Studie über Missbrauch im Erzbistum Köln„Dunkle Mächte haben Name und Gesicht“

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Gespraechsrunde_Woelki

Erzbischof Rainer Woelki bei einer vom Land NRW veranstalteten Gesprächsrunde zum Thema Missbrauch im September 2019 in Düsseldorf. 

Köln – Selten ist ein Gutachten, das Aufklärung und Licht in ein dunkles System bringen sollte, so sehr in einen Nebel aus Spekulationen, Anschuldigungen und juristischen Kanonaden geraten wie die Missbrauchsstudie des Erzbistums Köln. Über das von Kardinal Rainer Woelki beauftragte, im März zunächst gestoppte und am vorigen Freitag versenkte Gutachten zum Umgang der Bistumsleitung mit sexuellem Missbrauch streiten unterdessen mindestens vier renommierte Anwaltskanzleien, diverse Juraprofessoren und natürlich diejenigen, die sich durch die Befunde beschwert fühlen.

Worum geht es?

Im September 2018 hatte Kardinal Woelki der in diesen Dingen einschlägig erfahrenen Münchner Kanzlei mehr als 400 Akten zur Verfügung gestellt, in denen Fälle sexuellen Missbrauchs und deren Bearbeitung durch die Kölner Bistumsleitung dokumentiert sind. Es geht um 312 Verdachtsmeldungen, 243 Beschuldigte und 386 Betroffene aus den Jahren 1965 bis 2015.

Der Auftrag lautete, diesen Bestand nach den Maßstäben des weltlichen und kirchlichen Strafrechts auf Verfehlungen zu überprüfen und die Verantwortlichen zu benennen. Darüber hinaus sollten die Juristen eruieren, inwiefern der Bistumsleitung systemisches Versagen und Verletzungen des kirchlichen Selbstverständnisses vorzuwerfen sind. Ein Insider spricht von „einer Art historisch-moralischer Bewertung“ der Zeit von 1965 bis 2015. 

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Was steht in dem Gutachten?

Da das mehr als 500-seitige Gutachten vom Erzbistum unter Verschluss genommen worden ist, sind die Ergebnisse nur indirekt und ausschnittsweise zugänglich, nämlich über Zitate aus einem Gegengutachten der Frankfurter Juristen Matthias Jahn und Franz Streng. Jahn wiederholte in einer Pressekonferenz am Montag sein vernichtendes Urteil zur Methode und zum Vorgehen seiner Münchner Kollegen.

Deren Arbeit sei „im Ganzen misslungen“ und nicht gerichtsfest: Wenn in dem Bericht genannte Würdenträger Rechtsmittel einlegten, würden die Gerichte „das Gutachten kassieren“; dem Erzbistum würde sogar eine Amtshaftung drohen.

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Jahn teilte heftig aus: Die Verfasser hätten nicht einmal das „kleine Einmaleins“ beachtet und zum Beispiel nicht erklärt, wie sie zu ihrer Stichprobe von 15 Fällen bei insgesamt 386 Betroffenen gekommen seien. Die Münchner Kanzlei weist die Vorwürfe zurück und empfiehlt die Veröffentlichung ihres Gutachtens.

Dies fordert auch der Sprecher des Betroffenenbeirats, Patrick Bauer. Eine Einsichtnahme, teilten die Münchner Anwälte mit, wäre aus ihrer Sicht jederzeit möglich und würde es speziell den Betroffenen erlauben, sich ihr eigenes Bild zu machen.

Wen belastet das Gutachten?

Die bisher bekannten Schnipsel enthalten schwere Vorwürfe. Einem höchstrangigen verstorbenen Würdenträger wird vorgehalten, jenseits öffentlicher Bekundungen die Opferbelange nicht ernsthaft in den Blick genommen und „überkommene Prioritäten“ zugunsten der Täter nicht revidiert zu haben.

Dem engsten Mitarbeiter wird vorgehalten, nicht gegen die Entscheidungen seines Chefs opponiert und sich wie in einem „totalitären Herrschaftssystem“ verhalten zu haben. Ob solche Urteile – von den Gegengutachtern als polemisch, voreingenommen und von Unterstellungen getragen bezeichnet – der eigentliche Grund dafür sind, das Gutachten einzukassieren, darüber wird heftig gestritten.

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller warf Woelki ein juristisches Versteckspiel vor mit dem Versuch, die Verantwortlichen für Vertuschung von Missbrauch zu decken. Konkurrierende Anwaltskanzleien versuchten in diesem Zuge, sich lukrative kirchliche Großaufträge zu sichern und alte Rechnungen zu begleichen. Das „infame Trauerspiel“ des Erzbistums diene „der Desinformation der Öffentlichkeit“.

