Mindestlohn, Kampf gegen GoogleWie Abgeordnete aus dem Kölner Umland die EU prägen

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Emmanuel Macron machte dem Europäischen Parlament im Januar große Versprechen.

  • Vor zweieinhalb Jahren haben wir das EU-Parlament gewählt. Die Hälfte der Legislaturperiode ist vorbei. Was passiert dort eigentlich?
  • Wir haben drei Abgeordnete aus dem Rheinland in einer wegweisenden Sitzungswoche in Straßburg begleitet.
  • Wie eine Bonnerin Google die Grenzen aufzeigt, wie eine ehemalige Stadträtin für scharfe Mindestlohn-Regeln in Europa kämpft – und wieso niemand davon mitbekommt.

Köln – Die Europäische Union hat das Kölsch gerettet. Nur weiß das in Köln niemand. Weil in der EU-Vorschrift zur Qualitätsregelung etwas anderes steht.

„Wir müssen schreiben: Es gibt verpflichtende geschützte Herkunftsangaben für Produkte, die mit einer lokalspezifischen Methodologie hergestellt werden. Da haben Sie die Leute nach dem dritten Wort verloren, eigentlich steht da aber: Kölsch wird in Köln produziert“, sagt die Bonner EU-Abgeordnete Alexandra Geese. Ihren Espresso im Straßburger EU-Parlament zahlt sie mit EC. Sparkasse Köln-Bonn, der Dom ziert die Karte. Die EU-Vorgabe muss aber nicht nur für das Kölsch, sondern „muss auch für den französischen Camembert funktionieren. Das Problem ist nicht lösbar.“

Und es führt zu einer großen emotionalen Distanz, zu einem Fremdeln mit europäischer Politik: Was haben die abstrakten Vorschriften aus Brüssel und Straßburg mit meinem Leben zu tun? Und was machen die Abgeordneten dort überhaupt?

19 Abgeordnete aus NRW für Europa

19 Frauen und Männer aus Nordrhein-Westfalen gehören zu den 705 Mitgliedern des Europäischen Parlaments. Eine Handvoll davon kommt aus dem Rheinland. Alexandra Geese ist eine von ihnen, seit 2019 sitzt die Bonnerin für die Grünen im EU-Parlament. Direkt aus dem Rheinland heraus wurde Geese allerdings nicht gewählt. Wahlkreise, in denen Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden können, gibt es bei der Europawahl im Gegensatz zu Bundes- oder Landtagswahlen nicht.

Die Parteien schicken über ihre Listen Abgeordnete ins Parlament, die Anzahl ergibt sich aus den bundesweiten Stimmen. Wie viel Rheinland am Ende im Plenarsaal sitzt, hängt also davon ab, wie die Parteien Abgeordnete aus den einzelnen Regionen platzieren.

Alexandra Geese bekam mit Listenplatz 17 einen der 21 deutschen Sitze der Grünen. Sie ist studierte Konferenzdolmetscherin, in Straßburg und Brüssel kennt sie sich aus. Vor ihrer Wahl arbeitete sie einige Jahre als Dolmetscherin für das Europäische Parlament. In der Straßburger Sitzungswoche im Januar hatte sie ihre wohl bislang größten Tage als Abgeordnete. Ein Team des öffentlich-rechtlichen Fernsehens begleitet Geese die Woche über. Filmt, wie sie durch die Glasbrücke über den Fluss vom einen Parlamentsgebäude in das andere läuft. Aus der ganzen Welt werden Interviews angefragt.

Warum marschieren Birkenstock-Papas und Rechtsextreme gemeinsam?

