Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Franz Müntefering„Wollen Senioren davor schützen, von E-Rollern umgefahren zu werden“

Lesezeit 6 Minuten
Franz Müntefering 3

Franz Müntefering

  1. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ist Cheflobbyist der Alten in Deutschland.
  2. In seiner Position fordert er Wohnprogramme für Senioren und die Einführung von Pflegezeiten für Angehörige.
  3. Wie er Senioren davor schützen möchte, von rasenden E-Rollern umgefahren zu werden.

Herr Müntefering, Sie sind als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) auch Cheflobbyist der Alten in Deutschland. Wie kam es dazu?Lobby klingt ja immer ein bisschen komisch. Ich verstehe meine Arbeit als Interessenvertretung, die in der Demokratie dazugehört. Schon als Bundestagsabgeordneter habe ich mich intensiv um demografische Fragen gekümmert. Die Frage, wie wir mit dem Älterwerden umgehen, liegt mir am Herzen. Mein Ziel ist es, den Menschen Mut zu machen. Man muss das Älterwerden als Chance begreifen. Um die nutzen zu können, dürfen die Alten nicht darauf warten, dass andere ihre Probleme lösen. Das müssen sie auch selbst tun.

Werden die Senioren von der Politik nicht ernst genug genommen?

Das würde ich so nicht sagen. Wir arbeiten mit den Seniorenorganisationen der Parteien eng und gut zusammen. Aber beispielsweise auch die Kirchen, die Gewerkschaften, Blindenverbände und der Sozialverband VDK gehören zur BAGSO. Wir haben insgesamt 120 Mitgliederorganisationen, die acht bis neun Millionen Menschen vertreten.

Alles zum Thema Deutscher Bundestag

Welches Problem haben Sie zuletzt gelöst?

Wir wollten die Senioren davor schützen, von rasenden E-Rollern auf dem Fußweg umgefahren zu werden. Das ist uns in letzter Minute gelungen. Wir konnten die Bundesregierung von dem irren Plan abbringen, E-Roller auf Fußwegen zuzulassen.

Zur Person

Franz Müntefering, geboren am 16. Januar 1940 in Neheim (heute Arnsberg), saß von 1975 bis 1992 und von 1998 bis 2014 für die Sozialdemokraten im Bundestag.

Als Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen war er von 1998 bis 1999 im ersten Kabinett von Gerhard Schröder vertreten.

Den Vizekanzler im ersten Kabinett Angela Merkels stellte er von 2005 bis 2007. Gleichzeitig war er Bundesminister für Arbeit und Soziales.

Die Menschen werden immer älter. Was bedeutet das für die Politik?

Die Alten sind nicht alles Leute, die nur den letzten Tank leerfahren. Die Menschen 65 plus haben oft noch viele Jahre vor sich. Das ist ein großes Reservoir, das wir stärken, aber auch nutzen sollten. Zum Beispiel für das Ehrenamt. Die Deutsche Stiftung für Ehrenamt und Engagement wurde jetzt gegründet, die verstärkt in ländlichen Räumen helfen soll. Ohne die ehrenamtliche Hilfe auch von Senioren würde im Hospiz- und Palliativbereich nicht viel funktionieren. Das ist eine der größten Bürgerbewegungen, die wir in Deutschland haben. Auch in der häuslichen Pflege sind viele Betreuer selbst weit über 70. Das Potenzial ist unentbehrlich. Auch für Patenschaften an Schulen. Ein Viertel der Menschen in Deutschland sind im Rentenalter. In 15 Jahren wird der Anteil auf ein Drittel ansteigen und die können noch was.

Wir reden in NRW viel über schulische Inklusion. Wie steht es um die Inklusion von älteren Behinderten?

Da müssen wir noch viel tun. Es geht ja nicht um einzelne Gebrechen, sondern um den schlechter werdenden körperlichen Gesamtzustand, der im Alter oft große Probleme macht und die Teilhabe am Leben erschwert. Viele Senioren leben alleine zu Hause. Um die müssen wir uns verstärkt kümmern.

Franz Müntefering 2

Franz Müntefering im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger.

Muss der Bau von Wohngemeinschaften für Senioren stärker gefördert werden?

Natürlich. Wir haben noch zu viele Neubauten, die nicht barrierefrei sind. Noch wichtiger als der Neubau ist der Umbau der Bestandswohnungen. In Deutschland gab es im Jahr 2017 mehr als 8400 Sturzunfälle, viele davon sofort oder bald danach mit tödlichem Ausgang. Das Unfallrisiko zu Hause ist doppelt so hoch wie im Verkehr. Das trifft vor allem Ältere. Dagegen müssen wir was tun.

