Interview mit Andreas Rödder„Die Lage ist bedrohlich für die SPD“

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Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Berlin – Andreas Rödder (50) ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Große öffentliche Resonanz fand sein im Jahr 2015 erschienenes Buch „21.0: Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Rödder ist bekennender Konservativer. Im Landtagswahlkampf 2016 war er im Schattenkabinett der rheinland-pfälzischen CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur verantwortlich.

Herr Rödder, am Sonntag ist SPD-Bundesparteitag. Ist der Kampf der SPD, eine Volkspartei zu bleiben, aussichtsreich? Oder sind Volksparteien Opfer eines Wandels: so wie in diesen Zeiten Firmen in die Pleite gehen, ganze Branchen sterben und einstmals sichere Arbeitsplätze wegfallen?

Ja, die Lage ist bedrohlich für die SPD. Natürlich könnte es der Partei ergehen wie den Kohle-Kumpels im Ruhrgebiet, die sie früher gewählt haben. Die Zechen wurden dicht gemacht. Auch Parteien können in die Bedeutungslosigkeit stürzen. Aber: Fatalismus ist falsch. Die Volksparteien haben keine Überlebensgarantie. Aber es gibt auch keine Automatismen, die ihren Niedergang auslösen.

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Die Menschen wählen heute zwischen Tausenden Kaffeesorten. Viele bestellen statt eines Filterkaffees einen karamellisierten Latte Macchiato auf Eis. Müssen wir da nicht auch von einer immer stärkeren Ausdifferenzierung des Parteiensystems ausgehen?

Wir haben es mit einem Prozess der Pluralisierung zu tun, der sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert auf allen möglichen Ebenen vollzieht. Diese Pluralisierung bildet sich auch im Parteiensystem ab. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, nur die eine Seite der Medaille.

Was sehen Sie denn, wenn Sie die Medaille umdrehen?

Die gesamte Moderne ist nicht nur von der Pluralisierung, sondern auch von Effekten der Vereinheitlichung geprägt. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Wir sitzen heute alle vor Benutzeroberflächen von Windows oder Apple, und jedes große Einkaufszentrum, jeder große Flughafen sieht weltweit fast gleich aus. Das ist Vereinheitlichung pur.

In welchem Verhältnis stehen Pluralisierung und Vereinheitlichung zueinander?

Sie sind ein Grundwiderspruch der Moderne. Sie laufen zeitgleich ab und befeuern sich dabei gegenseitig. Wir erleben ein Wechselspiel: Viele Menschen haben die Pluralisierung von Lebensformen als Befreiung empfunden. Das Interessante ist, dass die Pluralisierung dann aber auch einen neuen Hunger nach Ganzheit, Verbindlichkeit und gemeinsamen Werten hervorgerufen hat.

Was bedeutet das alles konkret für große Parteien, die noch den Anspruch haben, sehr unterschiedliche Milieus und Bevölkerungsgruppen für sich zu gewinnen?

Die gute Nachricht für sie ist: Es gibt auch heute noch ein Bedürfnis nach Angeboten, die sich an alle richten. Es gibt, wenn Sie so wollen, einen Markt für Jedermanns-Produkte – auch im Politischen. Die große Herausforderung dabei ist aber, dass die großen Parteien dabei gleichzeitig die Pluralität der Gesellschaft in sich abbilden und nach außen sichtbar machen müssen.

Das klingt, als ginge es um die Quadratur des Kreises.

In ihren besten Zeiten war die CSU in Bayern, die CDU in Baden-Württemberg oder die SPD in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel Regierung und zugleich Opposition gegen sich selbst. Ein grundlegendes Problem gibt es aber: Die Demoskopen warnen, dass Streit in Parteien zum Verlust an Zustimmung führt. Die Konsequenz ist eine Geschlossenheitsrhetorik der Parteispitzen, die alle nervt.

Was raten Sie den Parteispitzen also?

Ich kann die demoskopische Logik verstehen. Für lebendige Parteien und das gesamte Parteiensystem ist sie aber verheerend. Mit dem Ruf nach Geschlossenheit wollen Parteien Schlachten gewinnen, aber sie verlieren den Krieg. Wir müssen den Parteien also sagen: Traut euch, euch zu streiten! Traut euch, euren internen Streit auch nach außen zu zeigen!

Und was ist, wenn die Partei dann in den Umfragen abstürzt?

