Mülheim – Als sich Anne Priller-Rauschenberg ihren kleinen Bruder schnappt und losrennt, haben die Bomber der Royal Air Force den Himmel schon verfinstert. Eigentlich ist der 28. Oktober 1944 ein sonniger Herbst-Samstag. Die Mülheimer kaufen für den Sonntag ein, im Kino an der Buchheimer Straße läuft der turbulente Liebesfilm „Hundstage“. Vormittags sind Pioniere damit beschäftigt, Trümmer der kurz zuvor zerstörten Mülheimer Brücke zu beseitigen. Zwischendurch gibt es immer wieder Warnungen vor Fliegerangriffen, ohne dass etwas Ernsthaftes passiert. Irgendwann ignorieren die Mülheimer das Hin und Her aus Warnung und Entwarnung und meiden schützende Keller und Bunker – vielen von ihnen wird das schon bald zum Verhängnis werden.
Anne Priller-Rauschenberg sitzt in ihrem Niehler Wohnzimmer und erzählt, was am Nachmittag jenes schönen Oktobertages geschah. Vor ihr liegt ein 55-seitiger Bericht, erst 2009 sah sie sich in der Lage, ihre Kriegserinnerungen aufzuschreiben. „Ich hatte Angst, dass mich das alles einholt“, sagt die 83-Jährige. Als „Schwarzer Samstag“ ging der 28. Oktober 1944 in die Kölner Geschichte ein, Priller-Rauschenberg spricht von der Hölle auf Erden.
2884 Tonnen Spreng- und Brandbomben
Ab etwa 15.45 Uhr fliegen die Engländer einen der verheerendsten Luftangriffe auf Köln im Zweiten Weltkrieg. 800 bis 1000 Flugzeuge werfen binnen 44 Minuten 2884 Tonnen Spreng- und Brandbomben über den Stadtteilen Mülheim, Deutz, Kalk, Zollstock, Sülz, Klettenberg, Nippes und Teilen der Innenstadt ab. 543 Menschen sterben, 8565 verlieren ihr Zuhause. Für die Mülheimer ist es der schlimmste Angriff überhaupt. Insgesamt werden in Köln 2239 Häuser schwer zerstört, in Mülheim und Buchforst sind es allein 1650.
Auch für Anne Priller-Rauschenberg ist anschließend nichts mehr wie es war. Die zierliche Kölnerin wohnt damals mit ihrer Familie an der Holweider Straße in Mülheim. Der siebenstöckige Bunker an der Bergisch Gladbacher Straße ist vielleicht 100 Meter von ihrer Wohnung entfernt. Als der Großangriff beginnt, greift sich die 13-Jährige ihren zweijährigen Bruder und rennt los. Natürlich nicht nur sie, „jeder lief um sein Leben“. Unterwegs wirft sich Priller-Rauschenberg an einen Haufen Kohle, um Schutz zu suchen. Denn die Bomben fallen bereits. Teppiche aus jeweils 60 Sprengbomben seien auf Mülheim abgeworfen worden. Priller-Rauschenberg zeigt braune Stellen auf der Haut, es sind Brandflecken. „Alles, was ich anhatte, war durchlöchert durch Funkenflug.“ Nur mit Glück erreichen sie und ihr Bruder den Bunker, ihre Mutter und ihre ältere Schwester sind dort schon angekommen. Nur ihr Vater ist nicht da. Er arbeitet beim Kabelproduzenten Felten & Guilleaume und sitzt dort in einem beschädigten Bunker fest.
Mülheim in Schutt und Asche
Bis etwa 16.30 Uhr dauert der Großangriff. Allein in Mülheim werden 351 Tote identifiziert, dazu kommen viele bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leichen. Aus brennenden Häusern dringt schwarzer Qualm, dazu kommt Funkenflug und „eine Hitze, die kaum auszuhalten war“. Der Tag ist zur Nacht geworden. Anne Priller-Rauschenberg erinnert sich mit Schrecken an das, was von Mülheim übrig geblieben war. Bis zum 28. Oktober 1944 war der Stadtteil weitgehend von Luftkriegszerstörungen verschont geblieben. Nun liegt es in „Schutt und Asche“. Vor allem das Gebiet rund um den Wiener Platz ist verwüstet. „Wir haben es knallhart gekriegt.“
Ende Oktober wird auch die Wohnung des Journalisten Josef Hofmann am Hansaring unbewohnbar. Hofmann, der später die CDU und die Aachener Volkszeitung mitgründen wird, hat in Ründeroth Zuflucht gefunden. Am 4. November 1944 schreibt er an seine 14-jährige Tochter Adelheid, die sich in einem Kinderheim in Salzgitter aufhält: „Worte reichen nicht hin, um das Elend von Köln zu schildern, dieser Stadt, in der es keine heile Wohnung mehr gibt, in der die Leute das Wasser oft 20 Minuten weit holen müssen, dieser Stadt der Trümmer, der aufgerissenen Strassen und der zerstörten Strassenbahnen.“
Ab 1943 hätten die Engländer verstärkt die Kölner Vororte ins Visier genommen, sagt Gebhard Aders, Historiker und ehemaliger Archivar der Stadt Köln. „Moral bombing“ nannten sie die Strategie, durch Flächenangriffe Wohngebiete, Schulen, Behörden, Bahngleise und schließlich die Moral der Deutschen zu zerstören. Die Kölner sollten mit sich und den Reparationen beschäftigt sein. Auf diese Weise würde auch die Rüstungsindustrie geschwächt, so das Kalkül. In Mülheim hat die Strategie Erfolg: „Gas, Wasser und Licht waren für Tage ausgefallen“, sagt Aders. Auch Mülheimer Unternehmen wie Felten & Guilleaume oder Klöckner-Humboldt-Deutz seien am 28. Oktober 1944 beschädigt worden. Gezielt beschossen worden seien sie aber nicht. „Einzelne Industrieanlagen waren bis Anfang 1945 für die englische Luftwaffe kein Ziel.“
Zerstört werden die Lutherkirche und die Friedenskirche in Mülheim, die Güterbahnhöfe Eifeltor und Ehrenfeld, die Bahnstrecke zwischen Kalk und Mülheim, der Personenbahnhof Deutz und Vieles mehr. Laut Verwaltung gehörte der Angriff vom 28. Oktober zum „folgenschwersten der gesamten Luftkriegstätigkeit über Köln“. Josef Hofmann schreibt von einem „zwischenzeitlichen Weltuntergang“.
Anne Priller-Rauschenberg und ihre Familie verlassen gegen 17 Uhr den Bunker. Weil alle Häuser brennen, wird die Familie sofort wieder zurückgeschickt. Drei Tage bleibt das Mädchen dort eingeschlossen, ohne Essen und Trinken und – weil ein Holzgerüst rund um den Bunker brennt – bei akuter Erstickungsgefahr. Danach wird sie nach Sachsen evakuiert. Auf dem Weg zum Zug läuft sie durch zerstörte Straßenzüge und sieht Leichen von Kindern und den Nonnen des Krankenhauses. Für Anne Priller-Rauschenberg war der 28. Oktober 1944 ein Wendepunkt: „Diese einschneidenden Erlebnisse hatten aus mir, einem sonst fröhlichen Kind, ein ernstes gemacht.“