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„Debatte geht an Realität vorbei“Wie Obdachlose auf die Diskussion um Verwahrlosung in Köln blicken

7 min
Kim lebte ein Jahr lang auf den Straßen Kölns.

Kim lebte ein Jahr lang auf den Straßen Kölns.

Drogenelend und Obdachlosigkeit nehmen in Köln sichtbar zu – genauso wie Verdrängung. Drei Betroffene erzählen, was sich aus Ihrer Sicht ändern muss.

Der Himmel über Köln ist wolkenverhangen am 6. Dezember 2024. Regenschauer ziehen über die Stadt, der Wind pfeift, die Temperatur liegt bei acht Grad. Es ist der Tag, an dem Leo Büchner begreift: „Jetzt bin ich ganz unten angekommen.“

Zwei Tage zuvor ist Büchner aus seiner Wohnung geschmissen worden, sein Vermieter hatte ihn rausgeklagt. Bis zuletzt wollte Büchner nicht glauben, dass er auf der Straße landen wird. „Seitdem ich wusste, dass ich aus der Wohnung muss, habe ich mich auf hunderte Wohnungen beworben. Irgendetwas, dachte ich, wird schon dabei herauskommen.“ Erst als ihn der Vermieter der Wohnung verwies und ihm empfahl, sich bei der Winterhilfe zu melden, wusste Büchner, dass seine Mühe vergebens war. Er kam in der Notschlafstelle unter. Und schon in seiner zweiten Nacht, in der Nacht zum 6. Dezember, erzählt Büchner, wurde er bestohlen. „Mein Handy, mein Geld, mein Personalausweis – alles wurde mir gestohlen. Als ich die Notschlafstelle am 6. Dezember verließ, stand ich praktisch nackt da, ohne Namen, ohne Identität.“ Mittlerweile ist Büchner in einem Obdachlosenhotel untergebracht, lebt dort mit zwei anderen Menschen auf engstem Raum in einem Zimmer.

Verständnis für Ängste von Anwohnern

Seit Monaten schwelt eine Debatte in Köln über die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes. Gemeint damit ist auch die zunehmende Sichtbarkeit von Obdachlosigkeit und Drogenelend in der Stadt. Die Frage, wie umzugehen ist, mit drogenkranken Menschen und mit Obdachlosen, die vor Häusern und in U-Bahn-Haltestellen übernachten, mit der zunehmenden Angst von Anwohnern an Plätzen wie dem Neumarkt oder dem Appellhofplatz, wird kontrovers diskutiert.

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Zuletzt bezeichnete Polizeipräsident Johannes Hermanns den Drogenkonsumraum am Neumarkt im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ als „gescheitert“ und forderte eine Neuausrichtung der Hilfsangebote. Sozialdezernent Harald Rau will mit drei neuen Suchthilfezentren gegen den Drogenkonsum im öffentlichen Raum vorgehen.

Leo Büchner ist mittlerweile in einem Obdachlosen-Hotel untergekommen.

Leo Büchner ist mittlerweile in einem Obdachlosen-Hotel untergekommen.

Gleichzeitig gehen Stadt, Polizei und KVB restriktiver gegen die Szene vor. Die KVB kündigte an, gegen ein nächtliches Lagern von Obdachlosen in den U-Bahn-Haltestellen vorzugehen, gemischte Streifenteams an Brennpunktorten stehen der Szene auf den Füßen – was dazu führt, dass sie sich unter anderem nach Ehrenfeld verlagert. Die Kölner CDU forderte gar, Obdachlose von Plätzen wie dem Neumarkt zu „räumen“.

