Hanns Zischler über Lesen und Schreiben„Briefe sind heute kaum mehr auszuhalten“

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Hanns Zischler

Herr Zischler, Sie haben für das Kölner Wallraf-Richartz-Museum eine Ausstellung über Lesen und Schreiben zusammengestellt und diese „Bann und Befreiung“ genannt. Sollen wir den Titel so verstehen, dass uns das Lesen bannt und das Schreiben befreit?

Hanns Zischler: Das Lesen wie das Schreiben haben beide etwas Bannendes und für den Menschen Befreiendes. Die Bannung besteht zunächst einmal darin, dass wir gezwungen sind, das Lesen und Schreiben zu erlernen. Mit beider Erwerb tritt etwas Befreiendes ein, nämlich in dem Sinne, dass man sich eine Welt erobert, die zuvor unerreichbar war. 

Das Abschweifen ist ein entscheidender Moment

Beim Lesen versinkt man, aber man schweift auch immer wieder ab.

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Das Abschweifen ist ein entscheidender Moment und zugleich etwas ganz Unzugängliches. Man weiß es von sich selbst, und man möchte beim Zuschauen gerne wissen, wohin schweift der Lesende gerade ab. Das ist eine aufregende Erzählung, gerade weil der Vorgang selbst vollkommen passiv ist.

Wie haben die Künstler dieses Abenteuer des Lesens dargestellt? Ist es überhaupt darstellbar?

Genau diese Frage hat mich interessiert, dieser geheimnisvolle, völlig subjektive Prozess des Schreibens und Lesens. Es gibt in der Ausstellung eine winzige Radierung von Daniel Chodowiecki, auf der ein Kind staunend vor einem großen Buch sitzt und zum ersten Mal etwas entdeckt, das offensichtlich ein Gegenstand ist, der nichts mit dem Rest der Welt zu tun hat. Hier gelingt auf wunderbare Weise die Übersetzung innerer Vorgänge ins Bild.

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Besonders nah kommen sich Lesende und Schreibende im Medium Brief. Ist das Briefeschreiben eine Kultur, die verloren zu gehen droht?

Ich glaube ja. Zumindest ist der Brief durch vielerlei schnellere Medien ersetzt worden, weil der Brief natürlich immer mit der Verzögerung zwischen Schreiber und Adressaten spielt. Diese Verzögerung hat zugleich etwas Quälendes und Lustvolles, weil der Brief mit viel Erwartung verbunden ist und die Sehnsucht sich daran empor entwickelt. Das ist heute, weil wir auf Echtzeit getrimmt sind, kaum mehr auszuhalten.

Wobei die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit sehr alt ist. Sie zitieren in ihrem Katalogbeitrag den romantischen Dichter Clemens von Brentano, der davon träumt, dass seine Verlobte seinen Brief oben schon lesen kann, während er unten noch daran schreibt.

Das war eine Sehnsucht in dem Wissen: Unmittelbar werde ich es nicht bekommen. Aber Formen dafür zu finden, was ich die Fernanwesenheit nenne, ist gerade ein großer Verdienst der Briefkultur. Das sind Formen des Austausches, die uns fremd geworden sind, an die zu erinnern ich aber ungeheuer aufregend finde.

Kommunikation wird immer auch durch ihr Medium bestimmt. Ich vermute, Sie verfassen Ihre Romane auch nicht mehr mit dem Federkiel. Ändert sich das Schreiben mit der Schreibtechnik?

Ja. Das heutige Schreiben hat durch die permanente schnelle Löschbarkeit, Ersetzbarkeit und Montierbarkeit von Textmengen und Textsorten eine vollkommen andere Form angenommen als noch vor 50 Jahren. An den Schreibmaschinenblättern früherer Autoren sieht man die Anstrengung und die Konzentration, etwas in die Schreibmaschine zu schreiben und das dann erst einmal bestehen zu lassen. Ich will das gar nicht qualifizieren, aber da hat sich etwas verändert.

Zur Person

Hanns Zischler (75) wurde als Schauspieler in Filmen von Wim Wenders, Peter Handke und Rudolf Thome bekannt, später drehte er mit Regisseuren wie Steven Spielberg und Jean-Luc Godard. Als Autor schrieb er unter anderem über Kafka im Kino oder die kleine Zeitungsmeldung im Werk von James Joyce. Seine Kölner Ausstellung „Bann und Befreiung. Über Lesen und Schreiben“ ist bis zum 15. Januar 2023 im Wallraf-Richartz-Museum zu sehen.

Verändert hat sich auch die Zeitung. Ist sie noch das tägliche geistige Brot der Menschen?

Die Zeitung steht eigentlich in Konkurrenz zum Buch, weil das Buch in seiner festen Form des Blätterns von vorn nach hinten nicht aus seinem Gehäuse entlassen werden kann. Die Zeitung ist entlassen aus dieser Bindung. Man schlägt sie auf, durchquert sie, in der Zeitung springt man. Das ist ein riesiger Unterschied zur zwingenden Linearität des Buches. Die Zeitung ist sehr viel schneller konsumierbar und daher auch verderblicher – im Sinne des Lebensmittelgesetzes wohlgemerkt.

Die Zeitung von gestern ist die Fischverpackung von morgen.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Zeitung ein ungeheuer rasantes Medium, das eine ganz andere Lektüre und geradezu einen Lesehunger erzeugte. Walter Benjamin sagte, die Zeitung wird vornehmlich im Stehen gelesen, also eher überflogen. Das Medium wechselt die Position. Ein Buch im Stehen zu lesen, ist nicht sonderlich ersprießlich.

Heute gilt die gedruckte Zeitung nicht mehr als schnelles Medium. Würde es sie interessieren, das Thema bis in die Gegenwart zu führen?

Die Wallraf-Sammlung hört zu diesem Thema im Jahr 1875 auf. Mich würde aber schon interessieren, wie sich Entwicklungen, die es beim Buchschreiben, Briefschreiben und bei der Zeitung gab, in der Moderne geradezu deformiert haben. Heute geht das Schreiben über die unmittelbare schriftliche Kommunikation hinaus, indem etwa gesprochene Texte verschriftlicht werden.

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