Hier liegt eine zentrale Herausforderung für die politische Öffentlichkeit, allen voran für die berichtenden und kommentierenden Medien: nämlich nicht jede innerparteiliche Auseinandersetzung zu einer Krise und zu einem Problem hochzujazzen. Man möchte ihnen vielmehr zurufen: Seht innerparteilichen Streit nicht als einen Mangel an Geschlossenheit, sondern als Wettbewerb der Ideen! Das ist der Kern von Demokratie!

In der Flüchtlingskrise haben sich CDU und CSU lange Zeit gegenseitig zerlegt, auch jetzt knirscht es wieder. Davon hat vor allem die AfD profitiert.

Gerade über Fragen, die so viele Menschen bewegen, muss unbedingt debattiert und gestritten werden: in und zwischen den Parteien. Die Auseinandersetzung sollte dann allerdings auf einem höheren Niveau stattfinden als der Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Wenn Volkparteien unterkomplex diskutieren, wenden sich viele denen zu, die noch stärker vereinfachen.

Warum hat die SPD insgesamt so viel größere Schwierigkeiten als die Union?

Bei keiner anderen Partei ist die Kluft zwischen den Wählergruppen so groß. Die SPD muss die klassische Anhängerschaft aus der Arbeiterschicht ansprechen, aber auch die Akademiker, die der Partei seit den 60er und 70er Jahren zugeflossen sind. Der Brite David Goodhart unterscheidet zwischen den „Anywheres“ und den „Somewheres“. Die „Anywheres“ sind meist sehr gut ausgebildete und mobile Menschen. Die „Somewheres“ sind stärker verwurzelt, ihnen bereiten Veränderungen größeres Unbehagen. Diese kulturelle Konfliktlinie zieht sich mitten durch die SPD.

Die SPD sieht sich selbst als progressive Partei. Viele in ihrer Wählerschaft haben aber gerade ein konservatives Interesse: nämlich, dass der Wandel nicht zu schnell verläuft. Die Angst beim Wechsel von der Industriegesellschaft hin zu einer stärker von der Digitalisierung getriebenen Wirtschaft unter die Räder zu geraten, ist groß.

Genau hier liegt eine entscheidende Herausforderung. Die Sozialdemokratie hat in der Vergangenheit ihre Antworten auf die soziale Frage gefunden, die aus der Industrialisierung erwachsen ist. Sie muss jetzt – aufbauend auf ihrem eigenen Ideenschatz – neue Konzepte für das 21. Jahrhundert entwickeln. Sie muss ihre Ideen angesichts der Veränderungen durch die Digitalisierung neu buchstabieren. Das gilt aber für alle Parteien.

Ist die SPD dieser Herausforderung gewachsen?

Die SPD hat sich als enorm reformfähig erwiesen: mit dem Godesberger Programm von 1959 zum Beispiel und zuletzt mit der Agenda 2010. Das Prinzip Fordern und Fördern ist aus der sozialdemokratischen DNA erwachsen. Die Vorstellung der Arbeiterbewegung war nie, ohne Gegenleistung soziale Versorgung für alle zu schaffen. Die SPD hat die Agenda-Politik aber nach innen wie nach außen schlecht kommuniziert. Deshalb hat die Partei bis heute ihren Frieden nicht gefunden, obwohl sie sagen könnte: der Aufschwung der letzten Jahre ist unser Erfolg. Das ist fast schon tragisch.

In Frankreich hat Emmanuel Macron mit einer eigenen Bewegung die sozialistische Partei in die Bedeutungslosigkeit geschickt. Ist heute die Persönlichkeit ausschlaggebend?

Das Phänomen Macron ist erst mal Anlass zur Ermutigung. Selbst wenn etablierte Parteien scheitern, führt das nicht unweigerlich in die Katastrophe. Zweitens ist sein Erfolg ein Beleg, wie wichtig die Persönlichkeit ist. Auch Angela Merkel hat noch 2013 mit dem Satz „Sie kennen mich“ die Wahl gewonnen. Auch der kurze Hype um Martin Schulz war ein Zeichen für die Sehnsucht nach einem Politiker, der mit Inhalten und Persönlichkeit überzeugt. Schulz hielt nur den Erwartungen nicht stand.

Findet die SPD bis zur nächsten Bundestagswahl jemanden, der das kann?

Selbstgewisse Prognosen wären unseriös. Meine wichtigste Erkenntnis als Historiker ist: Die Geschichte ist offen. Die Parteien müssen allerdings erkennen, um was es geht: Sie müssen sich für das 21. Jahrhundert neu erfinden. Reflexartige Geschlossenheitsrhetorik, innerparteiliches Klein-Klein und das Spekulieren werden das allerdings nicht leisten.

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