Gastbeitrag von Christoph ButterweggeKinderarmut spielte kaum eine Rolle im Wahlkampf

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Kinderarmut dpa

Viele Kinder in Deutschland sind arm.

Für die meisten Deutschen gehört ihre materielle Lage einschließlich der ihrer Familie zu den Schlüsselfragen, die auch ihre Wahlentscheidung stark beeinflusst. Trotzdem haben die sozialen Probleme der Familien und die skandalös hohe Kinderarmut im Bundestagswahlkampf bislang nur eine Nebenrolle gespielt.

Dies ist umso verwunderlicher, als sich die Unterversorgung von Familien, Kindern und Jugendlichen während der 16-jährigen Regierungszeit von Angela Merkel nicht bloß verschärft, sondern auch verfestigt hat. Betrug die Armutsrisikoquote für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren im Krisenjahr 2005 bereits 19,5 Prozent, so erreichte sie 2019, also kurz vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie – trotz einer viel besseren Wirtschaftslage als damals den Rekordstand von 20,5 Prozent.

2,8 Millionen Kinder armutsgefährdet

Mittlerweile sind in unserem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land nach EU-Maßstäben mehr als 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet oder armutsbetroffen. Wie dramatisch sich unsere Gesellschaft in dieser Beziehung verändert hat, zeigt folgender Zahlenvergleich: 1965, auf dem Gipfelpunkt des „Wirtschaftswunders“, bezog jedes 75. Kind Sozialhilfe; heute ist jedes 7. Kind auf Sozialgeld angewiesen, ebenso wie das Arbeitslosengeld II für Erwachsene landläufig „Hartz IV“ genannt.

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Kinderarmut ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis eines ausufernden Niedriglohnsektors und falscher Weichenstellungen der politischen Entscheidungsträger. Beispiel Steuerpolitik: Warum bekommt ein Spitzenverdiener durch Inanspruchnahme des Kinderfreibetrages bei der Einkommensteuer über 1000 Euro pro Jahr mehr für sein Kind als ein Durchschnittsverdiener an Kindergeld? Und warum rechnet das Jobcenter auch Erhöhungen des Kindergeldes den Alleinerziehenden im Hartz-IV-Bezug auf die Transferleistung an und zieht ihnen das zusätzliche Geld sofort wieder ab?

Zu Person

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich zusammen mit seiner Frau Carolin Butterwegge das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht.

Sieht man von dem im europäischen Vergleich immer noch viel zu niedrigen Mindestlohn ab, wurde jahrzehntelang nichts Entscheidendes gegen die Kinderarmut getan. Vielmehr scheint es, als würden sich die politisch Verantwortlichen auf Sonntagsreden zu dem Problem beschränken, weil sie wissen, dass von ihnen enttäuschte Arme größtenteils resigniert haben und deshalb kaum noch ihre Stimme abgeben. Am vergangenen Mittwoch hat das Bundeskabinett beschlossen, die Hartz-IV-Regelsätze im nächsten Jahr nur um weniger als ein Prozent zu erhöhen, was deutlich unter der Inflationsrate liegt. Folglich werden Familien im Transferleistungsbezug ab 1. Januar 2022 noch ärmer und ihre Kinder noch stärker abgehängt als bisher. Zoo-, Zirkus- und Kirmesbesuche entfallen ganz.

Nötig ist eine Kindergrundsicherung, die alle kindbezogenen Leistungen wie das Kindergeld, den Kinderzuschlag, die Angebote des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Unterhaltsvorschuss zusammenfasst. Sie müsste armutsfest und bedarfsgerecht, also einkommensabhängig und nicht nach dem Vorbild des bedingungslosen Grundeinkommens gestaltet sein. Mittels einer Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, die alle Kinder über einen Leisten schlägt, ohne deren Alter, Wohnort und Familienkonstellation angemessen zu berücksichtigen, lässt sich Armut nicht wirksam bekämpfen. Um längerfristig Erfolg zu haben, muss man auch die betroffenen Eltern aus dem Hartz-IV-System herausholen.

Nachteile für Finanzschwache ausgleichen

Neben mehr Geld, das Spitzenverdiener und Hochvermögende durch höhere Steuern aufbringen können, brauchen finanzschwache Familien eine soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur, die aus Ressourcenknappheit erwachsende Nachteile ihrer Kinder gegenüber denen von Bessergestellten ausgleicht. Dazu gehören mehr Kitas mit einem verbesserten Personalschlüssel, mehr Lehrkräfte und kleinere Klassen, aber auch viele Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen.Nicht gespart werden darf zudem an Jugendzentren, Stadtteilbibliotheken, öffentlichen Schwimmbädern sowie Spiel- und Sportplätzen.

Die nach der Bundestagswahl zu bildende Regierung muss finanziell ausgeblutete Kommunen entschulden und versuchen, das Problem der Kinderarmut in unserem Land zu lösen.

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