Wie blicken Menschen wie Leo Büchner auf diese Debatte? Wie auf die Zustände in Köln? „Dass die Verwahrlosung zunimmt, ist offensichtlich“, sagt er. „Ich kenne den Neumarkt seit 30 Jahren, dort gab es immer schon eine Drogenszene“, so der 50-Jährige. „Mittlerweile trifft man aber in der ganzen Innenstadt auf Obdachlose, in Hauseingängen und in der U-Bahn.“ In Büchners Augen ist das kein Wunder: „Die Gesellschaft verroht insgesamt. Die Hemmschwelle sinkt, Konflikte und Gewalt nehmen zu.“

Wenn du auf der Straße lebst, wenn du keine Privatsphäre mehr hast und dich jeden Tag immer minderwertiger fühlst, da ist es nicht leicht, Alkohol und Drogen zu widerstehen.
Leo Büchner

Auf der Straße ist Büchner nach zwei Unfällen gelandet, bei dem er sich wiederholt den Ellenbogen gebrochen hatte. Seinen Beruf in der Sicherheitsbranche konnte er nicht länger ausüben, war zunächst krankgeschrieben und wurde nach einigen Monaten entlassen.  „‚Jetzt müssen wir sie nicht länger babysitten‘, wurde mir sinngemäß zum Abschied gesagt.“ Die Miete und seine Rechnungen konnte er nicht mehr lange zahlen. Dann verlor Büchner im Dezember seine Wohnung.

Er selbst nehme keine Drogen, sagt er. „Aber wenn du auf der Straße lebst, wenn du keine Privatsphäre mehr hast und dich jeden Tag immer minderwertiger fühlst, da ist es nicht leicht, Alkohol und Drogen zu widerstehen, die all das ein bisschen betäuben können. Doch wenn man einmal anfängt, gerät man schnell in eine Spirale, aus der man kaum wieder herausfindet.“

Büchner sagt, er hat Verständnis für Sorgen und Ängste von Anwohnern. „Aber mit Vertreibung löst man das Problem nicht. Wo sollen die Leute denn hin?“ Stattdessen brauche es mehr Hilfsangebote für Süchtige – und mehr Wohnungen: „Es wird immer gesagt, es gibt eine Wohnungskrise in Köln. Aber das stimmt nicht. Es gibt genug leerstehende Wohnungen in Köln“, sagt Büchner. „Warum nutzt man die nicht, um Obdachlose von der Straße wegzuholen?“

Die offene Drogenszene sammelt sich vor allem auf dem Josef-Haubrich-Hof vor der Zentralbibliothek.

Die offene Drogenszene sammelt sich vor allem auf dem Josef-Haubrich-Hof vor der Zentralbibliothek.

Auch Kim blickt kritisch auf die Diskussion um Verwahrlosung in Köln. „Diese ganze Debatte geht an der Realität vorbei“, sagt sie. „Niemand schläft freiwillig an einem Ort, an dem Müll liegt und es nach Urin riecht.“ Für viele Menschen ohne Wohnung seien U-Bahn-Haltestellen einer der letzten Rückzugsorte. Sie bieten Schutz vor Hitze, Kälte und vor allem vor Gewalt. „Die Öffentlichkeit solcher Orte schafft soziale Kontrolle. Das ist oft sicherer als eine Parkbank im Dunkeln.“

Notschlafstellen seien für viele keine echte Option: „Da müssen sich häufig mehrere Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Suchterfahrungen ein Zimmer teilen. Das eskaliert schnell.“ Viele hätten Angst, bestohlen oder angegriffen zu werden.

Wende in Kölner Wohnungspolitik gefordert

Kim selbst lebte nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie etwa ein Jahr lang auf der Straße in Köln, verdiente mit Straßenmusik ihr Geld und schlief in den Wäldern und Seen rund um die Stadt. Da war sie Anfang 20. Später kam sie in besetzten Häusern unter, heute hat sie eine Wohnung, gibt unter anderem für die Obdachlosen-Zeitung „Draussenseiter“ Stadtrundgänge zum Thema obdachlosenfeindliche Architektur.

Ihre Zeit auf der Straße beschreibt Kim als ungewöhnlich. „Als Transfrau war es immer schwer, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das bürgerliche Leben hat mich erstickt. Ich wollte ausbrechen, frei sein und ausleben, wer ich bin.“ Das Leben auf der Straße erschien deswegen attraktiv. Gleichzeitig habe sie mit psychischen Problemen gekämpft, die mitverantwortlich für ihre Obdachlosigkeit gewesen seien, erzählt Kim. „Nahezu jede transidente Person macht im Laufe ihres Lebens Erfahrungen mit Gewalt, Ausgrenzung oder Traumata.“ Das sei auch bei ihr der Fall gewesen.