Der Grund für die plötzliche Aufmerksamkeit heißt Digital Services Act, kurz DSA. Seit Ende 2019 arbeitet Geese als sogenannte Schattenberichterstatterin für die europäische Grünenfraktion an einem Gesetzesentwurf, der die Macht von digitalen Großkonzernen wie Google oder Facebook über unsere Daten einschränken soll. In dieser Funktion spricht Geese mit anderen Abgeordneten, handelt Kompromisse für ihre Fraktion aus, spricht mit Expertinnen und Experten wie der Facebook-Whistleblowerin Francis Hogan. Besonders die Verbreitung von Falschinformationen in sozialen Netzwerken bereitet der Abgeordneten Sorgen. „Wir dürfen unsere Demokratie nicht aufs Spiel setzen, damit Mark Zuckerberg reich wird“, sagt Geese. Zukünftig müssen die Konzerne also der EU und von ihr ausgewählten NGOs Auskunft darüber erteilen, welche Daten über ihre Nutzerinnen und Nutzer sie erheben. Und diese auch für Forschungszwecke zur Verfügung stellen. Erstmals überhaupt werden sie dazu von einer demokratischen Institution gezwungen.

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Alexandra Geese (Grüne) legt sich seit zweieinhalb Jahren mit Google und Facebook an.

Für die Grünen ist das Ganze politisch kein ganz uneigennütziges Projekt. Das zeigt sich anhand der aktuellen Corona-Proteste, auch in Köln, bei denen das Publikum auffällig divers ist. „Warum gehen Leute mit Birkenstock-Sandalen gemeinsam mit den Nazis auf die Straße? Man kann darüber große philosophische Erklärungen abgeben, aber das aktuelle Geschäftsmodell der sozialen Netzwerke hat sehr viel damit zu tun“, sagt Geese. Denn Falschinformationen im Internet führen in diesem Fall nicht nur zu gesundheitlichen und gesellschaftlichen Gefahren. Sondern womöglich auch zu einem Wählerschwund bei den Grünen, von denen einige ursprüngliche Sympathisanten nun Seite an Seite mit Rechtsextremen marschieren.

Facebook und Google wehren sich nach Kräften

Doch die Tech-Konzerne haben ihre Drähte in das Europäische Parlament. Und so wird sich eine der zentralen Forderung Geeses im DSA wohl nicht mehr wiederfinden. „Die ganze Lobbykampagne war darauf ausgerichtet, auch in Zukunft nicht auf die Nutzung sehr persönlicher Daten für Werbung verzichten zu müssen. Die großen Tech-Konzerne haben wahnsinnig investiert, weil sie ihr Geschäft mit unseren Daten gefährdet sahen“, sagt die Abgeordnete. Wie bahnbrechend das DSA am Ende also wirklich wird, bleibt abzuwarten.

Eine, die sich dem eingeschränkten Machtradius des Europäischen Parlaments sehr bewusst ist, ist die Linken-Abgeordnete Özlem Demirel. In Köln saß sie von 2004 bis 2010 im Stadtrat, war Mitglied im Landtag, dann Gewerkschaftssekretärin. Seit 2019 ist sie Abgeordnete im EU-Parlament. In der Cafeteria mit Blick aufs Wasser bestellt sie einen grünen Tee und eine Cola Zero. Die Tage sind lang. „Ich glaube, ich habe einen relativ realistischen Blick auf die Rolle des Parlaments“, sagt Demirel. „Die Wahrheit ist, ich weiß, obwohl ich Tag und Nacht hier arbeite, dass das Parlament verhältnismäßig schwach ist, was die Entscheidungsbefugnis angeht.“

Ehemalige Kölner Stadträtin kämpft für gerechte Mindestlöhne in der EU

Demirels Herzensprojekt sind EU-weite Vorgaben zum Mindestlohn. Wie soll das gelingen in einem Staatenbund mit unterschiedlichen Ökonomien? „Das Mindeste ist, dass gesetzliche Mindestlöhne in der EU oberhalb der offiziellen Armutsschwelle liegen müssen“, sagt Demirel. Dafür setze sie sich ein. „Mit dem europäischen Binnenmarkt wurde ja aber auch eine große Konkurrenz geschaffen“, erklärt Demirel. Deutschland verärgere mit seinem großen Niedriglohnsektor auch die Nachbarländer. Der geltende Mindestlohn liege außerdem unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens – der offiziellen Armutsschwelle. „Das heißt für mich, dass in einer Zeit, in der Armut und Ungleichheit sich in Europa immer mehr ausbreiten, politisch gegengesteuert werden muss.“

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Özlem Demirel (Linke) kämpft für Mindestlohn-Regeln in der gesamten Europäischen Union.

