Corona-Impfpflicht ab MittwochUngeimpfte Pflegerin kündigt ALS-Patienten

Lesezeit 8 Minuten
Neuer Inhalt (5)

Jens Wegner ist auf Hilfe angewiesen. Anja Funke betreut ihn seit einem Jahr in Zwölf-Stunden-Schichten.

  • Anja Funke ist Pflegehelferin und betreut einen ALS-Kranken. Sie tut ihre Arbeit mit Hingabe.
  • Impfen lassen will sie sich aber nicht. Ihr Patient hat Angst, sich bei ihr anzustecken.
  • Spätestens mit dem Start der einrichtungsbezogenen Impfpflicht am 16. März wird klar: Ihre Beziehung muss scheitern.

Dass die Impfpflicht für Pflegekräfte nicht so einfach umzusetzen ist, lässt sich an einem Dienstagnachmittag beobachten, in einem Zimmer, das mit seinen Kabeln, Schläuchen und leuchtenden Displays an eine Intensivstation erinnert und in dem Anja Funke* das Beatmungsgerät ihres Patienten wechselt.

Funke ist Pflegehelferin, 52, die grauen Dreadlocks unter eine Mütze geschoben, kleine Brille. Sie hat diesen konzentrierten Blick, während sie den Beatmungsschlauch von der Trachealkanüle abzieht. Ein Rauschen wie bei einem Staubsauger, dann: piep, piep, piep – erst als Funke den neuen Schlauch ansetzt, ist es wieder ruhig im Zimmer. Nur das langsam rhythmische Schnaufen des Beatmungs-Geräts ist zu hören. „Hast du was gemerkt?“, fragt Funke. Ihr Patient schüttelt kaum merklich den Kopf.

Funke betreut ihren Patienten immer zwölf Stunden am Stück

Ihr Patient ist Jens Wegner*, Berliner, 58 Jahre alt. Seit zwei Jahren liegt Wegner dort in seinem Bett, kann nicht laufen, nicht essen, nicht sprechen. An dem Bett ist ein Tablet befestigt, das er mit den Augen steuern kann – wenn Wegner das macht, spricht eine Computerstimme für ihn. Wegner ist Informatiker und arbeitete als Wissensmanager in einer Softwarefirma. Bis er vor drei Jahren die Diagnose ALS bekam, Amyotrophe Lateralsklerose. ALS zerstört das motorische Nervensystem, Muskeln werden lahm, bis am Ende der ganze Körper regungslos ist. ALS ist unheilbar.

Jens Wegners Augen und sein Verstand leben. Aber wenn er atmen, essen will, auf Toilette muss, ist er auf die Hilfe von Maschinen und seine derzeit zwölf Pflegekräfte angewiesen. Wegner ist nie allein. Anja Funke ist seit einem Jahr regelmäßig bei Jens Wegner. 2017 kam sie in die Pflege, eine sogenannte Quereinsteigerin. Wegner ist ihr einziger offizieller Patient. Wenn Funke zu ihm kommt, bleibt sie zwölf Stunden, mal über Nacht, mal am Tag. Funke sagt: „Das ist genau mein Ding. Ich möchte nichts anderes machen.“ Im Pflege-Team ist Funke die einzige, die nicht gegen Covid-19 geimpft ist. Das ist ein Problem, für Wegner, aber jetzt auch für Funke.

Neuer Inhalt (5)

Anja Funke betreut seit einem Jahr einen ALS-Kranken. Impfen lassen will sie sich nicht.

Es ist ein Mittwoch, Buß- und Bettag vergangenes Jahr, als Jens Wegner Anja eine Email schreibt. Er will sie ermuntern, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Zu Anjas Schutz und zu seinem eigenen. „Für mich ist das wichtig, unvorstellbar, dass ich die Krankheit bekomme, ich habe keine Reserven für eine Lungenkrankheit.“

Anja antwortet: „Lieber Jens“, seine Gesundheit sei ihr sehr wichtig. Sie habe ihre Kontakte beschränkt, erledige draußen nur noch das Notwendigste. Sie teste sich, bevor sie Wegners Wohnung betritt. Sie schreibt, dass nicht geimpft zu sein sogar besser wäre, weil man eine Infektion so schneller bemerke. Als Beispiel nennt sie den Fußballer Joshua Kimmich: Alle hätten auf den „bösen“ Spieler gezeigt – und wer habe eine Woche später Corona in die Mannschaft geschleppt? Kimmichs Mitspieler Niklas Süle, zu jenem Zeitpunkt doppelt geimpft. „Kontaktbeschränkungen, Hygiene und viel Lüften sind immer noch unschlagbar bei allem, was wir tun in dieser Krise.“ Smiley.

Funke empfindet Wegners Angst als Kränkung

Wenn Funke über das Thema Corona und Impfen spricht, klingt ihre Stimme meist ruhig. Sobald es aber um Anfeindungen geht, wie bei Kimmich, wird ihre Empörung spürbar. Dass Jens Wegner aus dem Ungeimpftsein ableitet, sich irgendwann anzustecken, empfindet Anja Funke als Kränkung. Sie veröffentlicht ein Jobgesuch auf Impffrei.life, einem Portal, auf dem Ungeimpfte Arbeit suchen können. Weil seine Worte so klangen, als denke er darüber nach, ihr zu kündigen, wie sie später erklärt. Aber sie bleibt.

