Im August 2024 ermordete ein mutmaßlicher Islamist beim Solinger Stadtfest drei Menschen und verletzte acht weitere zum teils lebensbedrohlich.
Anschlag in Solingen„Die schlimmsten Szenen blendete mein Gehirn direkt wieder aus“

Polizei und Rettungswagen stehen in der Nacht des Anschlags in der Nähe des Fronhofs.
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Am Samstagmorgen nach dem Anschlag sprach der Kölner Stadt-Anzeiger am Fronhof in Solingen mit zwei Menschen aus der Stadtgesellschaft, die der Angriff noch lange begleitete: Philipp Müller, einem der Organisatoren des Stadtfestes, der neun Monate das Feiern plante und dann eine Trauerfeier veranstalten musste. Und Ilka Werner, Pastorin und Superindentendin des Kirchenkreises Solingen, leistete als Notfallseelsorgerin Zeugen beistand. Zum ersten Jahrestag am 23. August haben wir erneut mit ihnen gesprochen. Zwei Protokolle.
Der Organisator des Stadfestes von Solingen, Philipp Müller, erinnert sich an den 23. August 2024:
„Der Terror darf nicht gewinnen. Das habe ich schon am Morgen danach gesagt“

Philipp Müller, Hauptorganisator der Jubiläumsfeier von Solingen, stellt am Tag nach dem Anschlag eine Kerze auf.
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„Ich stand auf dem Neumarkt bei der Zugabe von Topic, als der Anruf kam. ‚Vor der Bühne läuft ein Messerangriff‘, sagte der Bühnenmanager vom Fronhof. Dann kam direkt der nächste Anruf. ‚Es gibt Tote‘, hieß es, und ich rannte los. Vor und neben der Bühne lagen Menschen am Boden, Notärzte trafen ein, ich sah Sanitäter eine verletzte Person versorgen, aus deren Hals Blut lief. An diese lückenhaften Bilder erinnere ich mich noch, aber die schlimmsten Szenen habe ich direkt wieder vergessen. Mein Gehirn blendete sie aus und löschte sie glücklicherweise.
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Das Stadtfest sollte der Höhepunkt unseres Jubiläumsjahres werden. Vor 650 Jahren bekam Solingen die Stadtrechte. Neun Monate lang steckte ich als Mitorganisator 20 Stunden pro Woche in die Planung. Es sollte ein Festival der Vielfalt sein. Die Schulen hatten sich Programmpunkte überlegt, wir planten einen Bereich für Straßentheater, Vereine mit Migrationshintergrund wollten auftreten und auf allen drei Bühnen sollte Live-Musik spielen. Wir wollten drei Tage gemeinsam feiern.
Dieser Plan ging zunächst auf: Die Stimmung am Freitag war ausgelassen, die Leute hatten Spaß, gerade auf dem Neumarkt, wo mit Topic ein echter Weltstar aus Solingen auftrat. Dann kam um 21.37 Uhr der Anruf.