In die kürzlich im Parlament beschlossene Mindestlohnrichtlinie hat sie eine linke Handschrift hineinverhandelt. „Das Parlament hat diese Positionen nun auch beschlossen, aber es stehen zunächst die Verhandlungen mit dem Rat an, bevor die Richtlinie dann endgültig beschlossen werden kann“, sagt Demirel. Ihr ist bewusst, dass ihr Projekt wohl noch ausgebremst wird. „Anders als im Bundestag oder im Landtag hat das Parlament hier nicht das letzte Wort. Erst muss mit dem Rat noch verhandelt werden. Ich bin sehr dafür, die Rechte des Parlaments auszuweiten.“ Erklären will sie ihren Wählerinnen und Wählern das Dilemma mit Ehrlichkeit.

Wenn sie über das spricht, was in Straßburg passiert, ist das sofort verständlich. Bürgernahe Politik zu machen, das habe sie wahrscheinlich in ihrer Kölner Zeit gelernt, sagt sie. In Straßburg und Brüssel gäbe es Abgeordnete, die sich in einer Blase bewegen würden. Trotzdem habe die Arbeit im EU-Parlament ihr auch Positives gebracht. „Mit Menschen zu reden, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Kultur haben und andere Lebensverhältnisse in ihren Ländern haben, erweitert den eigenen Horizont.“

Axel Voss hält den Digital Services Act für falsch

Der Bonner CDU-Abgeordnete Axel Voss kennt diese spezielle Form der Zusammenarbeit schon länger. Seit 2009 sitzt er im EU-Parlament. Das Gespräch mit ihm in der Mitgliederlounge verzögert sich gleich doppelt; erst läuft eine Sitzung länger als erwartet, dann begegnet Voss auf dem Weg zum Tisch zahlreichen Parlamentariern. Ein netter Gruß, eine kurze Absprache über irgendeine Detailfrage in irgendeiner Sitzung.

Voss erlange bundesweite Bekanntheit, als er vor rund drei Jahren federführend bei der Entwicklung einer umfassenden Urheberrechtsdiskussion mitwirkte. Mit dem Digital Services Act kann er sich nicht anfreunden, obwohl dieser von seiner Fraktion unterstützt wird. „Das bringt die digitale Wirtschaft in Europa nicht voran. Am Ende haben die amerikanischen Browser auf lange Sicht das ganze Setting im Griff und kontrollieren noch mehr als heute schon“, sagt Voss.

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Axel Voss (CDU) sieht den Digital Services Act kritisch.

„Wir geben den Plattformen zu viel Macht, wenn wir sie bestimmen lassen, was Desinformation ist und was nicht. Das wird jetzt aber passieren – da ist viel Belieben im Spiel“, fürchtet er. Seiner Ansicht nach sollte sich Europa und allen voran Deutschland den „hysterischen“ Umgang mit Datenschutz abgewöhnen. „So nehmen wir an Entwicklungen nicht teil, die strategisch relevant sind – zum Beispiel bei der Künstlichen Intelligenz. Das schafft nur Abhängigkeit von anderen.“

Emmanuel Macron, Hoffnungsträger für fast alle

Vom Interview aus ist es noch knapp eine Stunde noch bis zur Rede von Emmanuel Macron. Frankreich übernimmt im nächsten halben Jahr die Ratspräsidentschaft. Das heißt: Frankreich bestimmt maßgeblich, was der Rat der EU – eine Art Staatenkammer, in der die Regierungen sitzen – in den kommenden sechs Monaten voranbringt und was nicht. „Wenn wir keine europäische Stimme in die Welt hineinbringen können, dann sind wir nicht existent“, sagt Voss.