Was meinen Sie damit?

In den alten Bädern müssen die Badewannen durch ebenerdige Sitzduschen mit Hebeanlagen ersetzt werden. Stolperkanten müssen weg, Ecken raus. Im Alter kann man Stürze nicht wie eine Katze abfedern. Große Gefahrenherde sind auch Wendeltreppen, die nur einseitig Geländer haben. Solche Umbauten muss der Bund jetzt durch ein auf einige Jahre ausgelegtes Investitionsprogramm stärker fördern. Vielen Senioren fehlt das Geld, um Umbaumaßnahmen zu finanzieren. Aber sie wollen so lange wie möglich in ihrer Wohnung bleiben. Das ist riskant, aber verständlich.

Der Pflegeberuf ist für viele unattraktiv ...

Ja, aber es ist wichtig, dass wir genug Nachwuchskräfte gewinnen. Die Pflege von Alten ist nicht weniger wichtig als die von Kranken. Die höhere Wertschätzung muss sich auch im Portemonnaie auswirken: Alten- und Krankenpfleger müssen gleich ausgebildet und bezahlt werden.

Wie kann man die Lage von pflegenden Angehörigen verbessern?

70 Prozent der Senioren werden zu Hause gepflegt. Wir wollen für die Angehörigen Pflegezeiten – analog zu den Kindererziehungszeiten – wo einer einen Teil seines Jobs aussetzen kann und dafür eine Entschädigung bekommt. Das rechnet sich volkswirtschaftlich. Heute gehen viele Senioren erst dann ins Heim, wenn die Pflege zu Hause gar nicht mehr geht und nicht mehr zu verantworten ist.

Was bedeutet das für die Pflegeheime?

Sie haben es mit Menschen zu tun, die den ganzen Tag über betreut werden müssen. Das erfordert Zeit.

Auch durch Pflegeroboter?

Senioren brauchen menschliche Kontakte, keine Roboter. Roboter-Technik ist was für Spielstunden. Aber die Menschen merken, ob man sie ernst nimmt. Roboter sind auf keinen Fall die Antwort auf den Fachkräftemangel.

Mobilität ist wichtig für Senioren ...

Ja, wenn man an einer Stelle ohne ÖPNV wohnt, dann wird es schwierig. Wer nicht mehr zum Einkaufen fahren kann, ist in seinen vier Wänden wie gefangen. Manchmal helfen Bürgerbusprojekte, aber die sind leider noch die Ausnahme. Es ist wichtig, dass Senioren ihre sozialen Kontakte pflegen, dass sich Gruppen finden, die aufeinander aufpassen. Die können zum Teil auch Einkäufe organisieren. Viele Familien können das ja nicht mehr selbst leisten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Was halten Sie von einer regelmäßigen Fahrtauglichkeitsprüfung?

Wer Auto fährt, hat Verantwortung dafür, dass er das auch kann. Das ist nicht bei allen auf immer garantiert, kann früher oder später weg sein. Ich habe versprochen, mich bei der Fahrschule testen zu lassen, wenn ich nächstes Jahr 80 Jahre alt werde. Ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten, bei Regen im Dunkeln noch gut zu sehen. Aber das Thema ist nicht einfach und benötigt Fingerspitzengefühl. Männer sind ja in der Regel Cowboys, die nicht gerne ihren Lappen abgeben. Möglicherweise würde eine EU-weite Regelung helfen.

Wie halten Sie sich fit?

Ich mache morgens eine Viertelstunde Gymnastik. Außerdem jede Woche drei bis vier stramme Märsche, so fünf Kilometer, bei schlechten Wetter auch auf dem Laufband. Seniorensport ist wichtig. Die Bewegung der Beine ernährt das Gehirn. Nebenbei: In die Muckibude gehen nicht nur junge Menschen. Auch Ältere können da nette Leute kennenlernen und soziale Kontakte finden.

Werden Sie heute noch erkannt?

Ja, viele Leute kennen mein Gesicht von früher aus dem Fernsehen, wissen aber oft nicht so genau, wo sie mich hintun sollen. Ich wurde schon für Ottmar Hitzfeld oder Wolfgang Clement gehalten. Ein Junge am Kölner Hauptbahnhof hat mich mal gefragt, ob ich Franz Beckenbauer sei. Da hat der ganze Bahnsteig gelacht. Das zeigt, wie die Zeiten vergehen. Viele, die jünger als 25 Jahre alt sind, wissen schon nicht mehr, wie „Kaiser Franz“ aussieht.