Philipp Müller, Organisator des Solinger Stadtfests
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In so einer Situation funktioniert man einfach. Wie ein Roboter. Nach dem Angriff brachen wir das Festival in zwei Etappen ab. Als Erstes stieg ich auf die Bühne am Mühlenplatz, nahm ein Mikro, stellte mich vor und wartete, bis 70 Prozent der Augenpaare auf mich schauten. Dann sagte ich in meiner Erinnerung diese Worte: ‚Wir haben durch einen Messerstecher am Fronhof sehr, sehr viele Schwerverletzte und möchten euch bitten, ruhig nach Hause zu gehen. Bitte haltet die Augen offen und bleibt zusammen – der Täter ist noch nicht gefasst.‘ Dass es auf dem Fronhof Tote gab, sagte ich nicht. Kurz darauf wiederholten wir das ganze auf dem Neumarkt. Viele Feiernde guckten mich ungläubig an. Bei anderen gingen schon auf den Handys die ersten Eilmeldungen ein. Aber sie gingen alle nach Hause, gefasst und zügig.
„Weiße Laken bedeckten die Leichen“
Der Krisenstab, dem ich als Mitorganisator auch angehörte, tagte bis spät in die Nacht im Rathaus. Ich glaube, ich habe eine Stunde lang E-Mails mit Absagen an Schausteller und Bands geschickt. Gegen drei Uhr nachts wurde ich zum Lagezentrum der Polizei gerufen. Danach betrat ich den abgesperrten Bereich des Fronhofs. Ich brauchte das einfach, ich musste sehen, wie es da aussieht. Die Polizisten nahmen immer noch Spuren auf, später erzählte man mir, dass sie 5600 DNA-Spuren sicherten. Weiße Laken bedeckten die Leichen. In dieser Nacht war für Emotionen noch kein Platz.
Ich schlief zwei Stunden, bevor um halb sechs erneut mein Handy klingelte. Um sechs Uhr stand ich wieder auf der Veranstaltungsfläche, gab unzählige Interviews, die ich meist mit den Worten beendete: ‚Ich muss hier noch ein Festival abbauen.‘ Am frühen Abend, als bei der Gedenkfeier eine überdimensionale Kerze auf die Bühne des Neumarktes projiziert wurde und das Streichquartett ‚Air‘ von Bach spielte, kamen mir die Tränen. Erst da realisierte ich, was tatsächlich passiert war. Einige Tage später flog ich zu meinem besten Freund an den Lago Maggiore. Ich musste Abstand gewinnen und diese Bilder endlich aus meinem Kopf kriegen.

Ermittler sichern in der Nacht nach dem Anschlag Spuren auf dem Fronhof.
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Wenn man Großveranstaltungen organisiert, diskutiert man natürlich die Möglichkeit einer Katastrophe. Und es gilt: Man kann kein Festival ausrichten, wenn man diese Gefahr hundertprozentig vermeiden will. Deshalb hatten wir einen Sicherheitsdienst, deshalb standen viele Gruppen von Sanitätern bei den Bühnen. Am Fronhof waren während des Angriffs sechs Sanitäter anwesend, viele weitere sofort kamen dazu. Sie haben an diesem Abend acht Leben gerettet. Dafür können wir ihnen nicht oft genug danken.
Ich habe schon am Samstagmorgen nach dem Anschlag gesagt: Der Terror darf nicht gewinnen. Es wird wieder ein Stadtfest geben, es wird wieder die Sommerparty geben, die wir jedes Jahr feiern. Als ich das sagte, guckten mich einige noch an wie ein kaputtes Auto. Aber wir dürfen uns unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, unsere tolle Gesellschaftsform, nicht von solchen Leuten kaputt machen lassen.
Nach dem Anschlag war Solingen drei Wochen sehr still, trauerte, rückte zusammen. Ich sehe in dem Anschlag – dem zweiten nach dem Brandanschlag 1993 – auch einen Anstoß, mehr miteinander zu reden. Integration funktioniert nur, wenn Menschen jeglicher Herkunft miteinander reden, wenn man in den Dialog tritt und Mitbürger mit Migrationshintergrund nicht einfach nur toleriert, sondern einbindet.

Menschen legen in der Nähe des Tatorts Blumen und Kerzen zum Gedenken der Opfer nieder.
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Vor zwei Wochen war Sommerfest in Solingen, und die Solinger haben wieder drei Tage lang gefeiert. Auch auf dem Fronhof. Das Programm war toll, es wurde gut aufgenommen und wir konnten durchschnittliche Besucherzahlen verzeichnen. Zwischendurch wurde das Programm unterbrochen, um der drei Toten, den Verletzten und allen Angehörigen zu gedenken.
Wenn sich am Samstagabend um 21.37 Uhr der Anschlag zum ersten Mal jährt, werde ich auf der Gedenkveranstaltung am Fronhof sein. An der dortigen Stadtkirche steht seit mehr als einem halben Jahr eine Gedenktafel. ‚Alles ändert sich mit dem, der neben einem ist oder neben einem fehlt‘, steht dort. ‚In Gedenken an die Opfer des Attentats vom 23. August 2024.‘“
Die Solinger Pastorin und Seelsorgerin Ilka Werner über den 23. August 2024:
„Bei solchen Anschlägen ist mein Glaube eine wackelige Angelegenheit“

