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StadtwanderungSo wild ist der Kölner Norden

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Durchs wilde Weidenpesch 

Köln – Und das soll schön sein? Wir stehen am Ende einer langen, schmalen Gasse. Sie führt an den Rhein, wie alle Gassen von Alt-Niehl. Für die Bewohner des Fischerdorfes waren sie die kürzesten Wege zu ihren Booten.

Doch heute verzweigt sich die Lachsgasse in einem Puzzlespiel aus mal in die Breite, mal in die Tiefe angelegten Garagen, aus quer wie frontal zum Fluss gebauten Häusern von unterschiedlicher Dachhöhe und -konstruktion, vernachlässigt oder im Top-Zustand. Ein gelbbrauner Schuppen grenzt an ein hellgraues Garagentor, eine Straßenlaterne kommt einer Mauer viel zu nahe.

Stadtplaner könnten ob dieses Anblicks verzweifeln. Boris Sieverts aber blickt auf ein Gemälde. Er sieht ein Spiel aus Formen, Formaten und Farben. Als hätte Niehl an dieser Stelle aus seiner Geschichte – die Unregelmäßigkeit der Parzellen, in denen sich das Dörfliche fortschreibt –, reinem Zufall und  gekonntem Seinlassen einen Cézanne geschaffen.  Mit seinem „Büro für Städtereisen“ erforscht Sieverts seit 1997 das Wesen der Städte, von Marseille bis Warschau, und immer wieder jenes seiner Wahlheimat Köln. Deren architektonischer Reiz bekanntlich im Verborgenen liegt.

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Der Architekt Rudolf Schwarz, nach dem Krieg für den Wiederaufbau des Kölner Trümmerhaufens  verantwortlich, verzweifelte ob des chaotisch bebauten Kölner Nordens: Im Großraum Nippes, schrieb er, könne man keinen ordnenden Gedanken erkennen. Sieverts nennt das ein atemberaubendes Durcheinander. In seinen Augen kann Köln schön sein.  

Erweckung an der Kiesgrube

Ein erstes Erweckungserlebnis, erzählt der 1969 geborene Künstler, hatte er, nachdem er zum Abitur von der Bonner Südstadt in den Kölner Osten gezogen war, an die Grenze zwischen Humboldt und Gremberg, und dort von Freunden entlang des Deutzer Postwegs zum großen Kiesgrubensee geführt wurde. Wie industriell verwerteter Boden wieder zu Natur wird, wie ein weitläufiger, ungeregelter öffentlicher Raum inmitten der Enge der Stadt entsteht!

Führung mit Boris Sieverts

Am 20.11. bietet der Künstler und Stadtführer Boris Sieverts eine Führung „Rund um das Deutzer Feld – Unterwegs im Niemandsland zwischen Kalk und Rhein“ an.

Das rechtsrheinische Köln jenseits des Rheinufers wurde von der Stadtplanung lange als Reserveland für problematische Infrastrukturen und Großprojekte gesehen. Nirgends wird das so deutlich wie im urbanen Niemandsland zwischen Messe und Kalkarkaden. 

Von 12-17 Uhr, 18 Euro. Anmeldung unter: borissieverts@gmx.de

Der Treffpunkt wird bei Anmeldung bekannt gegeben.

Nach dem Kunststudium an der Düsseldorfer Akademie zog Sieverts zurück nach Köln, unternahm Fotoausflüge durchs Gelände. Bald darauf kam ihm die Idee, dass man doch auch andere Interessierte auf solche Entdeckungsreisen mitnehmen könnte. Noch ein Erweckungserlebnis.

Diese zweite Epiphanie überfiel ihn, als er auf der Höhe des Parkgürtels tanken musste und hinter der Tankstelle in die Siedlung der belgischen Streitkräfte stolperte. Eine Welt für sich. Kleine Häuschen, verschlungene Wege. „Splendid“, sagt Sieverts, sei die geringe Bebauungsdichte. Großzügig wie ein Golfplatz. Am Rande der Siedlung an der Escher Straße, beginnt auch unsere Tour durch den rauen Kölner Norden.

Wir betreten die Siedlung durch ein verschlossenes Tor. „Das ist ein Schlüssel für die Müllabfuhr“, verrät Sieverts. „Türen aufmachen und da durch gucken“, umschreibt er das Neugier-Prinzip seiner urbanen Erkundungen. Sucht er nach Wegen abseits der ausgetretenen Pfade, fragt er Kinder und Hundebesitzer.

