„Kästner würde heute angefeindet“

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Walter Sittler

Walter Sittler

Herr Sittler, Sie sind bald mit Ihrem Kästner-Programm „Als ich ein kleiner Junge war“ in Köln zu Gast. Wenn Sie die Gelegenheit hätten, Erich Kästner an einem Punkt seines Lebens zu besuchen, welcher wäre das?

Das ist schwierig, weil es so viele interessante und aufwühlende Ereignisse in seinem Leben gab. Ich hätte am liebsten zehn Versuche, aber wenn ich nur einen hätte, nähme ich 1932. Da war er schon ein paar Jahre in Berlin, hatte sich etabliert. Der Nationalsozialismus war im Kommen, und er hat mit Ossietzky, Mühsam und Tucholsky diskutiert. Sie haben wunderbare Texte geschrieben. Tucholsky sagt, nach 1933 kann man dem Bürgertum keinen Vorwurf mehr machen, da hatten sie die Pistole auf der Brust. Die Fehler haben sie vor 1933 gemacht.

Wie genau ist das Bild, das Sie von ihm haben?

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Erich Kästner

Erich Kästner

Es ist natürlich ein sehr subjektives Bild. Aber ich habe sehr viel von ihm gelesen. Er war sicher ein besonderer Mensch, aber natürlich hatte er auch durch sein Leben Kerben, die seinen Lebensweg mitbestimmt habe. Die Ehe seiner Eltern, die nicht so gut war. Die sehr starke Mutter, die für ihn sehr wichtig war. Er ist ihr sehr nah geblieben, weil er wusste, sie braucht das, sonst geht das schief. Er hat sich seiner sozialen Verantwortung als Einzelkind nicht entzogen.

Hat er deshalb, anders als viele andere Nazi-Gegner, das Land nicht verlassen?

Das ist sicher einer der Punkte, wenn auch nicht der einzige. Er konnte seine Eltern nicht allein lassen. Seine Mutter war 61, als die Nazis an die Macht kamen. Er wusste, dass sie nicht nazikonform ist. Er hat aber auch gesagt, dass welche bleiben müssen, die beschreiben, was passiert. Und er gehört zu denjenigen, die ganz klar gesagt haben: Ich kann nur beschreiben, was ich weiß. Dazu muss ich da sein. Da er ein sehr guter Beobachter war, hat er das gemacht. Wissend, dass es gefährlich ist.

Welches Verhältnis hatten Sie zu Kästner und seinem Werk, bevor Sie diese Programme gespielt haben?

Ich wusste, dass es ihn gab und hatte mal in der Schauspielschule ein Gedicht rezitiert. Aber in der Schule wurde der politische Kästner nicht behandelt. Da waren zwar schon die 68er unterwegs, aber in den Schulen war das noch nicht angekommen. Die ganze Zeit des Dritten Reichs kam nicht vor, so einfach ist das.

Wie haben Sie sich Kästner angenähert?

Mir war wichtig, in die Denk- und Gefühlswelt einzudringen. Ganz kann das nicht gelingen, dafür sind die Menschen zu kompliziert, aber die Denkwelt war leicht. Und in die Gefühlswelt kommt man bei Kästner ganz gut, weil er das gut beschreibt. Vor allem lamentiert er nie. Er hat keinen Kitsch, ist nie betulich. Und er ist sehr empathisch für die Menschen um ihn herum. Er nimmt sich nicht wichtig. Ich finde am gefährlichsten, dass sich die Leute so wichtig nehmen. Das spaltet die Gesellschaft, das ist für eine Demokratie ungeeignet. In einer Demokratie ist niemand allein wichtig. Da ist die Gesellschaft wichtig. Institutionen sind wichtig. Man muss darauf achten, dass die funktionieren.

Tut man ihm Unrecht, wenn man ihn in erster Linie als Kinderbuchautor wahrnimmt?

Ihm ist vor allem dadurch Unrecht getan worden, dass es nach dem Krieg keine kritische Gesamtausgabe seines Werkes gab. Warum nicht? Die Aufarbeitung des Kästner’schen Werks in der Germanistik lässt sehr zu wünschen übrig. Seine politischen Äußerungen waren nach Kriegsende nicht gewünscht. Damit sollte Schluss sein. Für ihn war es eine Erschütterung, als in der jungen Bundesrepublik wieder ehemalige Nazis das Sagen hatten. Das hat ihn frustriert. Und er gehörte zu denen, bei denen hinterher gefragt wurde, warum sie überhaupt überlebt haben. Er müsse sich doch arrangiert und Schweinereien gemacht haben. Das stimmt garantiert nicht.

Wie würden Sie seinen literarischen Stil bezeichnen?

