Schlimmer Unfall auf Kölner A3Eltern kämpfen um Gerechtigkeit für ihren toten Sohn

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Annemarie und Klaus Gerlinger fordern eine Anpassung der Gesetze.

Annemarie und Klaus Gerlinger fordern eine Anpassung der Gesetze.

  • Am frühen Morgen des 26. Oktober 2018 verlieren Annemarie und Klaus Gerlinger ihren Sohn.
  • Auf der Autobahn 3, Höhe Köln-Holweide, rast ein Lastwagen-Fahrer ungebremst in das Schlussfahrzeug einer Straßenbaukolonne. Dirk Gerlinger (48) hat keine Chance.
  • Das Urteil für den Fahrer fällt in den Augen der Eltern schockierend milde aus. Seitdem kämpfen Dirk Gerlingers Eltern um Gerechtigkeit – für ihren Sohn und andere Unfallopfer..
  • Die Ausführungen der Richterin seien „zynisch und menschenverachtend“ gewesen.

Bergheim/Köln – Klaus Gerlinger (72) hat das nicht glauben wollen. Schließlich war er selbst mit Leib und Seele Polizist. Mehr als 40 Jahre. Äußerst korrekt, ausgestattet mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Nach alldem, was er und seine Frau in den vergangenen knapp zwei Jahren erleben mussten, habe sich bei ihnen der Eindruck verfestigt, „dass Verkehrstote bei vielen Gerichten als der normale Preis der Mobilität angesehen werden“, sagen sie. Und fügen mit brüchiger Stimme hinzu. „Unser Eindruck ist, dass dies auch in unserem Fall so war.“

Am frühen Morgen des 26. Oktober 2018 haben die Gerlingers ihren Sohn Dirk verloren. Auf der Autobahn 3, bei Kilometer 136,600, Höhe Köln-Holweide, Fahrtrichtung Frankfurt. An diesem Freitag gegen 4.27 Uhr rast ein Lastwagen-Fahrer ungebremst in das Schlussfahrzeug einer Straßenbaukolonne. Dirk Gerlinger, 48, hat keine Chance. Er erleidet schwerste Kopfverletzungen und stirbt noch an der Unfallstelle.

Der Lkw, so wird es ein Sachverständiger später feststellen, ist mit eingeschaltetem Tempomaten und Tempo 89 unterwegs. Nach Abzug der Toleranzgrenze sind das 83 km/h. Die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle war auf 60 Kilometer pro Stunde reduziert. Darüber hinaus wurde dem Lkw-Fahrer attestiert, dass er den Verkehrsraum nicht beachtet hat. Die Strecke ist schnurgerade, es regnet nicht, es gibt keinerlei Sichtbehinderungen. Der Fahrer missachtet sämtliche Hinweisschilder, die schon mehrere hundert Meter vor der eigentlichen Absicherung der Baustelle vor dem Hindernis warnen, schiebt das Baustellenfahrzeug mitsamt des Nachläuferwagens noch 39 Meter vor sich her, bevor sein Lkw zum Stehen kommt. Damit ist auch gut vorstellbar, mit welch ungeheurer Wucht der Wagen auf das Hindernis prallte. Die Angaben des Fahrers werden später ergeben, dass er die Dauerbaustelle kannte, weil er jede Nacht dieselbe Strecke fuhr.

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Knapp zwei Jahre später. Wir sitzen im Wohnzimmer der Gerlingers in einem Reihenhaus in Quadrath-Ichendorf. Auf dem Tisch liegen zwei Aktenordner. Annemarie Gerlinger (72) hält ein Foto ihres Sohns in den Händen. Der Unfall, der Verlust eines Kindes, dieser sinnlose Tod, sei schon schlimm genug gewesen, sagt sie leise.

Auch die Umstände, unter denen sie vom Tod ihres Sohnes erfuhren, haben sie schwer getroffen. Die Bergheimer Polizei ist nach eigenen Angaben am Unfalltag um 14.40 Uhr zu den Eltern gefahren, aber es habe niemand geöffnet.

„Das kann nicht sein. Wir waren zu Hause“, sagt Klaus Gerlinger. Aus eigener Erfahrung wisse er, dass die Polizei bei der Benachrichtigung in Todesfällen in der Regel sehr professionell vorgeht. „Wir waren wahrscheinlich die berühmte Ausnahme“, sagt er. Eine Schwachstelle im System wolle er dennoch ansprechen. „Es gibt in der Fortbildung für Polizeibeamte zwar Seminare mit Notfallseelsorgern. Die Teilnahme daran ist aber freiwillig.“

So dauert es bis Sonntag, ehe Freunde ihres Sohnes anrufen und ihnen, die von nichts ahnen, kondolieren. Dabei hatte es schon am Samstag beim Heimspiel des 1. FC Köln gegen Heidenheim vor 50 000 Zuschauern eine Gedenkminute mit Bannern für Dirk im Rhein-Energie-Stadion gegeben – der treue FC-Anhänger war Mitglied in einem Fanclub und entsprechend gut vernetzt.