Wir steigen über einen Zaun, passieren einen Quotenspielplatz, der aus einer einzigen, traurigen Schaukel besteht, gehen entlang der Ravensburger Straße durch die breite Unterführung des unwirtlichen Hochhauses, die, sagt Sieverts, das Tor zum Stadtteil Bilderstöckchen markiert. „Relax“ verspricht die Kneipe im Erdgeschoss, die Kreuzung, auf die sie blickt, erzählt das Gegenteil. 

„Der Gürtel ist eine Scheidelinie, dahinter lösen sich die klassischen Viertel auf. Für die meisten Kölner hört die Stadt hier auf.“ Für Sieverts scheint sie hier erst so richtig zu beginnen. 

Wir gehen durch die U-Bahnstation Geldernstraße/ Parkgürtel, und wieder hinauf, unter der S-Bahnbrücke hindurch, einen kleinen Abhang hoch, klettern über das Geländer, stehen auf der Überführung.

„Ein Stück Ferienland, ausgeklammert aus dem irrsinnigen Betrieb darunter“, schwärmt Sieverts. Wie schön es hier sei, wenn die Strahlen der dämmernden Sonne durch die Schlitze zwischen U-Bahntunnel, Straße und S-Bahnbrücke brechen.

Weiter geht es. Die an dieser Stelle von der Zeit vergessene Etzelstraße entlang, an der die Straßenlampen noch ein altes Provisorium sind – in Köln hält sich nichts hartnäckiger als Provisorien. Herum um einen massiven alten Wohnblock, durch ein schmales Tor, das ein freiheitsliebender Mensch in einen hohen Gitterzaun geschnitten hat – „operativer Urbanismus“ bemerkt Sieverts – über eine Wiese, zurück zur elegant geschwungenen Hochbahn, die hier aus dem Untergrund auftaucht.

Hier fährt die Linie 13,  die einzige Bahn, die nicht durchs Zentrum führt, sich nicht am innenstädtischen Verkehrschaos beteiligt – und die aus dem einzigen Grund in luftigen Höhen fährt, weil der Grüngürtel ja eigentlich weiter ausgebaut werden sollte.

Einer dieser Kölner Pläne, die liegen bleiben, bis die Zeit über sie hinweggegangen ist. Nun soll stattdessen ein Radschnellweg bis zur Mülheimer Brücke entstehen. Eine gute Idee, findet auch Sieverts und trauert dennoch dem „Brachboulevard“ unter und neben der Hochbahn nach. Er hat eine Schwäche –  die seine große Stärke ist – für das Ungeplante, Liegengebliebene, das gegen alle städtebauliche Vernunft Gewachsene. Das Lückenhafte könne, je nach Licht und Wetter, einen ganz eigenen Zauber entfalten, oder zutiefst trostlos wirken. Jedenfalls erlaube es „große atmosphärische Amplituden“.

Entlang des Brachboulevards liegen Schätze, die in keinem Reiseführer stehen. An denen man selbst jahrelang vorübergegangen ist, ohne ihren Wert zu erkennen. Der Mittelsteg etwa, der nachträglich in den westlichen Eingang der Haltestelle Neusser Straße/Gürtel eingesetzt wurde, und der den wider den gesunden Menschenverstand angelegten Bahnhof – man muss treppab in die Tiefe, um die Rolltreppe nach oben zu nehmen – endgültig in eine M.C.-Escher-Grafik verwandelt, „man kommt immer anders heraus, als man denkt“.

Oder der Blick durch die herbstlich gelben Robinien am Nordpark auf die hellblau angestrichenen Hochhäuser, welche die GAG einst für türkische Ford-Mitarbeiter gebaut hat. „Da weiß man nicht, was Himmel ist und was Hauswand.“

Auf dem langen Weg durch den Norden wird selbst für die Einheimischen und Ortskundigen, vielleicht gerade für diese, das Stadt- zum Vexierbild, voller versteckter Wege und Panoramen. Der Weg zur besseren Überschau führt durch die Garage des „Aldi-Hochhauses“ (der Aldi ist schon lange ein türkischer Supermarkt), mit zwei Aufzügen hoch in den achten Stock. Unter der Trasse in der Nähe des Toni-Steingass-Parks entdeckt man einen liebevoll von den Mitarbeitern eines Bauhofs angelegten Garten. Von der nördlichen Rampe an der Haltestelle Amsterdamer Straße/Gürtel gelangt man auf einen verborgenen Kiesspurweg, der entlang der Trasse an der Boltensternstraße endet.

