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Zehn Jahre BundeskanzlerinAls Schröders Verhalten Angela Merkel die Kanzlerschaft sicherte

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Angela Merkel

Berlin – Wie fein geplant das wirkt, wie eine um zehn Jahre verschobene Siegesgeste: Angela Merkel hält am Donnerstag die Eröffnungsrede zur IAA in Frankfurt.

Am Tag vor dem Jahrestag nimmt sie Gerhard Schröder auch noch den Titel des Autokanzlers. Und kommende Woche wird sie in Berlin eine Biografie über ihren Vorgänger vorstellen, Geschichtsschreibung über einen Gewesenen. Es ist wie das späte Lächeln einer Siegerin. Das Lächeln, das ihr vergangen ist, an diesem 18. September 2005, an dem sie zum ersten Mal eine Bundestagswahl gewonnen hat.

Doch an diesem Abend trumpft der Verlierer auf wie der Sieger. Und ausgerechnet das wird für Merkel zu einem Schlüssel ihres Erfolgs, es ist der Beginn einer Kanzlerschaft, die beginnt mit Spott über herabgezogene Mundwinkel und irgendwann in eine scheinbar kollektive Hypnose mündet. Die präsidiale Züge annimmt, weil die Amtsinhaberin über die Parteigrenzen hinweg auf Zustimmung stößt. Es ist der Beginn einer Kanzlerschaft, die Höhen und Tiefen erlebt, Merkel selbst aber nicht aus der Ruhe zu bringen scheint, mit einem stabilisierenden Hände-Dreieck vor dem Bauch.

Die „Berliner Runde“

In der ARD-Sendung „Berliner Runde“ trifft der amtierende Kanzler Schröder am Wahlabend 2005 auf Merkel und die anderen Parteivorsitzenden. 13 Millionen Zuschauer sehen eine Kanzlerkandidatin der Union, die Mühe hat, sich an der aufgeregten Debatte zu beteiligen, die von dem wie gedopt wirkenden Schröder dominiert wird. Entgegen den Prognosen, die einen hohen Wahlsieg der Union vorhergesagt hatten, liegt die CDU/CSU nur knapp vor den Sozialdemokraten. Rot-Grün hat zwar keine Mehrheit mehr, trotzdem höhnt der Kanzler: „Frau Merkel wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen.“

Von heute aus gesehen eine absonderliche Feststellung, und schon an jenem Abend hatte sie etwas Irreales. Franz Müntefering gab später ein wenig Aufschluss darüber, was passiert sein könnte. Der damalige SPD-Vorsitzende schilderte, wie Schröder und er am Vorabend von 20000 Anhängern begeistert gefeiert wurden. „Dabei hatten wir beide einen Zettel in der Tasche: Ihr könnt nicht mehr gewinnen.“

SPD als Juniorpartner

Das waren die letzten Erkenntnisse der Wahlforscher. Noch auf der Bühne hätten Schröder und er sich ausgetauscht, wie man das den Genossen am nächsten Tag vermitteln könnte. Und dann lag am Wahlabend die SPD nun fast gleichauf mit der Union. Gegen halb acht bargen die Hochrechnungen sogar noch die Möglichkeit, dass die SPD stärkste Fraktion werden könnte. „In diesem Zustand, gestern noch tief im Keller und heute vielleicht vorne, ist Gerhard Schröder da hin.“ Schröder selbst nennt seinen Auftritt später „suboptimal“, ein wenig mehr Bescheidenheit wäre besser gewesen, gibt er zu.

Die SPD wird schließlich der Juniorpartner der Union, es ist eine Regierung nicht ohne sozialdemokratische Partei, sondern nur ohne Schröder. Der kann seinen Führungsanspruch zwar nicht aufrechterhalten, doch die CDU muss Merkels Kanzlerschaft teuer erkaufen. Für die Geschichte der Bundesrepublik beispiellos, bekommt der knapp unterlegene Koalitionspartner mehr Ministerposten als der größere Partner.

Aber der Fernsehabend ist eben auch ein definierender Moment für die Kanzlerschaft Merkels. Die Frau aus Ostdeutschland hatte im Jahr 2000 zwar die Nach-Kohl-Zeit eingeläutet, die Union in der Oppositionszeit geführt. Dennoch galt sie als Übergangslösung. Einige CDU-Ministerpräsidenten – Roland Koch in Hessen, Christian Wulff in Niedersachsen und Jürgen Rüttgers in NRW – sehen sich als die kommenden Bestimmer der Partei.

