Europa in Corona-ZeitenWird die europäische Idee die Pandemie überstehen?

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen

  • Die europäische Idee ist mächtig und eine großartige Errungenschaft unserer Zeit.
  • In der Corona-Krise erweckt die EU-Kommission aber zeitweise den Anschein völliger Ohnmacht.
  • Doch mittlerweile hat es wieder eine Wende gegeben. Nach einer ersten Phase der Renationalisierung verstehen viele Länder, dass sie kooperieren müssen, wenn sie diese Krise überwinden wollen.

Köln – Es war ein dramatischer Appell: die Historiker Carlo Spagnolo, Vito Gironda, Christian Jansen und Massimiliano Livi deshalb wandten sich in einem offenen Brief an die Europäische Union und die Regierungen der Mitgliedsländer. Sie warnten: „Ohne mutige Entscheidungen und ohne ein vorausschauendes und beispielloses Eingreifen der EU“ könne die „heutige Krise zu einem demokratischen Notstand führen“.

Die Kritik an der Europäischen Union ist trotz der Einigung auf die Hilfen in Höhe von 500 Milliarden Euro groß. Und das, obwohl sogar noch mehr Geld locker gemacht werden soll. Die Rede ist von 1,5 Billionen Euro. Die brachte der EU-Kommissar Hahn ins Spiel. Dennoch wird der EU-Kommission Unentschlossenheit und mangelndes Gefühl für die Situation  vorgeworfen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte eine Exit-Strategie vorstellen, wurde aber von den Ländern zurückgepfiffen. Die Nationalstaaten schauen zurzeit lieber nur auf sich. Was bringt Europa jetzt?  Die EU habe in ihrer wichtigsten Aufgabe versagt, glauben immer mehr.

Von der Leyens Schlagwort: Koordination

 Von der Leyen jedenfalls könne man nicht vorwerfen, sie habe nicht verstanden, welche Herausforderung auf Europa zukommen würde, behaupten andere. Sie verweisen darauf, dass von der Leyen bereits am 2. März ihr „Corona Response Team“ vorgestellt habe.

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Die Lage in Italien war zu diesem Zeitpunkt bereits dramatisch. Jedoch habe man sich  in vielen Mitgliedstaaten noch sicher gefühlt, sagen ihre Unterstützer. Viele  Regierungen blieben da noch weitgehend untätig. Von der Leyen kleckerte nicht, sie klotzte, hieß es. Mit fünf Kommissaren trat sie vor die Presse. Die Corona-Krise habe von der Leyen sogleich als europäische Aufgabe verstanden, die es notwendig machte, über verschiedene Ressorts hinweg eng zusammenzuarbeiten. Koordination war das Schlagwort.

Mitgliedstaaten machten, was sie wollten

Ihr Credo: Je besser man sich koordiniere, desto schneller werde man aus der Krise kommen. Von der Leyen präsentierte Schautafeln, die darstellten, wer nun was zu tun habe und wie man sich europaweit koordinieren werde.  Und auch wenn sie so sprechen würde, als wäre sie die Regierungschefin Europas, hätte  die Kommission in der Gesundheitspolitik in Wahrheit keine Kompetenzen, man könne ihr die Fehler  nicht anlasten.

Die Mitgliedsstaaten machten was sie wollten. Deutschland verbot die Ausfuhr medizinischer Schutzausrüstung, Frankreich beschlagnahmte Atemmasken. Dann überschlugen sich die Ereignisse, sieben EU-Staaten schlossen binnen kürzester Zeit ihre Grenzen, darunter auch Deutschland.

Harte Zeit als Verteidigungsministerin

Es ist ein schwieriger Start für die CDU-Politikerin in Europa. Ursula von der  Leyen, geborene Albrecht, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, siebenfache Mutter –   sechszehn Jahre war sie Ministerin, erst in Hannover, dann in Berlin. Sie hat eine steile Karriere hingelegt, gilt als enge Vertraute von Kanzlerin Angela Merkel. Die habe sie als Ass aus der Tasche gezogen, als der französische Präsident Emmanuel Macron ihre Pläne durchkreuzte, erst Manfred Weber (EVP), dann Frans Timmermans (Sozialisten) als neuen EU-Kommissionschef durchzusetzen. Merkel habe immer „Ersatz-Nähzeug“ dabei, meinte SPD-Mann Martin Schulz: also von der Leyen.  Andere sagen, Macron habe sie durchgedrückt.

Als Verteidigungsministerin machte sie keine glückliche Figur. Die Zeit war ein Einschnitt für sie. Nach einer Berateraffäre in der Bundeswehr wird gegen sie ermittelt.  Sie gilt als Kämpferin. Sie kann Gegner kleinreden, heißt es von ihr. Nun muss sie zeigen, wie sie ein Staatenkonzert moderieren kann und Gegner auf ihre Seite ziehen.

EU-Kommission erweckte den Anschein völliger Ohnmacht

So versuchte sie es in der Corona-Krise. Von der Leyen wandte sich mit einer Videobotschaft an die EU-Bürger. Sie warnte davor, die Grenzen abzuriegeln und den freien Güterverkehr zu behindern. Es könne zu Nachschubproblemen kommen. Was heute in Italien gebraucht werde, das könne morgen in Frankreich benötigt werden, in Spanien oder Deutschland.