Er beschrieb in großer Klarheit, was er sah. Und nicht das, was er gern gesehen hätte oder von dem er glaubte, dass es richtig wäre. Das interessierte ihn nicht. Er verfügte über eine sehr schöne, reiche Sprache, die leicht verständlich ist. Er war immer orientiert an den kleinen Leuten, er nannte sich selbst so. Er wollte, dass jeder, das, was er schreibt, verstehen kann. An dieser Klarheit des Denkens mangelt es gerade. Ich würde mir wünschen, dass eine Reihe unserer gewählten Vertreter Kästner studierten, um zu lernen, wie man klar redet, die Realität beschreibt und dann zu einem Urteil kommt. Häufig haben wir Urteile, ohne dass die Leute die geringste Ahnung haben. Das reitet uns im Moment ins Unheil.

Sie blicken mit Sorge auf die politischen Entwicklungen?

Man muss bloß nicht glauben, dass wir viel gelernt hätten. Das haben wir nicht. Wir haben immer gedacht, wir hätten einen großen Fortschritt in Sachen Demokratie gemacht. Aber wenn man sich jetzt umschaut, sind wir in der Zeit der Industriebarone gelandet, Ende 19. Jahrhundert. Wir fangen den ganzen Schwachsinn wieder von vorne an.

Wie würde er auf das Erstarken der Rechten weltweit reagieren?

Kästner sagt uns: Es ist möglich, klar zu denken. Es ist möglich, die Dinge mit Humor beim Namen zu nennen. Die Welt geht nicht zugrunde, wenn man das tut. Ganz im Gegenteil. Er würde Gedichte schreiben, die darlegen, was los ist. Er würde angefeindet werden, Drohbriefe bekommen, würde Morddrohungen von Rechten erhalten. Wie alle, die den Mund aufmachen. Er würde demonstrieren gehen, wäre bestimmt bei Fridays for Future ganz vorne. Er würde von vielen Konservativen nicht ernstgenommen werden, weil die lieber mit Rechten paktieren, um an der Macht zu bleiben. Er würde vielleicht sogar ins politische Kabarett zurückgehen.

Kann das Kabarett etwas verändern?

Das Kabarett hat sicher keine direkte Wirkung, aber es hat eine Wirkung. Wir haben das Problem, dass die Grenzen zwischen Kabarett und Comedy verwischen. Es gibt Comedians, da macht es vielleicht Spaß hinzugehen, aber es ist vollkommen irrelevant, weil sie über das Politische und die Gesellschaft nichts zu sagen haben. Ein Großteil der politischen Führung hört allerdings ohnehin nicht zu. Eine, die zuhört, ist die Bundeskanzlerin. Erstaunlicherweise. Sie ist schlau, hat die Ohren offen. Ich wähle sie nicht, aber ich habe großen Respekt vor ihr. Sie versucht, durch diesen Irrsinn durchzukommen.

Kästners Kinderbücher werden auch heute noch gelesen. Warum funktionieren sie noch immer?

In seinen Büchern finden Sachen statt, die archetypisch sind für Kinder. Wie sie die Welt sehen, sie verändern und besser machen wollen. Natürlich muss man erwachsen werden. Aber Kästner sieht den kindlichen Gestaltungswillen, den alle Kinder haben. Diese Fantasie, die Kraft, die berückende Naivität. Nicht doof naiv, sondern einfach dieses „Wieso? Man kann die Welt doch besser machen“. Stimmt, kann man. Wir machen es nur zu oft nicht. Das spricht auch heute noch Kinder an.

ZUR PERSON UND ZUM AUFTRITT IN KÖLN

Walter Sittler wurde 1952 in Chicago geboren. Sein Vater war der deutschstämmige amerikanische Literaturprofessor Edward Vieth Sittler. 1958 zog die Familie nach Deutschland um. Sein Debüt als Schauspieler gab er 1981 am Mannheimer Nationaltheater. 1988 wechselte er an das Staatstheater Stuttgart. Im Fernsehen war er an der Seite von Mariele Millowitsch in der Serie „girl friends“ sowie in der Sitcom „Nikola“ zu sehen. Auch in Kinofilmen wirkte er mit, etwa in „Almanya – Willkommen in Deutschland“.

Mit Soloprogrammen erinnert Sittler an deutsche Autoren wie Erich Kästner, Dieter Hildebrandt und Roger Willemsen. Er ist auch politisch engagiert und wirkte beim Bürgerprotest gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ mit. Mit seiner Frau, der Dokumentarfilmerin Sigrid Klausmann, betreibt er eine Produktionsfirma.

Mit seinem Bühnenprogramm nach Erich Kästners „Als ich ein kleiner Junge war“ ist Walter Sittler am 7. Januar um 20 Uhr in der Kölner Philharmonie zu Gast.

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