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Psychoanalytiker„Der Wessi zeigt keine Schwäche“

Lesezeit 9 Minuten

Einer der bekanntesten deutschen Psychiater: Hans-Joachim Maaz

Seit dem Fall der Mauer beobachtet der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz die Seelenzustände der Menschen in Ost und West. Als einer der bekanntesten deutschen Psychiater untersucht der 71-Jährige Bestsellerautor weiter bestehende Unterschiede genauso wie neue Gemeinsamkeiten.

Herr Maaz, 40 Prozent der Ostdeutschen halten laut einer Allensbach-Umfrage Wessis für arrogant, gierig und oberflächlich. Ein Viertel der Westdeutschen finden Ossis misstrauisch und ängstlich. Existiert die Mauer in den Köpfen ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall immer noch?

Hans-Joachim Maaz: Zum Teil ja. Der Grad der Vorurteile ist sehr unterschiedlich und hängt im Osten unmittelbar damit zusammen, ob die Hoffnungen auf ein besseres Leben aufgegangen sind. Wer eine gute Arbeit gefunden hat, Ansehen erworben hat und sich etwas leisten konnte, bei dem haben sich Vorurteile abgebaut. Wem alles, was er zu DDR-Zeiten beruflich erreicht hat, weggebrochen ist, bei dem bleiben sie lebendig. Hinzu kommt der soziale Faktor der Arbeit: Im Osten konnte man mit Arbeit nicht reich werden. Sie war wichtig für Sozialkontakte und Anerkennung. Nach der Wende ging es dann nur noch um Gewinn und Sichbehaupten. Das hat vielen zu schaffen gemacht.

Auch abseits der Kategorien von Verlierer und Gewinner halten sich hartnäckig die Attribute Besserwessi und Jammerossi. Inwiefern spiegeln sie die jeweilige Sozialisation?

Maaz: Das sind natürlich Verallgemeinerungen, aber von der Tendenz stimmen die Attribute: Der Fokus der Sozialisierung im Westen lag auf Anstrengung, Leistung und Durchsetzungs- und Konkurrenzfähigkeit. Ich bin was, ich leiste was. Und so sind Menschen aus dem Westen hier im Osten in Leitungsfunktionen auch aufgetreten. Daher kam der Besserwessi. Im Osten waren wir gut beraten, wenn wir uns angepasst haben. Ja nicht zu vorlaut, ja nicht zu kritisch. Die DDR erzog zum Untertan, die BRD zum Obertan. In der DDR war vieles mangelhaft, Entwicklungs- und Konsummöglichkeiten waren eingeschränkt. Daher waren Sozialkontakte so wichtig, man half sich gegenseitig, klagte aber auch gemeinsam.

Wie haben sich die Prägungen nach der Wende weiterentwickelt?

Maaz: Auch das hing von den Chancen des einzelnen ab. Wer aufgestiegen ist, musste sich kapitalistischen Formen entsprechend behaupten. Von daher gibt es auch Ostdeutsche, die sich in dieser Weise verändert haben. Was Ost- und Westdeutsche aber immer noch unterscheidet, ist das worüber sie reden, wenn sie zusammenkommen. Westdeutsche reden viel über das, was sie erlebt und erreicht haben. Also über die äußeren Parameter ihre Erfolges, ihres Konsums und ihrer Reisen. So mit dem Gestus „Guck mal was ich alles Tolles erreicht habe.“ Zudem zeigt man im Westen weniger Schwächen. Man muss immer so tun, als hätte man alles im Griff und sei gut drauf.

Und die Ostdeutschen?

Maaz: Die reden immer noch stärker darüber, wie es ihnen geht. Der Ostdeutsche ist schneller dabei, das Leidvolle zu benennen. Er erzählt von den Schwierigkeiten des Lebens und wird schneller persönlicher. Getragen von der Hoffnung, dafür verstanden zu werden und Unterstützung zu erfahren.

Sie haben viele Menschen – Ossis wie Wessis – als Klienten therapiert. Welche seelischen Beschädigungen haben Sie hüben wie drüben erlebt?

Maaz: Im Osten litten die Menschen unter allgemeiner Einengung ihrer individuellen Entwicklung. Sie wurden in ihrer Kritikfähigkeit eingeschüchtert und konnten so eigene Potenziale nicht genug entfalten und individuell nicht ausreichend Verantwortung übernehmen. Im Westen war und ist das Hauptrisiko die chronische Überforderung. Viele leben ständig über ihren Möglichkeiten, immer angetrieben, noch besser zu werden. Immer unter dem Druck, etwas darstellen zu müssen.