Die EU-Kommission erweckte den Anschein völliger Ohnmacht. Während die Nationalstaaten Fakten schufen, schien Brüssel nur die Zuschauerrolle zu bleiben. In den Tagen nach den Grenzschließungen kam es zu kilometerlangen Staus an Europas Binnengrenzen –   die Krankheit des Egoismus und der Kleinstaaterei. 

Wertvolle Wochen verstrichen in der Corona-Krise

Das Versagen der EU in größter Not wird sich tief eingegraben haben ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation. Die Folgen sind noch gar nicht abzusehen, glauben einige. Doch so dramatisch das aussah, so wenig haltbar war es. Inzwischen ist an den Grenzen zwar keine Normalität eingetreten, aber der Güterverkehr scheint nach dem ersten Schock innerhalb Europas wieder freier zu fließen.

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Die Kritik blieb dennoch: Wertvolle Wochen waren verstrichen, bis sich die Staats- und Regierungschefs auf Rudimente einer einheitlichen Politik verständigt hatten. Als einzig wirklich verlässliche Gemeinsamkeit in Europa habe sich die des Versagens erwiesen.   Europa sei zu einem Raum des Misstrauens und gegenseitiger Schuldzuweisungen geworden. Und das nicht erst während der jetzigen Pandemie. Die erbitterten Konflikte der Euro-Krise, der west-östliche Graben im Streit über Migration, Rechtsstaat und Demokratie - das alles habe der EU zugesetzt. So ist das Coronavirus in Europa auf die denkbar leichteste Beute gestoßen, einen geschwächten Organismus.

Orbáns Staatsstreich

Auch die politischen Entwicklungen in der Zeit der Pandemie sorgen für Zweifel an der Arbeit der Kommission. Viktor Orbán nutzte die Gelegenheit und will die Corona-Epidemie als Vorwand zur Abschaffung jenes Rests an Demokratie nutzen, der in Ungarn nach zehn Jahren seiner Herrschaft noch übrig ist. Zur Eindämmung der Seuche sind überall tiefe Eingriffe in Bürgerrechte nötig – was nirgendwo ungefährlich ist. Aber was Orbán nun vollzieht, ist eine Art Staatsstreich: Er will ganz ohne Parlament regieren.

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, der gerne auch mal unverblümt seine Meinung sagt, findet, es reiche jetzt mit Orbans Kurs auf eine „Magyaren-Diktatur“: „Ungarn gehört jetzt in politische Quarantäne“, sagte er der Zeitung „Die Welt“. Der ungarische Premier dürfe keine Stimme bei den Treffen des Europäischen Rats mehr haben und nicht mehr in Fragen mitentscheiden, die alle EU-Bürger betreffen.

„Werft die Ungarn jetzt raus aus der EU!“

„Wenn eine Regierung in der Krise sich selbst Vollmachten gibt, dann führt das nirgendwo in Europa dazu, dass das Parlament suspendiert wird, außer in Ungarn“, so Asselborn. Im Sinne künftiger Generationen dürfe man eine zunehmende „Orbanisierung“, eine immer deutlichere Abkehr von den Regeln der Demokratie nicht hinnehmen.

Die Stellungnahme der EU-Spitze zu diesem Ermächtigungsgesetz blieb ziemlich allgemein: Es sei außerordentlich wichtig, dass Corona-Notfallmaßnahmen „nicht auf Kosten unserer Prinzipien und Werte gehen, wie sie in den Verträgen festgelegt sind“, erklärte   von der Leyen. Sie müssten immer angemessen und zeitlich begrenzt sein. Das Wort „Ungarn“ erwähnte sie dabei nicht. Doch viele  forderten: „Werft die Ungarn jetzt raus aus der EU!“

„Italienische Europaskeptiker bedienen sich gern der antideutschen Rhetorik“

Doch mittlerweile hat es wieder eine Wende gegeben. Europa ist gefragter denn je. Nach einer ersten Phase der Renationalisierung verstehen viele Länder, dass sie kooperieren müssen, wenn sie diese Krise überwinden wollen. Vor allem, wenn es um finanzielle Hilfen geht.

Da steht vor allem die Bundesregierung in Berlin im Mittelpunkt, die sich nicht auf die sogenannten Corona-Bonds einlassen will. Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise hatte Kanzlerin Angela Merkel gesagt: „Solange ich lebe, wird es keine Euro-Bonds geben.“ Und in einer Telefon-Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder habe es regelrecht geknallt zwischen Merkel und einigen anderen, darunter dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. „Heute schimpft man über Deutschland – aber im Grunde meint man die EU. Italienische Europaskeptiker bedienen sich gern der antideutschen Rhetorik, um Kritik an der Europäischen Union zu artikulieren“, sagt der Historiker Massimiliano Livi. Man sei jedoch  an einem historischen Wendepunkt. „Was wir jetzt brauchen, ist mehr europäische Zusammenarbeit und politische Einigung.“

Man müsse die EU revitalisieren.   Wir müssen endlich den immer wiederkehrenden Nationalismus überwinden. Gelingt uns das nicht, werden die Fäden Europas wieder einmal zerrissen.“ (mh, red, dpa)

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