Wir rutschen einen Abhang hinter dem Kaufland-Parkplatz hinunter, zu den Gleisen auf denen Güterzüge zum Niehler Hafen fahren. Es ist Mittag, die riesige Zuckerhalle im Hafen ist verlassen. Sonnenlicht durchflutet ihre Dachfenster als wäre sie ein gotischer Dom.  Im Speiselokal Atempause am Westkai des Hafens schmeckt die Gemüsesuppe unerwartet gut. Sieverts ist Hafenfan, „da bist du raus aus dieser nervösen, kleinteiligen Verwertungslogik der Innenstadt“. Hier, lobt er, sei der Raum nicht die Ware. 

An der Ecke Boltenstern-, Amsterdamer- und Industriestraße wird die neue Zentrale der Häfen und Güterverkehr Köln AG gebaut, über uns die Schienen der alten Braunkohlebahn, denen wir noch öfters begegnen werden. Und hinein in den wilden Architekturmix der Merkenicher Straße, durch einen schmalen Gartenweg, der vor einem Garagentor endet, das sich wie mit einem Sesam! öffnet.  Sieverts hat das effektsicher mit einem Hausbewohner abgesprochen.

Er erzählt von den alten Weidewiesen der Niehler, wo jetzt der verbreiterte Rhein fließt. Von der Niehler Fähre, mit der Ford-Mitarbeiter nach Stammheim pendelten und Wochenendausflügler nach Flittard, um dort im Rhein zu baden. Vom alten Fährmann, der Lebensmittel an die Besatzungen der bis zu vier Kilometer langen Schleppverbände verkaufte.

Neben dem Heidenberg, hinter dem Niehler Friedhof, treffen wir auf ein Geflüchtetendorf. Fertigelemente, die sich zu drei Seiten um einen Spielplatz herum gruppieren. Hier wohnen Bewerber und solche, deren Recht auf Asyl bereits anerkannt wurde, die den anderen Hoffnung geben. Die Bewohner beobachten etwas misstrauisch die gut 20 Leute, die da in ihren Rückzugsraum einfallen. Sind aber ebenso schnell beruhigt, wie der Bewohner im nahen Wendehammer, dessen Garagentor mit Bronzeblechbeschlag die Gruppe bewundert. Je weiter man aus der Stadt herauskomme, zitiert Sieverts den niederländischen Architekturpapst Rem Koolhaas, desto penetranter begegnen einem  deren Symbole. Doch das Köln-Panorama auf der Bronzetür zeigt auch den Turm des alten Fernmeldeamts, und die drei Heiligen Könige sind ungewohnt ausdrucksstark.

Im Niehler Ei

Kurz darauf stehen wir mitten im Niehler Ei, über uns kreist der Verkehr im Oval, doch hier ist es seltsam friedlich und als wir, der untergehenden Sonne entgegen, eine weite Wiese queren, fühlt man sich wie in einem Thomas-Hardy-Roman.

„Ladies and Gentleman: Weidenpesch!“, verkündet Sieverts und einmal mehr genießen wir die Pracht des anarchischen Kölner Nordens. Erneut begegnet uns auch die ehemalige Braunkohlebahn. An dieser Kurve fuhr sie früher besonders langsam und die Kölner klauten ihre Klütten aus den offenen Waggons.

Zwischen Weidenpesch und Longerich erstreckt sich eine Mondlandschaft, karg, unwirtlich, großartig. Früher flutete der Rhein das Gebiet, man erkennt es an den leicht gewellten Böden, später wurde hier nach Lehm und Kies gegraben, oder Schutt abgeladen.  Der Kiesgrubensee ist für Sieverts einer der „stillen  Stars der Kölner Landschaft“.

Die Siedlung Am Heckpfad, die sich unweit des Sees erstreckt, hat die Stadt als offizielle Grünfläche ausgezeichnet. Aber hier wohnen rund 400 Menschen, eine eingeschworene Gemeinschaft, angefangen mit Ausgebombten, die sich im Krieg an den Stadtrand geflüchtet hatten.

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Sieverts kennt hier jeden, Blumen-Ulla und Agnes, die einst „Das Räumche“,  den Treffpunkt der Siedlung, betrieben hat.  Die „informelle Siedlung“, wie Sieverts  sie liebevoll umschreibt, wuchs über die Jahrzehnte wider alle Verordnungen an, aus Schuppen wurden Villen, aus flüchtigen Unterkünften Gegenentwürfe zur Verwertungslogik des städtischen Wohnraums. Hier, an diesem Stück wilder Freiheit, endet die Tour.

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