„In der idealen aller Welten hätten wir dir gekündigt, ganz ehrlich, Anja“, sagt Wegners Frau Julia, die an seinem Bett sitzt . Ihr Büro befindet sich im Zimmer nebenan. Anja Funke, die ihm gerade Speichel aus dem Mund absaugt, tut so, als habe sie den Satz nicht gehört. „Aber wir würden ja keinen Ersatz für Anja finden“, sagt Julia Wegner zum Reporter. Zum ersten Mal sprechen die drei offen über das Thema Corona. Viele Hauskrankenpfleger empfänden die Arbeit als zu anstrengend. „Ich habe lieber jemanden, der seine Arbeit gut macht und ungeimpft ist, als eine geimpfte Pflegekraft, die schlecht arbeitet“, sagt Julia Wegner. Neue Pflegekräfte arbeitet Jens Wegner selbst ein, das ist aufwendig. Einen Satz zu formulieren bedeutet, mit dem Auge jeden einzelnen Buchstaben anzuwählen.

Neuer Inhalt (5)

Jens Wegner bittet Funke, sich impfen zu lassen: „Für mich ist das wichtig, unvorstellbar, dass ich die Krankheit bekomme, ich habe keine Reserven für eine Lungenkrankheit.“

Als Anja Funke gefragt wird, wie es ihr ginge, wenn sie ab dem 15. März hier nicht mehr arbeiten könne, hebt sie abwehrend die Arme. „Ich verliere gerade die Fassung“, sagt sie. Sie verlässt das Zimmer.

Was, wenn die Pflegerin auf die Intensivstation muss?

Anfang Dezember lässt Jens Wegner Anja wissen, dass ihn ihre Argumente nicht überzeugen. Er weist darauf hin, dass die Krankheit bei Ungeimpften kritischer verlaufen könne. Und er fragt sich, was mit ihm passiert, sollte Funke auf die Intensivstation verlegt werdenkommen. „Zehn Dienste sind kurzfristig sehr schwer zu besetzen.“ Die einfachste Lösung, für alle, sei, sich impfen zu lassen. Während Jens Wegner von Verantwortung schreibt, schreibt Anja Funke von Vertrauen. Sie habe sich mit der Krankheit beschäftigt und mit den Impfstoffen, dann irgendwann: „Ich respektiere Dein Sicherheitsbedürfnis was das Testen betrifft, bitte respektiere Du mein Sicherheitsbedürfnis, was die Unversehrtheit meines Körpers betrifft“, diesen Satz fettet sie. „Liebe Grüße, Anja.“

Am 10. Dezember 2021 beschließt der Bundestag eine Impfpflicht für die Pflege. Kurz nach Weihnachten schließt sich Funke zum ersten Mal einer Corona-Demonstration an. Es ärgert sie, dass sie Bus und Bahn nur mit aktuellem Test nutzen darf. „Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, bin ich 16 Stunden auf den Beinen. Und dann soll ich mich noch beim Testcenter für den nächsten Tag anstellen? Das geht nicht“, erinnert sie sich. „Studien haben gezeigt, dass die Bahn, wenn die Leute Masken tragen, kein bedeutender Übertragungsplatz ist.“

Neuer Inhalt (5)

Anja Funke will sich nicht impfen lassen. „Ich respektiere Dein Sicherheitsbedürfnis was das Testen betrifft, bitte respektiere Du mein Sicherheitsbedürfnis, was die Unversehrtheit meines Körpers betrifft,“ schreibt sie an Wegner.

Zur nächsten Demonstration Mitte Januar begleitet der Reporter sie. Anja Funke trägt anders als viele Demonstrierende eine FFP2-Maske. Sie holt zwei Pappschilder aus ihrem Rucksack und hängt sie sich um. „Ich bezweifle die 7-Tages-Intelligenz der Corona Politik!“, steht auf dem vorderen, auf dem hinteren ein Zitat von Jean-Jacques Rousseau: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“

Die Demonstrierenden ziehen Richtung Berliner Gedächtniskirche. Immer wieder halten Leute an und heben den Daumen, wenn sie die Sprüche auf Funkes Schildern lesen. Dann auch Momente, in denen einzelne Gegendemonstranten auftreten. „100.000 Mitmenschen sind schon tot, hört auf, querzudenken!“, skandiert einer. Funke sieht sich selbst nicht als Querdenkerin, sie hat Angst, als solche abgestempelt zu werden. Den Begriff findet sie zu „stereotyp“.

