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Reker löst heftige Debatte ausDer Ruf des Muezzin spaltet Köln

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Die Ditib-Zentralmoschee an der Venloer Straße.

Köln – Gegenseitige Achtung, Akzeptanz und Toleranz als Grundlage des gemeinsamen Handelns hat sich der Kölner Rat der Religionen, ein freiwilliger Zusammenschluss von 21 Religionsgemeinschaften und Organisationen, auf die Fahnen geschrieben. Das Gremium tagt in unregelmäßigen Abständen alle acht bis zwölf Wochen auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Zuletzt am Mittwoch, 6. Oktober.

Umso erstaunter sind die Vertreter der christlichen Religionsgemeinschaften des Rates über eine Presseerklärung, in der das OB-Büro keine 24 Stunden später ein Projekt ankündigt, das seither bundesweit kontrovers diskutiert wird.

Muezzin-Ruf mit Auflagen

In Köln wird es den rund 35 Moscheegemeinden gestattet, in einer zweijährigen Testphase zum Freitagsgebet aufzurufen. Mit Auflagen zwar, aber immerhin. So darf der Gebetsruf nur zwischen zwölf und 15 Uhr erfolgen und ist auf maximal fünf Minuten beschränkt. Auch die Lautstärke wird je nach Lage der Moschee festgelegt.

Alles zum Thema Henriette Reker

„Wir haben uns schon sehr gewundert, dass der Gebetsruf bei der Sitzung kein Thema war“, sagt ein Teilnehmer, der ungenannt bleiben möchte. „Frau Reker hat das Projekt mit keinem Wort erwähnt. Wir haben davon erst aus den Medien erfahren.“

Bisher liegt kein Antrag vor

Die Vertreter der islamischen Verbände im Rat der Religionen hingegen müssten schon lange von den Plänen wissen. Seit Sommer 2020 sei die Stadtverwaltung im Gespräch mit den Moscheegemeinden, heißt es in der Mitteilung 1940/2021, die am 25. Oktober zuerst den Kommunalpolitikern in der Bezirksvertretung Mülheim und im Ausschuss für Allgemeine Verwaltung zur Kenntnisnahme vorgelegt und anschließend bis zum 25. November die Runde durch weitere acht Bezirke, den Integrationsrat und den Sozialausschuss machen wird. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.

Auf Nachfrage bestätigt eine Stadtsprecherin zunächst, das Projekt Muezzin-Ruf sei sehr wohl im Rat der Religionen Thema gewesen. 2021 kann das aber nicht der Fall gewesen sein. Zumindest taucht das Thema in keinem der Protokolle der vier Sitzungen auf, und mehrere Teilnehmer können sich auch nicht daran erinnern, dass darüber gesprochen worden sei.

Später korrigiert die Sprecherin ihre Aussage. Das Gremium habe „sich nicht ausdrücklich mit dem Gebetsruf der Moscheegemeinden befasst“. Es liege auch keine Zahl der Moscheegemeinden vor, mit denen in den letzten eineinhalb Jahren Gespräche geführt worden seien „oder die sich anderweitig zu Wort gemeldet haben“. Bisher hätten drei Gemeinden zumindest ihr Interesse bekundet.

Drei Gemeinden bekunden Interesse

Drei von 35, eine überschaubare Zahl. Offizielle Anträge gibt es noch nicht. Weiß die Stadtverwaltung am Ende gar nicht, wie groß das Interesse der Moscheegemeinden tatsächlich ist? Wie ernsthaft können die Gespräche gewesen sein, wenn die Verwaltung weder ihre Anzahl benennen kann noch wann und wo sie stattgefunden haben?

„Ich kenne die Hintergründe nicht, die die Oberbürgermeisterin dazu bewogen haben, den Rat der Religionen nicht einzubeziehen“, sagt der Theologe Werner Höbsch, Vorsitzender des Trägervereins der Karl-Rahner-Akademie, die in dem Gremium vertreten ist. „Vielleicht wollte sie das Heft des Handelns in der Hand haben, bevor sie andere informiert. Es wäre aber gut gewesen, uns ins Boot zu holen.“

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Rechtlich sei die Lage eindeutig. Der Gebetsruf sei mit der Verfassung und dem Recht auf freie Religionsausübung vereinbar, sagt Höbsch. Und zwar unabhängig von der Frage, „wie der jeweilige Verband zum türkischen Staatspräsidenten Erdogan steht“. Deshalb könne die Stadt den Gebetsruf nur allen Moscheegemeinden anbieten oder keiner.