Welche Rolle spielt Kardinal Woelki?

Der Erzbischof und Generalvikar Markus Hofmann versichern, sie hätten bis heute keine Kenntnis von dem Gutachten. Allerdings muss die Bistumsspitze zumindest die Bedenken gekannt haben und auch Argumente, auf die sie sich stützen. Spätestens im September ging dann der Auftrag an die Frankfurter Juristen Jahn/Streng sowie den Kölner Strafrechtler Björn Gercke, sich die Arbeit der Münchner vorzunehmen beziehungsweise ein neues Gutachten zu erstellen.

Es deutet einiges darauf hin, dass Woelki mit seinem ursprünglichen Aufklärungswillen unter die Räder und den Einfluss externer Einflüsterer gekommen ist. Ein Insider erklärt die Stimmungslage des Erzbischofs so: Mit der Zeit hätten zwei Würmer an seiner Entschlossenheit zur Veröffentlichung des Gutachtens genagt: zum einen die Ahnung, dass wichtige Persönlichkeiten und Weggefährten auf der Strecke bleiben würden; zum anderen das Problem, sich ohne Kenntnis des Gutachtens auf die zu erwartenden Befunde vorbereiten zu müssen.

In diesem „unlösbaren Dilemma“ hätten Woelkis Ratgeber einen scheinbar passablen Notausgang parat gehabt: „Sie kommen da nur raus, wenn Sie das Gutachten neu machen lassen und die Schuld bei der Münchner Kanzlei liegt.“

Welche Rolle hat der Betroffenenbeirat?

Kardinal Woelki hat das ursprünglich zehnköpfige Gremium im Jahr 2018 eingerichtet. Es soll alle Aufklärungsschritte des Erzbistums begleiten. Über die Gründe für die Beendigung des Mandats mit der Münchner Kanzlei und die Beauftragung eines neuen wurde das Gremium erst am Donnerstag informiert.

Das Erzbistum stellt die Entscheidung so dar, als wäre man primär dem Wunsch der Betroffenen gefolgt. Zu diesem Zeitpunkt war der Kölner Strafrechtler Gercke allerdings bereits seit Wochen mit der Sichtung der Akten beschäftigt.

Beiratssprecher Patrick Bauer sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ am Montag, der Beirat werde vom Erzbistum instrumentalisiert. „Wir werden aber von jedem instrumentalisiert“, etwa auch von der Münchner Kanzlei mit ihrem Angebot zur Akteneinsicht. Ein Mitglied des Beirats hat das Gremium inzwischen aus Protest verlassen. Er habe das Gefühl, der Beirat insgesamt sei „in einer Schockstarre“.

Was ist der Auftrag an den neuen Gutachter?

Das Erzbistum weigert sich bislang, die beiden Aufträge publik zu machen. Gercke versichert, sein Mandat sei fast bis auf Wort identisch mit dem ursprünglichen Auftrag an die Münchner Kanzlei. Er fügte aber auch hinzu, für ein Gutachten nach moralisch-ethischen Maßstäben seien „Anwälte ungeeignet“.

Ein solches Gutachten könne überhaupt niemand erstellen. Mit Kategorien wie dem „kirchlichen Selbstverständnis“ könne er als Jurist wenig anfangen. Er wolle mit seiner Expertise Befunde liefern, auf deren Basis „jeder selbst ein Bild machen könne“.

Klar sei, dass es beim Thema Verantwortung um weit mehr gehe als um Rechtsverstöße. Auch gelte es nach wie vor, Verantwortlichkeiten klar zu adressieren. „Dunkle Mächte haben Name, Anschrift und Gesicht“, zitierte Gercke ein Wort von Bertolt Brecht.

Er wandte sich gegen den Verdacht, er solle ein dem Bistum genehmes Gutachten abliefern. Die Ergebnisse, die im März 2021 vorgestellt werden sollen, würden „ungemütlich“ für das Erzbistum und seine Verantwortlichen. Zu den Kosten für das einkassierte Gutachten sowie die nachfolgenden gab das Erzbistum am Montag keine Auskunft.

Was ist im Bistum Aachen anders?

Auch das Bistum Aachen hat die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl mit einem Missbrauchsgutachten beauftragt. Es hat das gleiche Design wie das Kölner.

Für die Veröffentlichung sind nach den Worten von Bistumssprecher Jürgen Jansen ausschließlich die Anwälte verantwortlich. Bedenken oder formelle Einsprüche seien dem Bistum nicht bekannt. Die Veröffentlichung ist für diesen November geplant.

Das Bistum Münster hat eine unabhängige Kommission eingesetzt, die an der Universität Münster angesiedelt ist und nicht von einem Juristen geleitet wird, sondern von dem renommierten Historiker Thomas Großbölting.

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