Wissenschaft steht gegen gefühlte Wahrheit

Zuhause spricht Anja Funke von möglichen häufigen Impfnebenwirkungen, manches kann sie nicht belegen. Dann wieder sagt sie Wahres: Etwa, dass es doch längst bekannt sei, dass auch Geimpfte sich anstecken und das Virus weitergeben könnten. Es stehen Wissenschaft gegen gefühlte Wahrheit, Mitgefühl gegen Egoismus, Individuum gegen Gesellschaft, Mensch gegen Mensch. Für den Fall, dass sie sich mit Corona anstecke, habe sie ja Hausmittel da, sagt Funke: Vitamin D, ein Mundwasser mit Minze, einjährigen Beifuß und Ingwertee. Wer länger mit ihr spricht, merkt: Nicht geimpft zu sein, sich den offiziellen Verlautbarungen zu widersetzen – für Anja Funke ist es zu einer Frage der Identität geworden. Hat sie Angst, Jens Wegner anzustecken? „Ja, natürlich“, sagt sie.

Neuer Inhalt (5)

Wegner muss jetzt vielleicht in eine Pflege-Wohngemeinschaft. „Eine Horrorvorstellung“ hatte Jens Wegner seinen Sprachcomputer sagen lassen, mit dessen Hilfe er kommunizieren kann.

Dann holt sie ihr Notebook hervor, eine Datei trägt den Titel „Blick in die Köpfe“, eine Art Pandemie-Tagebuch: ein Foto von einem Weihnachtsmarkt-Schild, das die Weitergabe von Speisen und Getränken an Ungeimpfte verbietet. Die Meldung eines Nutzers, der sich für die „Verteilung von 60 Millionen Knüppeln“ an die Geimpften in Deutschland ausspricht, löst Angst in Anja Funke aus. „Irgendwer setzt diese Gedanken um, und dann sind Millionen Menschen tot.“ Irritation, Stille, die Nachfrage, ob sie das ernst gemeint hat? „Ja, natürlich.“

Auch ein Bußgeld oder Beugehaft werden sie nicht abbringen

Bei der Verabschiedung sagt Funke noch, sie werde sich definitiv nicht impfen lassen. Selbst wenn das ein Bußgeld zur Folge habe und bei Nicht-Bezahlen Beugehaft drohe. Aber wer sich dann um Jens Wegner und ihre Mutter kümmere, während sie im Gefängnis sitzt, das bereite ihr schlaflose Nächte.

Mitte Februar liegt eine Email von Julia Wegner in Funkes Postfach. Der Ton ist nüchtern, distanziert. Sie beginnt mit der Unpünktlichkeit, die zu oft vorkomme. Auch beim Thema Testen will sie etwas klarstellen: „Das Teststäbchen muss unter Aufsicht in die Nase.“ Unter Aufsicht des Pflegers, den Funke ablöse. Sie endet mit einer Warnung: Sollte es „künftig hier nicht klappen“, müsse Funke mit einer Abmahnung rechnen.

Lieber wechselt sie in den Bio-Supermarkt

Es ist 2:19 Uhr in der Nacht, als Anja Funke dem Reporter eine Email schreibt. Sie habe beschlossen, zu kündigen. „Ich bin müde der ganzen Spannungen und möchte einfach nur noch Ruhe haben.“ Lieber wechsle sie für ein paar Monate in einen Bio-Supermarkt, „da wird mir wenigstens nicht ständig vorgehalten, dass ich Menschenleben gefährde.“

Neuer Inhalt (5)

Als die Regierung die Impfpflicht fürs Gesundheitswesen ankündigte, kam die Befürchtung auf, viele ungeimpfte Pflegekräfte würden kündigen. Was im Großen bislang ausgeblieben ist, ist bei Funke und Wegner nun eingetreten. Sie wird keinen Job mehr haben, er damit eine seiner Pflegekräfte verlieren.

Am nächsten Tag erhält Julia Wegner eine kurze SMS von Anja Funke: Für die Dienste in der kommenden Woche müssten sie und ihr Mann Ersatz suchen, eine Krankschreibung werde folgen. Dass mit der Kündigung erwähnt sie nicht.

Als die Regierung die Impfpflicht fürs Gesundheitswesen ankündigte, kam die Befürchtung auf, viele ungeimpfte Pflegekräfte würden kündigen. Was im Großen bislang ausgeblieben ist, ist bei Funke und Wegner nun eingetreten. Sie wird keinen Job mehr haben, er damit eine seiner Pflegekräfte verlieren. Anja Funke war eine Pflegekraft, die sich um ihren Patienten sorgte, sich gut kümmerte – und die sich aus Misstrauen nicht impfen lässt. Jens Wegner ist ein Patient, unheilbar krank, der auf sie angewiesen ist – und der Angst hat, an den Folgen von Covid-19 zu sterben.

Vielleicht muss Wegner in eine Pflege-WG ziehen

In einem Gespräch kam die Frage auf, wie es ohne Anja Funke weitergehen würde. Wenn Wegner gegenüber seiner Krankenkasse nicht mehr eine lückenlose 24-Stunden-Versorgung nachweisen kann, hat diese das Recht, ihm das Geld für die häusliche Pflege zu streichen. Dann müsste er in eine Pflege-Wohngemeinschaft umziehen. „Eine Horrorvorstellung“ hatte Jens Wegners Computerstimme gesagt.

* Zum Schutz der Privatsphäre sind die Namen geändert. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.

Erschien zuerst bei Zeit Online.

KStA abonnieren