Macron sei derjenige, der den europäischen Spirit von den amtierenden Staatschefs noch am ehesten versprühen könne, sagt Voss. In seiner Rede spricht Macron von einem digitalen europäischen Binnenmarkt, aber auch von den Grenzen für Tech-Konzerne, um den „aufklärerischen Geist zu bewahren“. Von einem Mindestlohn für alle. Von den Themen, die die Abgeordneten aus dem Rheinland maßgeblich vorangebracht haben. Frankreich hat Ambitionen. Darauf setzen nicht nur Voss, Geese und Demirel. Sondern das gesamte Europäische Parlament. Denn Macron sagt auch, die französische Ratspräsidentschaft werde – unterstützt von Deutschland – auch das Initiativrecht des Parlaments unterstützen.

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Umjubelt: Emmanuel Macron im Europäischen Parlament

Hinter dem Initiativrecht verbirgt sich die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge zu machen. Oder anders: Die Befugnis, Agenda zu setzen. Bislang liegt das Initiativrecht exklusiv bei der EU-Kommission, der dritten zentralen Institution. Das Parlament diskutiert die Vorschläge in der Regel, schraubt an ihnen herum, reicht sie weiter an den Rat. Stimmt der Rat nicht direkt zu – er stimmt fast nie direkt zu – kommt es zum Trilog. Dann vermittelt die Kommission zwischen Parlament und Rat. Im Trilog werden Ideen zu Gesetzen.

Das steht nun auch dem Digital Services Act bevor. Bei der Abschlussdebatte im Parlament hat Alexandra Geese noch einmal vier Minuten Zeit, das Thema zu bewerben. Sie nutzt sie mit viel Pathos. „Wir werden endlich in der Lage sein, Beweise dafür zu sammeln, wie diese Konzerne Schindluder mit der Demokratie treiben.“ Zur Wahrheit der Abschlussdebatte gehört auch die Kulisse: Von 736 Abgeordneten sind ein paar Dutzend zugegen. Die Pressetribüne ist wenige Stunden nach dem Auftritt Macrons wie leergefegt. Das Parlament ist so transparent wie unsichtbar. Es leidet an einer dramaturgischen Schwäche. Von hier aus lässt sich keine Politik erzählen.

Wer durch die Flure und Kaffeeorte und TV-Studios spaziert, könnte den Eindruck gewinnen, hier werde gar nicht gearbeitet. Dabei wird hier verhandelt, vertieft, verkompliziert, immer und überall. „Bei der Europa-Politik ist der Einfluss manchmal groß und die Wahrnehmbarkeit klein“, sagt Özlem Demirel. Und Axel Voss sagt: „Wir sind es gewöhnt, Kompromisse zu machen, die uns voranbringen.“ Seit er mit dem Beginn der Finanzmarktkrise vor rund 13 Jahren in das Parlament eingezogen ist, sei man hier im Krisenmodus. „Wir können nicht mehr so viel von der Schönheit Europas erzählen“, sagt er.

Ein bisschen was fällt den Abgeordneten dann aber doch noch ein. Alexandra Geese weiß, dass sie in Straßburg Grundsätzliches verändern kann, auch wenn es oft übersehen wird. Früher habe man Krieg geführt, um nationale Interessen durchzusetzen. „Heute sitzen wir eben vier Jahre lang 14 Stunden am Tag in irgendwelchen Arbeitsgruppen herum und haben am Ende ein Ergebnis. Wir sind eine große Kompromissmaschine. Die muss man mit Kaffee ölen, dann kommt da etwas raus, von dem niemand begeistert ist, mit dem aber jeder ganz gut leben kann. Und wir können weiter quer durch Europa reisen und uns ein bisschen komisch, aber eigentlich ganz nett finden.“

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