Überrascht Sie, dass nach 25 Jahren noch die Fremdheit zwischen den West- und Ostdeutschen überwiegt?

Maaz: Nicht wirklich. Schließlich hat es keine differenzierte Auseinandersetzung mit den Unterschieden und den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Sozialisation in Ost und West gegeben. Es gab nur die primitive Einteilung: Im Westen sei alles besser und im Osten alles schlechter. Diese Einseitigkeiten wurden nicht hinterfragt.

Ostdeutsche in den Führungsetagen der Wirtschaft sind immer noch die Ausnahme. Warum?

Maaz: Das stimmt. Da hat sich noch nicht wirklich viel verändert. Karriere war im Grunde nur im politischen System möglich und für für den normalen Arbeitnehmer kein Ziel. So eine Sozialisation kann man nicht einfach ablegen. Das sind innere Prozesse, die länger dauern. Man kann sie zwar wie ein neues Hemd anziehen, bleibt aber derselbe Mensch. Viele Menschen kamen zu mir in die Praxis, die zwar gelernt haben, was nun zu tun war, um im Konkurrenzkampf zu bestehen, die sich aber innerlich nicht wirklich damit identifiziert haben und darunter litten.

Jetzt haben aber ausgerechnet die beiden höchsten deutschen Staatsämter Menschen aus dem Osten inne: Angela Merkel und Joachim Gauck. Wie passt das zusammen?

Maaz: Frau Merkel hat sich ihren Erfolg dadurch verdient, dass sie ihren Ziehvater Helmut Kohl abgesägt hat. Sie hat das getan, was die Männer um Kohl sich offensichtlich nicht getraut haben.

Merkel ist der Bevölkerung wegen ihres uneitlen, moderierenden Führungsstils beliebt. Erkennen Sie da ein Stück Ostsozialisation?

Maaz: Frau Merkel operiert sehr abwartend. Sie setzt sich der Öffentlichkeit nicht aus mit unpopulären Positionen. Darum ist sie relativ beliebt. Weil sie den Menschen den Eindruck gibt, alles sei in Ordnung und die Probleme nicht hochzieht. Sie beruhigt. Das vorsichtig abwartende zeichnet den Ostler aus, auf keinen Fall das Vorpreschen mit mutigen, konfliktträchtigen Positionen. Und bei Herrn Gauck ist es die pastorale Attitüde, die zieht. Man zeigt auf Dinge und versichert gleichzeitig, es wird schon alles gut werden.

Das heißt: Gestresst von der Leistungsgesellschaft wollen wir von unserem politischen Führungspersonal eigentlich nur beruhigt werden und nicht etwa zusätzlich gefordert.

Maaz: Ja so ist das wohl. In den gewählten Machtpositionen spiegeln sich die verborgenen seelischen Befindlichkeiten der Mehrheiten. Merkel gewährt die Illusion einer Sicherheit, die die Menschen in belastenden Zeiten gerne hätten. Wobei ich das Abwarten sehr negativ sehe. Frau Merkel demonstriert keine Führungskraft.Wichtig wäre, die ernsthaften Probleme der Gesellschaftsentwicklung zu sehen und kritisch zu diskutieren, statt Honig über alles zu streichen.

Wie lange dauert es, bis sich Mentalitäten auswachsen? Die heute 35- bis 40-Jährigen, die jetzt im Berufsleben stehen, sind doch zur Wendezeit Kinder gewesen. Den längsten Teil ihres Lebens haben sie im vereinigten Deutschland gelebt.

Maaz: Diese Generation hat aber die ersten nachhaltig prägenden Beziehungserfahrungen der Kindheit in der DDR gemacht und die sind entscheidend. Die Mentalitätsunterschiede wirken über diese Generation hinaus, weil Prägungen nur über mehrere Generationen abgebaut werden. Abhängig von den Erziehungswerten der Eltern und den äußeren Bedingungen. Wer sich weiter benachteiligt und nicht wertgeschätzt fühlt, bei dem dauert das länger. Es gibt 16-Jährige, die sich selbst als Ossis bezeichnen, obwohl sie lange nach der Wende geboren wurden. Das hat viel mit den Eltern zu tun, wie diese in der neuen Gesellschaft angekommen sind.