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Durch Schröders Verhalten werden sie zur Solidarität mit ihrer Vorsitzenden gezwungen. Der CDU-Politiker und Merkel-Widersacher Friedrich Merz, mittlerweile in die Wirtschaft abgewandert, stellt später fest: „Wahrscheinlich hat Gerhard Schröder an diesem Abend die Kanzlerschaft von Angela Merkel abschließend gesichert.“ In die Empörung hinein lässt sich Merkel schnell wieder zur Fraktionsvorsitzenden wählen, den Anspruch aufs Kanzleramt kann ihr nun keiner mehr nehmen.

Zehn Jahre später ist sie zwei Mal wieder gewählt worden, 2013 kratzte die Union sogar an der absoluten Mehrheit. Es sind weniger CDU/CSU-Stimmen, mit denen das gelingt, sondern eher Merkel-Stimmen. Es sind Siege des Stoischen, Bedächtigen. Merkel gewinnt auch, weil sich gleichzeitig die Gegenseite zerlegt: Die SPD bekommt die Linkspartei nicht klein und bekommt auch dadurch keinen Fuß mehr ins Kanzleramt.

In die politische Mitte

Merkel, die neoliberal begonnen hat, macht sich in der politischen Mitte breit. Sie bewegt sich taktisch, übernimmt mehr und mehr Positionen der SPD, der Grünen auch. Die erste Frau und erste Ostdeutsche im Kanzleramt wird so zur bestimmenden Frau der deutschen und zu einer der bestimmenden Politikerinnen auf der internationalen Bühne. Die CSU träumt von einer absoluten Mehrheit der Union im Bund. Und im Sommer sagt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig, gegen diese Kanzlerin müsse seine SPD 2017 erst gar keinen eigenen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken.

Und nun stellt sich diese Kanzlerin hin und droht mit Rücktritt. So kann man es zumindest verstehen, was sie am Dienstag dieser Woche im Kanzleramt sagt. Sie hat erst die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet, dann doch Kontrollen eingeführt, es sieht nach Panik aus, nach einer Regierung, die den Überblick verloren hat. Auch in den eigenen Reihen wird Merkel heftig kritisiert. Tagelang hat sie dazu geschwiegen. Nun geht sie nicht zur Tagesordnung über, sondern verteidigt sich: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Es ist ein pathetischer, ein emotionaler Satz. Er klingt wie eine Vertrauensfrage an ihr Volk.

In der CDU gibt es Irritationen. Es heißt aber auch, der Satz sei geschickt, weil Merkel die Kritik damit zum Verstummen gebracht habe.

Angriff auf die CSU

Wer kann schon etwas sagen gegen ein freundliches Gesicht in Notsituationen, in einer christlichen Partei zumal? Und ab und an haben sie sie ja auch schon kennengelernt, die rabiate Merkel: Ohne Absprache mit dem damaligen Parteichef Wolfgang Schäuble forderte sie in der Spendenaffäre einen Neuanfang der CDU ohne Helmut Kohl. Nach dem Reaktorunglück in Fukushima entschloss sie sich quasi über Nacht zum Ausstieg aus der Atomenergie – eine 180-Grad-Wende wenige Tage vor der Baden-Württemberg-Wahl. Die CDU grummelt, aber folgt der Chefin.

Die zieht weiter zu den nächsten Krisen, international sind die in den folgenden Jahren vor allem. Und alle bleiben eher abstrakt: Atomenergie, Bankenkrise, Griechenland, Ukraine. Es geht auch um Menschenleben, um Armut, um Hunger, um Tote. Aber die sind immer noch ein Stück weit entfernt.

Die Flüchtlingskrise, die Merkel als größte Herausforderung der vergangenen Jahrzehnte bezeichnet, ist auch deswegen so besonders, weil sie im Land stattfindet, auf den Bahnhöfen und Straßen, in den Dörfern und Turnhallen. „Wir schaffen das“, betont Merkel erneut. Sie hat viel erreicht, fast sogar die absolute Mehrheit. Man kann vermuten, dass ihr das einige innere Unabhängigkeit gibt. Die Anspannung der letzten Tage scheint wieder etwas gewichen. Zur Vorstellung der Schröder-Biografie wird am kommenden Dienstag auch Gerhard Schröder erwartet. Die beiden könnten den Wahlabend nachstellen.