„Mir sind auch schlimme Sachen passiert, als ich auf der Straße gelebt habe. Insgesamt habe ich aber viele positive Erfahrungen gesammelt. Ich möchte diese Zeit nicht missen.“ Sie habe Freunde auf der Straße gefunden, auf die sie sich verlassen konnte, Drogen habe sie nicht genommen, so Kim. „Es braucht aber viel Glück und einen starken Willen, Obdachlosigkeit so zu leben, wie ich es getan habe.“

Es sind jetzt neue Drogen, wie Crack und Fentanyl, die die Szene beherrschen. Die Wirkung ist kürzer, der Preis günstiger – also nehmen die Leute mehr und sind immer auf der Suche.
Michael

Für viele sei so ein Weg nicht gangbar. „Ich habe viele Menschen auf der Straße kennengelernt, die jetzt tot sind. Menschen, die viel Geld hatten und durch einen Schicksalsschlag alles verloren haben, Mütter, deren Kinder gestorben sind und die deswegen angefangen haben, Heroin zu nehmen.“ Hinter fast jedem Menschen ohne Wohnung stecke ein schweres Schicksal. „Das Leben auf der Straße macht es fast unmöglich, nüchtern zu bleiben.“

Kim fordert mehr psychologische Unterstützung für wohnungslose Menschen – und ein radikales Umdenken in der Wohnungspolitik. Sie plädiert für das „Housing First“-Modell nach finnischem Vorbild, bei dem Betroffene ohne Vorbedingungen wie Therapie oder Abstinenz sofort eine eigene Wohnung erhalten und gleichzeitig Zugänge zu solchen Angeboten bekommen. „Nur so lässt sich Obdachlosigkeit nachhaltig bekämpfen“, sagt sie.

Das sieht auch Michael so. Der 49-Jährige lebt seit fast drei Jahrzehnten auf der Straße, war in Frankfurt, Berlin, Hamburg und immer wieder auch in Köln unterwegs. Vor ein paar Wochen hat ihn ein Sozialarbeiter eine kleine Garage vermittelt, in dem er nun übernachtet. „Wegen meiner Lungenkrankheit ist die Straße wohl nichts mehr für mich“, sagt er.

Vor allem mit Blick auf die Forderungen der Kölner CDU sagt er: „Diese ganzen Parolen sind ja nicht neu, die kommen seit Jahren immer wieder, vor allem wenn Wahlkampf ist.“ Und doch sieht auch er, wie sich das Problem gerade in der Drogenszene zuspitzt. Die Stimmung werde insgesamt aggressiver auf der Straße, sagt er. „Es sind jetzt neue Drogen, wie Crack und Fentanyl, die die Szene beherrschen. Die Wirkung ist kürzer, der Preis günstiger – also nehmen die Leute mehr und sind immer auf der Suche.“ 

Gleichzeitig spürt er, dass sich die Stimmung in der Öffentlichkeit zunehmend gegen Obdachlose richtet. Orte, an denen er jahrelang Flaschen gesammelt oder übernachtet hat, werden inzwischen strenger von Sicherheitsdiensten überwacht. Immer häufiger, sagt Michael, werde er dort vertrieben. Auch er habe Verständnis für Anwohner, „vor allem für Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder dieses Elend sehen am Neumarkt oder am Ebertplatz und deswegen sagen: Die Junkies müssen da weg. Aber nur mit Verdrängung wird das nicht besser.“

Um die Drogenkonsumenten von der Straße zu bekommen, brauche es bessere Alternativen: „Es gibt zwar Konsumräume, aber keine Aufenthaltsräume für die Drogensüchtigen. Deswegen hängen die den ganzen Tag am Neumarkt rum. Wenn man bessere Räume schafft, wird sich die Lage auch wieder bessern.“

Der nächste Soziale Stadtrundgang mit Kim findet am 1o. Oktober um 16 Uhr statt. Anmeldung unter tour@draussenseiter-koeln.de