Das alles haben die Gerlingers irgendwie verdaut. Die Gerichtsverhandlung aber habe ihren Glauben an Gerechtigkeit vollends erschüttert. Im Dezember 2019 wird der 40 Jahre alte Berufskraftfahrer wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten und 5000 Euro Geldbuße, die sie für soziale Zwecke gespendet haben, verurteilt. Seinen Führerschein darf er behalten – wegen seiner günstigen Sozialprognose. Der 40-Jährige ist bis zur Unfallnacht der Polizei nur einmal aufgefallen – wegen eines abgefahrenen Reifens.

Die Gerlingers wohnen dem Prozess bei. Als Nebenkläger hoffen sie, dass der Fahrer zu einer angemessenen Freiheitsstrafe und zur Entziehung der Fahrerlaubnis für eine gewisse Dauer verurteilt wird. „Das bringt uns unseren Sohn auch nicht zurück“, sagt Klaus Gerlinger vor der Verhandlung. „Aber wir haben die Erwartung, dass so Tat und Strafe wieder zueinander passen.“

„Zynisch und menschenverachtend“

Dass genau dies nicht geschieht, macht ihn bis heute fassungslos. „Zynisch und menschenverachtend“ seien die Ausführungen der Richterin, der er ansonsten eine „untadelige Verhandlungsführung“ bescheinigt, in ihrer Urteilsbegründung gewesen. Der Beschuldigte habe zwar eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen, diese sei aber nicht so gravierend und im Übrigen ja auch nur eine Ordnungswidrigkeit. Von der Verteidigung war sinngemäß zu hören, dass sicherlich jeder schon mal zu schnell gefahren ist. „Für uns lautete die unausgesprochene Botschaft: Wenn alle zu schnell fahren, dann darf es mein Mandant auch.“

Nicht so gravierend. Diese Aussage quält die Gerlingers bis heute. „Wie kann man so etwas sagen? Der Sachverständige hat im Verlauf der Verhandlung ausgeführt, dass unser Sohn noch leben würde, wenn sich der Fahrer an das Tempolimit gehalten hätte.“

Psychologische Hilfe

Lange, sehr lange, haben sich die Gerlingers mit diesem Satz auseinandergesetzt. Sie haben psychologische Hilfe in Anspruch genommen und sagen von sich, sie seien inzwischen „einigermaßen stabil“. Doch Klaus Gerlinger findet keine Ruhe. Die Urteilsbegründung widerspricht seinem Rechtsempfinden. Es gehe ihm nicht darum, das Urteil im Falle seines Sohnes anzuzweifeln, aber „es geht ja nicht nur um uns, sondern auch um die vielen anderen, die das gleiche Schicksal erlitten haben“. Wenn Gerichte sich an Verkehrstote als einen normalen Preis der Mobilität gewöhnten und „im Gefolge davon schwere und schwerste Unfälle bagatellisieren, müssen wir doch das Bewusstsein dafür schaffen, dass das so nicht geht“. Das sei ein langer Weg.

Das Ehepaar Gerlinger will ihn gehen. Aus seiner Sicht müssen Unfälle mit derartigen Folgen härtere Konsequenzen haben. Bei den Rasern sei das doch auch geschehen. Vor ein paar Monaten hat er damit begonnen, mit gleichlautenden Briefen an die zuständigen Bundes- und Landesministerien, an Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Lobbyverbände wie den ADAC und die Verkehrsunfallopferhilfe zu schreiben. Auch mit dem Institut für Strafrecht der Uni Köln hat er sich in Verbindung gesetzt. „Bei den Familien der Opfer entsteht der Eindruck, dass der Tod eines Menschen hinter einer milden Bestrafung der Verursacher zurücksteht“, heißt es in dem Schreiben. „Ursachen und Wirkungszusammenhänge werden völlig ignoriert.“ Die Erklärung für ein Verhalten dürfe grundsätzlich nicht zu einer Herabminderung von Schuld führen.

Diskussion über Strafmaß anstoßen

Er wolle eine Diskussion über „die Anpassung von Sanktionen im Verhältnis zu den Gefährdungen anstoßen“, sagt Gerlinger. „Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer ist offenbar völlig ahnungslos. Das Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit ist Hauptunfallursache Nummer eins.“ Die Antworten seien teilweise lapidar oder unpersönlich gewesen. Das NRW-Justizministerium habe ihm gar unterstellt, er wolle den Minister zum Eingreifen bei Gericht veranlassen. „Das war nun wirklich nicht unsere Absicht.“

In den meisten Reaktionen der Politik seien die Initiativen gegen Raserei hervorgehoben worden, es seien aber auch vielversprechende Antwortschreiben dabei gewesen. „Ich habe den Eindruck, dass da noch einiges an Aufbauarbeit zu leisten ist. Wir sind bereit, unseren Teil dazu beizutragen. Straftaten wie die im Falle unseres Sohns sollten angemessen im Verhältnis zur Schwere der Tat bestraft werden.“ Das gelte auch für den Entzug der Fahrerlaubnis.

Gerlinger erwartet, dass sich die zuständigen Gremien und Ausschüsse zumindest intensiv mit dem Thema beschäftigen, bevor sie zu einer Einschätzung gelangen. Für ihn steht fest: „In dieser Sache kann man nur Abhilfe schaffen, indem man die Gesetze anpasst. Dabei sind wir mit unseren Gedanken neben unserem Sohn Dirk auch bei den zahlreichen anderen Geschädigten, deren Angehörige auf die vergleichbare Weise getötet wurden.“

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