„Politisch heißt das nicht, dass ich das unterstütze, was in der Ditib-Moschee geschieht. Das gilt zum Beispiel für die Rolle der Frau“, sagt Höbsch. Die Religionsgemeinschaften hätten das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten zu organisieren, solange sie nicht gegen geltende Gesetze verstießen. „Ob der Koran eher wortwörtlich oder liberal ausgelegt wird, ist nicht Sache des Staates.“ Ihn bestärke, dass auch liberale Frauen wie die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor, Mitgründerin des Liberal-Islamischen Bundes, und die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur sich „positiv“ zum Gebetsruf geäußert hätten, so Höbsch.

Muezzinruf in Köln: Coronakrise als Auslöser für den Modellversuch

Auslöser für den Modellversuch war laut Stadtverwaltung die Corona-Krise. Weil während der Pandemie alle Glaubensgemeinschaften nur sehr eingeschränkt agieren konnten und selbst hohe religiöse Feste ausfallen mussten, wurden im Frühjahr 2020 als Zeichen der Solidarität zu festgelegten Zeiten in den christlichen Kirchen die Glocken geläutet. Damals schlossen sich Moscheegemeinden mit dem Ruf zum Freitagsgebet an.

Aber warum dann diese Geheimniskrämerei bei einem derart polarisierenden Thema? Offenbar hatte die Oberbürgermeisterin auch nicht geplant, die Öffentlichkeit frühzeitig in das Modellprojekt Gebetsruf einzubeziehen.

Viel Unmut über Rekers Alleingang

„Wir sind von Frau Reker in unserer turnusmäßigen Runde mit der Fraktion am 7. Oktober informiert worden, dass es den Gebetsruf an Kölner Moscheen zum Freitagsgebet geben wird“, sagt FDP-Fraktionschef Ralph Sterck. „Ich habe darauf gedrängt, dass die Stadt zu diesem doch sehr kontroversen Thema eine Pressemitteilung veröffentlicht, bevor die Sitzungsunterlagen verschickt werden, um die zu erwartenden Debatten ein wenig abzufedern.“ Genau das geschieht noch am gleichen Abend – um 19.54 Uhr.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Christiane Martin, bestätigt, dass Reker sie und Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer in einem persönlichen Gespräch über das Projekt informiert hat. „Wir begrüßen das zweijährige Modellprojekt. Es entspricht der Religionsfreiheit und dem Gleichheitsgrundsatz. Und es zeigt Respekt und Toleranz gegenüber Menschen muslimischen Glaubens, die zu unserer Stadtgesellschaft gehören“, sagt Martin.

„Toleranz und Integration sind keine Einbahnstraßen“

Über das Verfahren und den Alleingang der Oberbürgermeisterin sei man verärgert, heißt es aus der CDU-Fraktion. Eine Woche lang gibt es vom Fraktionsvorsitzenden Bernd Petelkau keine Stellungnahme. Der Pressesprecher der Ratsfraktion verweist auf das Statement der Bundestagsabgeordneten und stellvertretenden Parteivorsitzenden Serap Güler auf der Internetseite der Partei: „Religionsfreiheit ist für uns ein fundamentales Menschenrecht. Religionsfreiheit ist auch nie exklusiv. Daher ist der Wunsch nach dem Ruf zum Freitagsgebet nachvollziehbar. Für Köln hätten wir uns dazu allerdings einen intensiveren Austausch gewünscht“, schreibt Güler. „Ein umfassender Diskurs im Vorfeld des Modellprojekts hätte dazu führen können, dass das Vorhaben gesellschaftlich breiter getragen wird.“

Erst auf Nachfrage ringt sich die CDU-Fraktion zu einer eigenen Stellungnahme durch. „Toleranz und Integration sind keine Einbahnstraßen. Die Ditib ist in der Vergangenheit leider mehr durch mangelnde Transparenz als durch ein offenes Miteinander aufgefallen. Dafür haben die Menschen in unserer Stadt ein feines Gespür und die aktuelle Diskussion spiegelt auch den Unmut über dieses Verhalten wider“, so Fraktionschef Petelkau.