Besonders spannend ist der Blick auf die jungen Menschen, als Kinder in der DDR gelebt und im Westen erwachsen geworden sind. Sie haben sich in der Bewegung „3. Generation Ost“ organisiert.

Maaz: Diese Vereinigung ist so interessant, weil ihre Mitglieder beide gegensätzlichen Erfahrungen in sich tragen und ein wertvolles Korrektiv sind. Eben weil sie rausgehen aus dem Klischee, dass entweder die Ost- oder die Westsozialisation nur negativ war. Die Chance dieser Generation ist, dass sie differenziert denkt. Mir imponiert, wie diese Menschen ihren kritischen Blick auf beide Systeme wachhalten und sich die Frage stellen, was an der jeweiligen Sozialisation in Ost und West günstig oder belastend ist.

Was wäre denn das Positive aus dem Osten fusioniert mit dem aus dem Westen?

Maaz: Im Osten ist es der hohe Stellenwert persönlicher Beziehungen. Auch könnte diese Generation die materiellen Erfolge und die Leistungsstärke des Westens hinterfragen im Hinblick darauf, was sie mit den Menschen macht. Viele werden krank, weil sie durch ständigen Druck überfordert werden. Und der Ostler könnte den Impuls zur Selbstbestimmtheit, zu gesundem Egoismus und der Lust am Einmischen in die Gesellschaft vom Westmenschen übernehmen.

Im Westen gab es durch die 68er eine kritische Auseinandersetzung der Jungen mit der Elterngeneration. Erwarten Sie ein ähnliches Phänomen auch im Osten mit der Elterngeneration im SED-Regime?

Maaz: Das wird kommen. Vielleicht ist die Vereinigung „3.Generation Ost“ schon ein Beginn. Es geht um den Dialog mit den Eltern über deren Verhältnis zum DDR-Regime. Es geht um eine differenzierte Sicht darauf, was das für Menschen sind, die denunziert haben, aber auch auf Menschen, die innerseelisch Widerstand gelastet haben. Die Hochzeit dieser Auseinandersetzung mit den Eltern wird allerdings noch kommen. Je stärker die Gesamtgesellschaft finanziell in die Krise gerät, desto stärker wird sie sich mit den Lebensweisen des Ostens auseinandersetzen müssen.

Was werden die Jungen den Alten vorwerfen?

Maaz: Dass es nach der Wende auf beiden Seiten keine Bereitschaft gab, die bisherige Lebensweise zu hinterfragen oder politische Alternativen zu denken. Das war im Westen nicht der Fall und der Osten hat sich verführt durch die Aussicht auf die D-Mark und Konsum die Mühe abkaufen lassen, eine echte Entwicklung zu machen. Hier werden die Kinder den Eltern vorwerfen, warum sie das, was sie an Leistung erworben haben zu schnell verraten und verkauft haben. Warum sie die Revolution verschenkt haben, weil das Versprechen des Westgeldes und des materiellen Wohlstandes zu verlockend war.

Sehen Sie Parallelen zwischen der gesellschaftlichen Situation heute und damals in der DDR?

Maaz: Wir stehen auch heute wieder gesellschaftlich an einer Schwelle. Eigentlich ist Grundkonsens, dass die Wachstumsgesellschaft mit ihrer grenzenlosen Beschleunigung und Wohlstandsnötigung an ein Ende kommt. Trotzdem machen wir einfach weiter, als ob es diese Erkenntnis nicht gäbe. So wie damals in der DDR, wo man auch immer weiter gemacht hat, obwohl man schon länger wusste, dass das System keine Zukunft hat. Der materielle Wohlstand wirkt als Massendroge.

Was braucht es, damit hier ein Umbruch in Gang kommt?

Maaz: Es ist die Krise. So wie in der DDR die wirtschaftliche und die ideologische Krise. Nur aus bloßer Einsicht hat es noch keine wirklichen Veränderungen gegeben. Und es gibt genug Anzeichen, dass eine solche Dynamik in Gang kommt. Nicht nur wirtschaftlich. Auch der Kampf der Islamisten gegen den Westen oder die Flüchtlingsströme sind Teil dieses aufziehenden Krisenszenarios.

Das Gespräch führte Alexandra Ringendahl