24. August: Pastorin und Seelsorgerin Ilka Werner (mitte) nimmt mit Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD, links) und seiner Ehefrau (rechts) an einer Andacht auf Neumarkt in Gedenken an die Opfer der Messerattacke auf dem Solinger Stadtfest teil.
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„Wenn ich an den Anschlag zurückdenke, erinnere ich mich zuerst an dieses Gefühl der Unwirklichkeit. Am Morgen danach standen vor dem Nebeneingang zur Stadtkirche ein Halbkreis an Journalisten, Kameraleuten und Tontechnikern, Medien, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kenne. Mensch, dachte ich, das passiert ja alles hier, in Solingen, in unserer Stadt. Schon wieder in Solingen. Das realisiert man erst im Kopf, dann rutscht es in Bauch und Herz.
Ich war schon zu Hause, als der Messerangriff geschah. Mein Bruder war ein Jahr zuvor gestorben und das Letzte, was wir zusammen unternommen hatten, war ein Besuch auf dem Stadtfest im Jahr zuvor. Mir war wenig nach Feiern zumute, deshalb setzte ich mich mit einem Glas Wein aufs Sofa. Da schrieb mir eine Freundin auf Whatsapp: „Es gibt eine Messerstecherei auf dem Fronhof.“ Es kamen immer mehr Nachrichten rein und ich rief die Koordinatorin der Notfallseelsorge an. Sie sagte: „Alle, die können, sollten kommen.“
„Ich schrieb meine Predigt für den Sonntagsgottesdienst um“
Irgendwann zwischen halb elf und elf traf ich in der Gläsernen Werkstatt am Fronhof ein. Viele Zeugen warteten dort auf ihre Vernehmung durch die Polizei, Augenzeugen, Menschen, die versucht hatten zu helfen und denen teilweise noch das Blut an den Händen klebte. Manche Menschen agieren in solchen Schocksituationen gefasst und rational und brauchen keine Begleitung. Andere sind verzweifelt, laut, in Tränen aufgelöst. Keiner von uns weiß vorher, wie man reagieren würde. Fast alle, die auf dem Stadtfest waren, hatten besorgte Nachrichten auf ihren Handys. „Wo bist du? Geht es dir gut?“

Ilka Werner, Superintendentin des Kirchenkreises Solingen
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Am Abend nach dem Anschlag schrieb ich meine Predigt für den Sonntagsgottesdienst um und versuchte, die Fassungslosigkeit und die Fragen der Solinger irgendwie in Worte zu fassen. Ich begann mit den ersten Fragen Gottes an die Menschen: Mensch, wo bist du? Und: Mensch, wo ist dein Bruder? Ich wollte dieses Nachgehen Gottes aus dem biblischen Versprechen heraus betonen. Gleichzeitig kann man diese Frage dann auch umdrehen: Gott, wo bist du?
Bei solchen Anschlägen ist mein Glaube eine wackelige Angelegenheit. Auf Warum-Fragen werde ich nie eine Antwort bekommen Aber mein Glaube hat auch ziemlich viel Trotzcharakter: Er gibt mir die radikale Hoffnung, dass so ein Messerstecher, so ein Terrorist nicht das letzte Wort hat, dass diese Stadt über so eine Tat nicht auseinanderbricht, sondern zusammenkommt.
Die Solinger gehen heute sehr unterschiedlich mit dem Jahrestag um. Für manche ist der Anschlag in weite Ferne gerückt. „Wie, ist das schon ein Jahr her?“, fragte mich letztens eine Frau, als wir zur Gedenkfeier einluden. Eine weitere wusste nicht, wofür der 23. August stehen solle. Für andere prägt diese Nacht weiter ihren Alltag. Für die Menschen, die Angehörige verloren haben, für Besucher, die schwer traumatisiert wurden und bis heute den Fronhof nicht betreten können. Jeder geht anders damit um, und das müssen wir gegenseitig respektieren. Ich habe auch nicht ein Jahr ununterbrochen mit dem Anschlag im Kopf gelebt. Bei mir prägten Rhythmen die Erinnerung: Ein Monat danach, zwei Monate, und nun ein Jahr später.