Die Kritik der SPD-Fraktion, die nach Angaben ihres Vorsitzenden Christian Joisten von den Plänen erst durch die städtische Pressemitteilung erfährt, fällt noch deutlicher aus. „Der Wunsch nach dem Ruf zum Freitagsgebet ist absolut nachvollziehbar, ebenso wie die aktuelle Diskussion darum“, sagt Joisten. „Bei einem solchen Thema muss es vorab eine breite, gesamtgesellschaftliche Debatte geben. Das hat Frau Reker unterlassen und die Menschen vor vollendete Tatsachen gestellt. Das war ein schwerer Fehler und hat der Sache einen Bärendienst erwiesen.

Ditib will neu verhandeln

Doch was hat Kölns Oberbürgermeisterin zu diesem Alleingang veranlasst? „Ich freue mich, dass wir mit diesem Modellprojekt den berechtigten religiösen Interessen der vielen Muslim*innen in unserer weltoffenen Stadt Rechnung tragen, damit ein Zeichen der gegenseitigen Akzeptanz der Religion setzen und ein Bekenntnis zur grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit abgeben – aber auch die Interessen der hier lebenden Muslim*innen akzeptieren“, sagt sie in ihrer offiziellen Stellungnahme. „Muslim*innen, viele von ihnen hier geboren, sind fester Teil der Kölner Stadtgesellschaft. Wer das anzweifelt, stellt die Kölner Identität und unser friedliches Zusammenleben infrage. Wenn wir in unserer Stadt neben dem Kirchengeläut auch den Ruf des Muezzins hören, zeigt das, dass in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird.“

Im übrigen habe das Oberverwaltungsgericht Münster im Jahr 2020 entschieden, dass der Ruf für das Freitagsgebet von der Religionsfreiheit  geschützt ist und es grundsätzlich kein Recht gibt, „von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben“, so das Urteil. „Das muss auch für unsere internationale und weltoffene Stadt gelten“, sagt Reker. Für Moscheegemeinden sei der Gebetsruf „Bestandteil ihrer Glaubensausübung und daher ist ihr Wunsch für mich nachvollziehbar, dass wir den Ruf des Muezzin zulassen. Wir wollen nun herausfinden, unter welchen Voraussetzungen das auch für Nachbarschaften akzeptabel ist“.

Dass das Modellprojekt vor allem mit Blick auf die Türkisch-Islamische Union der Anstalt der Religionen (Ditib) und die Zentralmoschee in Ehrenfeld problematisch werden könnte, wird schon vier Tage nach der Ankündigung deutlich. Man begrüße das Projekt, teilt die Ditib mit. „Wie die Umsetzung in der Zentralmoschee erfolgen kann, wird intern noch beraten und danach erst mit der Stadt Köln besprochen werden.“

Einen Trend gibt die Ditib schon zu erkennen. Sie möchte neu darüber verhandeln, ob der 2008 beschlossene Verzicht auf den Muezzin-Ruf aufgekündigt werden kann, ohne den der Bau damals nicht zustande gekommen wäre.

In anderen Städten sei der öffentliche Ruf zum Freitagsgebet „längst möglich und unproblematisch“, so die Ditib. „Die Entscheidung der Stadt Köln wäre insofern nicht bundesweit einmalig, sondern reiht sich in diese Kette der gegenseitigen Toleranz und Akzeptanz ein.“

Erdogan-Auftritt bleibt ohne Folgen

Läuft die Oberbürgermeisterin schon jetzt Gefahr, mit dem Modellversuch zu scheitern, weil die Ditib das Abkommen aufkündigt und auf ihrem Recht zum öffentlichen Gebetsruf besteht, während die kleinen Moscheegemeinden gar kein Interesse daran zeigen?

Dass die Ditib in den vergangenen Jahren, vor allem seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Juli 2016, für den Staatschef Recep Tayip Erdogan die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, als verlängerter Arm Ankaras gilt und Imame im Verdacht standen, missliebige Gemeindemitglieder, darunter auch Lehrer, bespitzelt zu haben, scheint für den Vorstoß der Oberbürgermeisterin keine Rolle gespielt zu haben.

