuellen Missbrauchs“ führt, kommt in Gang.

Ein Jahr Warten auf ein Woelki-Treffen

Die Begegnung mit Woelki lässt noch ein Jahr auf sich warten. Am 29. Januar 2020 um 18 Uhr empfängt der Erzbischof ihn in seinem Büro. Als „gutes Gespräch“ resümiert Woelki das einstündige Treffen. Anwälte des Bistums unterstreichen, „mit welch persönlicher Anteilnahme und Empathie“ Woelki Schenks Anliegen „entgegennahm und ihm dabei jede mögliche Unterstützung zusagte“. Es geht in der Unterredung um die Geschehnisse in Waldbröl. Es geht aber auch um Schenks Kaplanszeit in Wipperfürth, um seine Suspendierung und um deren Folgen – die Retraumatisierung und einen institutionellen Missbrauch durch die eigene Kirche. „Der Kindesmissbrauch ist die eine schlimme Geschichte, aber die andere Seite der Geschichte ist genauso schlimm“, versucht Schenk dem Kardinal zu erklären.

Er kommt auf die ihm entstandenen finanziellen Schäden zu sprechen: medizinische Behandlungen, Psychotherapien, Verlust des Verdienstes, der sozialen Sicherung und der Altersvorsorge. „Ich bitte Sie, sehr genau hinzuschauen, weil mein Fall anders ist als andere“, sagt Schenk. Er wünscht sich auch eine öffentliche Rehabilitation durch das Erzbistum mit einer Kanzelerklärung (Proclamandum) in seiner früheren Gemeinde. Woelki legt sich laut Schenks Schilderung nicht fest, stellt vage eine rechtliche Prüfung in Aussicht. „Er sagte aber auch: »Es tut mir leid«. Und er sagte: »Es geht darum, dass Sie zu Ihrem Recht kommen«.“

Genau neun Monate später. 29. Oktober 2020, ein kühler Herbstvormittag. Für Fotos, die von ihm im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erscheinen sollen, steht Michael Schenk vor dem großen Gittertor des Erzbischöflichen Hauses. Nach wenigen Minuten kommt überraschend der Hausherr persönlich heraus. Schenk geht einen Schritt auf ihn zu. Woelki schaut ihn an, grüßt knapp. Danach geht er beiseite, lässt Schenk für ein anderes Gespräch stehen. Bevor Woelki zurück ins Haus geht, findet er sich doch noch zu einer kurzen direkten Begegnung mit Schenk bereit. Von  Antragsfristen ist die Rede, von der Erstellung eines externen Rechtsgutachtens und der schriftlichen Anerkennung als Opfer. Und wieder geht es um Schenks „besonderen Fall“. Woelki  zieht bedauernd die Schultern hoch, verweist auf die Unterlagen, die er so genau und im Detail nicht kennen könne. „Ich habe die Korrespondenz an die Interventionsstelle abgegeben.“ Und es fällt der Satz, den Schenk schon kennt: „Es soll Ihnen Gerechtigkeit widerfahren.“

Schenk sagt, er glaube das inzwischen nicht mehr. „Der Moment vor dem Bischofshaus war für mich ein Symbol: Für das System Kirche stehst du im Abseits und bist Luft. Der zu Schaden gekommene Mensch zählt nicht. Mein Fall als ehemaliger Priester würde dem System Kirche wehtun, wenn es sich der Aufarbeitung stellen würde. Das genau geschieht aber nicht. Das System schweigt.“

Trotzdem hofft er weiter  auf ein „Wort des Eingeständnisses: Dir ist in dieser Kirche Unrecht widerfahren.“ Und das Geld, das er verlangt? „Das wäre der Beweis, dass sie es ehrlich meinen. Das Siegel darauf, dass ihre Worte wahr sind. Sonst sind sie nichts als heiße Luft.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Das Erzbistum teilt auf Anfrage mit, man sei sich bewusst, dass der Umgang mit Schenk „in den Jahren 2002 bis 2005 den heutigen Anforderungen in verschiedener Hinsicht nicht genügte.“ Darunter falle etwa die „damals übliche“ Ferndiagnose nach Aktenlage ohne persönliche Anhörung des Betroffenen. Zukünftige Therapiekosten könnten unter Umständen übernommen werden. Und nach dem Beschluss der deutschen Bischöfe, Missbrauchsopfern bis zu 50 000 Euro zu zahlen, seien auch „weitere Zahlungen nicht ausgeschlossen“.

Schenks Hinauswurf durch Kardinal Meisner 2002 hält das Erzbistum bis heute für legitim. Der erzbischöfliche Offizial (Leiter des Kirchengerichts) sei nach interner Prüfung im Februar 2020 zu dem Ergebnis gekommen, dass an der „Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Suspendierung kein Zweifel sein kann“. Es ist derselbe Mann, der 2002 die Suspendierung vorbereitet hatte. Zudem schreibt das Erzbistum, Schenk selbst habe seinerzeit um Entlassung gebeten. „Dennoch möchten wir betonen, dass Herrn Schenk die Wahl zwischen den beiden Optionen gelassen wurde.“ Suspendierung und Missbrauch „sollten getrennt voneinander betrachtet werden“. Schenks Fall sei daher auch nicht gesondert zu betrachten. „Das subjektive Leiden von Betroffenen kann kaum objektiv gemessen werden. Deshalb haben wir uns im Sinne der Gerechtigkeit für eine Gleichbehandlung aller Betroffenen im Rahmen der geltenden Regelungen entschieden.“ 

Noch will Schenk seinen Kampf um Gerechtigkeit nicht aufgeben. Danach, sagt er, „möchte ich mit dem Erzbistum Köln nichts mehr zu tun haben“. Nur eines hat er sich dann noch fest vorgenommen. „Ich werde Pfarrer S. auf dem Friedhof besuchen, um ihm zu sagen: Es ist endlich vorbei. Und ich werde ihm einen Strauß seiner Lieblingsblumen mitbringen.“ Weiße Lilien. Das Symbol der Unschuld.   

KStA abonnieren