Auch der Skandal um die Eröffnung der Zentralmoschee im September 2018 durch Erdogan in Ehrenfeld ohne eine Beteiligung offizieller Vertreter der Stadt scheint vergessen. Ehrenfelds ehemaliger Bezirksbürgermeister Jupp Wirges, der immer ein Befürworter der Moschee war, stand an diesem Tag zwischen Drängelgittern und Wasserwerfern. Das sei nicht sein Ehrenfeld, sondern „exterritoriales Gebiet“, eine „Feierstunde der Parallelgesellschaft“, sagte der SPD-Politiker voller Entsetzen.

Moschee-Beirat längst eingeschlafen

Auch die Oberbürgermeisterin hatte damals ihre Teilnahme unter Protest abgesagt. Die Veranstaltung, zu der mehr als 20 000 Erdogan-Anhänger angereist waren, wurde von heftigen Protesten der linken und rechten Szene begleitet. In der Stadt herrschte einen Tag lang Ausnahmezustand, 3000 Polizisten waren im Einsatz. Selbst die Autobahn, die Anfahrtroute vom Flughafen Köln/Bonn bis zur Moschee, musste aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Ministerpräsident Armin Laschet und die Oberbürgermeisterin nahmen den Staatsgast kurz am Flughafen in Empfang. Eine Pflichtaufgabe – mehr nicht.

Damals stand die Stadt mit ihren Integrationsbemühungen vor einem Scherbenhaufen, kündigte Henriette Reker einen härteren Kurs gegenüber der Ditib an. „Ich werde der Ditib ganz klar sagen, dass sie wieder eine stabile Verbindung in die Stadtgesellschaft aufbauen muss“, sagte die Oberbürgermeisterin damals. Auch im Moschee-Beirat, der den Bau in Köln begleitet hat, sei inzwischen „an vielen Stellen das Tischtuch zerschnitten“. Reker fügte hinzu: „Die Ditib muss sich jedenfalls jetzt bewegen, sie muss mitarbeiten.“ Das könne „nach all der enttäuschenden Entwicklung“ ein Wendepunkt sein.

Harter Kurs ist ausgeblieben

Geschehen ist seither wenig, der Moschee-Beirat eingeschlafen, Rekers harter Kurs ausgeblieben.

Necla Kelek, deutsch-türkische Soziologin und Islam-Expertin, wirft der Oberbürgermeisterin vor, mit der Entscheidung für den Muezzin-Ruf nur nach persönlicher Anerkennung zu streben. „Sie sagt, Köln sei eine weltoffene Stadt und fördert gleichzeitig archaische und patriarchalische Strukturen“, so Kelek. „Das passt nicht zusammen. Ich frage mich, wie eine Oberbürgermeisterin angesichts der Entwicklung der Moscheen in den letzten zehn Jahren sagen kann, die Muslime seien mitten in Deutschland angekommen.“

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Auch nach 60 Jahren Migrationsgeschichte seien sie in ihrer Religionsausübung nicht unabhängig. „Wir hatten keine Chance, eigene Gotteshäuser zu bauen, weil alle Moscheen bis heute von den Herkunftsländern bestimmt werden“, sagt Kelek. Davor könne auch Henriette Reker die Augen nicht verschließen. Säkulare gläubige Muslime, die in Deutschland ungefähr die Hälfte aller Muslime ausmachten, hätten keine Stimme, „weil sie nicht in Moscheegemeinden organisiert sind“.

Die Inhalte zu den Freitagspredigten in der Ehrenfelder Zentralmoschee, der größten in NRW, kämen direkt aus Ankara, so Kelek: „Frau Reker sollte sich lieber fragen, woher die Gelder und die Inhalte kommen und welches Weltbild in diesen Moscheen vermittelt wird.“ Ein Weltbild, dass die Herrschaft der Männer über die Frauen manifestiere, für die es in den Gotteshäusern verbotene Zonen gebe, sagt Kelek. „Das alles dürfen sie demnächst in Köln mit Erlaubnis einer Europäerin hinausposaunen, die auf Gender-Sternchen setzt. Damit fällt sie uns muslimischen Frauen, die in den islamischen Ländern Gleichberechtigung fordern und wollen, in den Rücken.“

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